Und die Monate vergingen, flossen an Delilah vorüber und die Strömung formte ihre Seele neu. Sie glätteten die Kanten, verliehen ihr neuen Glanz und rundeten Vorhandendes auf natürliche Weise ab.
Das Lernen, Arbeiten und Leben erfüllten sie mit etwas Neuem. Etwas Wunderbaren.
Es gab ihrem Leben endlich einen wirklichen Sinn. Und das war etwas, wonach sie sich unbewusst schon immer gesehnt hatte. Wenn sie einem Fiebernden ein schwaches Lächeln auf die Lippen zaubern konnte, wenn sie Wunden – ob äußerer oder innerer Natur – heilen konnte, wenn sie einen neuen Zauber zu meistern gelernt hatte, wenn sie es schaffte eines der heilenden Kräutern auf die genau richtige Art zu ziehen... immer dann fühlte sie sich stärker, gereifter und mehr und mehr nach dem Menschen der sie sein wollte. Sie hatte das Gefühl mehr und mehr sie selbst zu werden.
Das Meer ihrer Gefühle wogte, bekam neue Winde zu spüren bis es schließlich – bis auf wenige, kleinere Stürme- zur Ruhe kam. Der Alltag, die Arbeit... Nova ging in alldem auf. Sie erblühte mit jeder neuen Aufgabe, die man ihr zuteilte. Auch kleine Reibereien mit gewissen Zimmernachbarn konnten die eifrige Schülerin nicht aus ihrem neugewonnenen Gleichgewicht bringen. Zielstrebig arbeitete sie, lernte sie, lebte sie.
Ihr erster Tag im Trakt der Hoffnungslosen war hart gewesen. Mit großen, schreckgeweiteten Augen war sie hinter der Magi durch die Reihen sauberer Betten geschritten. Der Tod starrte sie aus jedem Gesicht an. Es gab auch einen weiteren, noch einmal gesonderten Trakt, den man erst betreten durfte, hatte man mindestens neun bitter-schmeckende Blätter verzehrt, die verhinderten dass man sich mit den dortigen Krankheiten ansteckte. Alles in dem jungen Mädchen hatte sich dagegen gesträubt ihrer Lehrerin auch dorthin zu folgen. Alles hier war so... grausam anzusehen. Schmerzverzerrte, ausgemergelte Gesichter, ...zitternde Hände, ...hoffnungslose, gebrochene Blicke. Schreckliche Wunden, unbekannte Leiden im Inneren und leise schleichende Vergiftungen der besonders grausigen Art. Es gab keinen Albtraum, den man hier nicht fand. Delis erster Impuls war es fortzulaufen, umzudrehen, kehrt zumachen, … einfach nur weg von diesen Bildern! Magi Sixtema schien erneut Delis Gedanken zu lesen und machte sie auf etwas Anderes aufmerksam. Auf die Heilerinnen, die ruhigen Schrittes von Bett zu Bett gingen, Trost spendeten, Schmerzen linderten... auf das Licht zwischen all dieser Dunkelheit. Den Funken.
Nova erblickte schwache Freude in müden Augen, Lächeln auf blassen Lippen, … Leben an dem Ort, den der Tod regierte. Dort wo es den Kranken an Kraft fehlte, bekamen sie diese von den Magiern gespendet. Wo es an Hoffnung fehlte, brachten sie Lachen. Wo es Schmerzen gab, linderten sie diese. Licht, Licht... überall konnte man es in der Dunkelheit entdecken! Und im sanften Schimmer dieser guten Seelen, schämte sich das Mädchen für die Angst die sie hatte.
Abends in der Stille ihres Zimmers ließ sie das Gesehene, das Erlebte nicht schlafen. Sie sah die Gesichter, hörte das unterdrückte Stöhnen, spürte die ungesunde Wärme eines Fiebernden Menschen unter ihren Fingern. Ihr Herz klopfte schnell und ängstlich in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel. Sie wollte helfen! Doch graute es ihr vor den Bildern, vor den Gerüchen, Geräuschen... und es graute ihr vor dem Gedanken, dass sie den Menschen vielleicht nicht würde helfen können.
Aber ihr Willen war stärker als ihre Angst und so ging sie am nächsten Tag wieder in den Trakt. Zögerlich und ein wenig unsicher übernahm sie erste, kleinere Aufgaben. Reichte hier und da ihre helfende Hand. Und mit jedem Tag lernte sie mehr, mit jeder Überwindung wuchs ihre Kraft und ihre Überzeugung. Ihre Arbeit mit den Kranken brachte ihr mehr und mehr Freude und auch sie schien den Genesenden Freude zu bereiten. Auch sie wurde zu einer jener guten Seelen, die ihr Licht an diesen trostlosen Ort brachten. Ihr Lachen klang oft über die Betten hinweg, sie dachte sich Dinge aus um den Jungen und Alten eine Freude bereiten zu können und nie wirkte sie betrübt auf die Kranken. Auch wenn es nun häufiger vorkommen konnte, dass Deli etwas betrübte, denn es gab immer wieder Seelen, die nicht gerettet werden konnten und jeder Tod ging der jungen Schülerin schrecklich nah. Doch sie musste jedes einzelne Gesicht stillschweigend in ihrem Herzen begraben, um am nächsten Tag mit dem selben Lächeln zwischen den Betten entlang schreiten zu können. Die alte zahnlose Edna, die so viele wunderschöne Geschichten gekannt hatte und ihre langen weißen Haare zu erstaunlichen Kunstwerken hatte flechten können und Nova sogar einige Kniffe beigebracht hatte. Der kleine Jon mit den himmelblauen Augen und dem vorwitzigen Lächeln, der sie immer von hinten auf Bauchhöhe umarmt hatte und sie tausendmal und mehr darum gebeten hatte, ihm erneut ein Lied vorzusingen. Sie hatte oft gesungen und auch die anderen im Trakt lauschten gerne ihren Liedern. Dann war da noch Rodwin gewesen, ein griesgrämiger, respekteinflößender Mann mit schlohweißen Bart und narbigem Gesicht. Es hatte lange gedauert, doch mit ihrer stetig fröhlichen und offenen Art war sie in seinen liebenswürdigen Kern vorgedrungen. Eigentlich war der Ältere ein herzensguter Mensch gewesen, an Arbeit und Kampf gewöhnt doch von der ruppigen Sorte, jedoch nicht in der Lage einer Fliege etwas anzutun... außer es war eine grandessanische Fliege. Er hatte quasi sein Leben lang in der Armee gedient, doch dann fraß ihn diese schleichende Lungenkrankheit langsam von innen auf. Deli hatte es schockiert wie diese starke Persönlichkeit daran zerbrochen war. Sie war anwesend als er starb und so war es die prägendste der schrecklichen Erinnerungen. Immer wieder vermischten sich die Bilder. Rodwin, wie er das erste Mal laut und schallend lachte seit sie ihn gekannt hatte, weil sie ihn ausschimpfte... sie wusste gar nicht mehr, warum sie sich so aufgeregt hatte. Er hatte die Zeit vorher mit seiner unfreundlichen Art stetig an ihren Nerven gezerrt und an dem Tag war ihr der Kragen geplatzt. Das hatte ihm imponiert und gleichzeitig belustigt. Dann Bilder, Erinnerungsfetzen, davon wie er ihr von der Front erzählte, von den „grandessanischen Schweinen“, die ihre Männer abschlachteten. Doch am häufigsten kam das Bild, wie er ununterbrochen Blut hustete und sich unter Krämpfen und Schmerzen krümmte, sie unfähig etwas gegen das Leiden zu tun und hilflos. Auch die anderen anwesenden Heilerinnen hatten ihm schließlich nur die Schmerzen ersparen können. Plötzlich hatte sich sein Körper entspannt und dann lag er da... das Weiß des Bartes befleckt vom eigenem Blut.
So hatte es gute und schlechte Tage gegeben, traurige und fröhliche Stunden, neue Freunde und Feinde. Zu ihren neuen Freunden zählte sie neben Brit und einigen Mädchen der Akademie auch Grimmog, einen Troll mit dem sie sich ganz gerne mal unterhielt. Er erzählte ihr in seiner eigentümlichen Art von dem Urgeist, seiner Gottheit und seiner Pilzzucht, zeigte ihr stolz seine „magischen Fähigkeiten“ und Deli hörte lächelnd zu, stellte Fragen und war einfach... freundlich. Grimmog schien nur äußerst selten eine so offene Behandlung genießen zu dürfen und so hatte sie bald einen ungewöhnlichen Freund gewonnen. Er zeigte ihr Geheimgänge, verborgen hinter Säulen und Vorhängen und war auch sonst ein sehr netter Umgang.
Leon hätte Nova auch gerne zu ihren Freunden gezählt, doch leider bekam sie ihn nur noch an wenigen Tagen zu sehen und auch sonst kam sie kaum noch ins Gespräch mit ihm. Allerdings erfuhr sie interessante Dinge über ihn und den geheimnisvollen Verwandten, dem sie vielleicht begegnet wäre. Wie viel von den Geschichten jedoch nur erfunden und was Fakt war, blieb Nova noch unklar. Es gab einige Augenblicke in diesen ersten Wochen und Monaten an der Akademie, in denen es Delilah sehr nach ihrer Großmutter verlangte und sie oft kurz davor war zu Leon zu stürmen um ihn um ein Treffen zu bitten. Doch jedes mal rief sie sich zur Ordnung, befahl sich Ruhe und konzentrierte sich auf neue Aufgaben. Es gab so viel um sich abzulenken. Der Garten, die Kranken im Heilertrakt, ihr eigentliches Studium... immer wenn sich die kalten Ärmchen um Delis Hals schlangen, schüttelte Nova sie ab und begrub die Gestalt unter all diesen Tätigkeiten... und es half. Nach einiger Zeit konnte sich das Kerlchen nicht mehr unter diesem Berg hervorkämpfen. Außerdem halfen die Besuche des Grauen... oder Raphael, wie sie ihn nun nannte. Er hatte mit seinem ersten Besuch viel Erleichterung und Antworten gebracht... aber auch Fragen. Nun wusste Deli, dass Omniel dem Arm der Inquisition entrungen war, sie konnte ihrer Moma und auch Rebecka Briefe schicken und sie verstand sich auch mit dem ruhigen Herren selbst sehr gut.
| Ach liebste Moma!
Es ist so schön von dir zu hören! Es scheint mir die Wogen haben sich vorerst wieder geglättet in unserer kleinen Welt, Moma. Wir werden beide unseren Alltag finden oder haben ihn bereits gefunden. Ich erlebe jeden Tag viel Schönes hier und Neues, doch ich vermisse dich noch immer sehr...
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Geduldig wartete er, bis sie ihre Briefe beendet hatte und als er die Umschläge in das Innere seines Mantels steckte entdeckte sie ein Siegel, an seinem Gürtel befestigt und kunstvoll zur Gestalt eines Löwen geformt. Ein Lichtstrahl fiel darauf und ließ es golden aufblitzen. Einen Augenblick blendete es Nova und ihr kam das Bild eines flammenden Löwen in den Sinn, mit züngelndem Fell und warmer Stimme. Sie blinzelte gegen die Bilder an, erinnerte sich ihres Traumes und sah den Grauen einen Moment mit großen Augen an. War er es dem sie folgen sollte? War sie ihm nicht schon indirekt in die Akademie gefolgt? Neue ungestellte Fragen, versiegelt hinter ihren Lippen. Doch eines musste sie diesem, ihrem Retter, noch sagen bevor er erneut davon zog.
„.... ich bin sehr glücklich hier. Danke, dass du mich hergebracht hast, Raphael.“