"Du bist unser Sohn. Auch wenn du uns nicht kennst und wir nicht wissen, was dich zu diesem durchaus stattlichen Mann hat werden lassen." Vergossenes Blut anderer im Sand der Arena. Lust und Sünde, ohne jegliche Gefühl. Syn war versucht, Pharo genau diese Antwort zu geben. Er hatte ihm und Vella schließlich zugesichert, dass sie von ihrem Sohn erfahren würden, was sie wissen wollten. Dennoch unterdrückte er den Drang, so offen zu sein. Es lang nicht an Misstrauen gegenüber seinen Eltern. Dazu hätte Antipathie herrschen müssen, aber er sah beide vollkommen neutral an. Sie schienen gute Menschen zu sein. Sie hatten Kira zu einer unglaublichen, jungen Frau erzogen. Nein, es lag an einer Furcht in seinem Inneren, deren Grund sich Syn nicht erklären konnte. Er wollte nicht in die Gesichter beider Hymlianer blicken und dort Verachtung für all das sehen, was er darstellen mochte, sobald sie alles über ihn wussten. Er fürchtete ... Enttäuschung. Denn diese führte zu Strafen und einem Kurswechsel. Weniger Essen, Arrest in Schränken und viel zu engen Zimmern, Abwesenheit derer, auf die er nach einem harten Kampf hoffte, in ihrer Bilbiothek vorzufinden, weil er ansonsten in fremde Betten steigen müsste. Nach einem Jahr an einem Ort wie Hymlia unter Larianas Liebe, S'idans und Layan Freundschaft, Turoks Seelenverwandtschaft und Kiras geschwisterlicher Fürsorge fürchtete er es immer noch. Pharo hatte Recht. Alles, was einmal war, hatte ihn geformt und würde ihn auch nicht loslassen. Es würde für immer ein Teil von ihm sein. Er konnte nur versuchen zu lernen, anders damit umzugehen. Was Syn fürchtete, war, dass andere ihm erneut vorsetzten, was er zu lernen hätte, weil sie bestimmte Ergebnisse erwarteten, unabhängig, wie er sich damit fühlte. Und dann sprach Pharo weiter:
"Alles gehört zu dir, macht dich aus und wir werden nicht anfangen, dich zu formen."
Syn saß da. Er erwiderte nichts, rührte sich aber auch nicht, bis Pharo erst zu einem Kästchen ging und dann mit dessen Inhalt vor Syn trat. Er reichte ihm ein Kleinod, ein Medaillon an silberner Kette. Der verlorene Sohn nahm es entgegen, öffnete es und betrachtete sich die Gravuren. Inzwischen konnte er Hymlikor recht passabel lesen und schreiben. Dennoch erkannte er seinen eigenen Namen eher an der Form der Buchstaben, bevor er deren Bedeutung begriff. Er fuhr seinen Namen mit einer Fingerspitze nach, ehe er aufblickte. Das Medaillon war nicht erst vorhin geschaffen worden. Es existierte vielleicht schon Jahre lang und es enthielt seinen Namen. Die Geste, die warmen Worte ... Syn wurde selbst ganz warm. War das Familie, wie Pharo sagte? Er schluckte.
"Eine Familie. Für immer. Egal, wohin es dich zieht. Hier hast du für alle Zeiten dein Zuhause und wenn du es möchtest, kommst du zu uns. Wenn du unsere Hilfe brauchst, dann sagst du es."
"Ganz gleich, was deine Zukunft bringt, wir lieben dich, Schatz!" Vella umarmte ihn so stürmisch wie innig. Sie brach damit nicht nur Syns Starre, sondern erreichte, dass er - wenn auch zaghaft - seine Hand an ihren Rücken legte und den Kopf sanft auf ihrem Scheitel ablegte. Syn schloss die Augen und gab sich kurz dem Gedanken hin, beide um Hilfe zu bitten. Letztendlich schwieg er. Es würde sich noch zeigen, ob sie zu ihrem Wort standen, wenn er zurückkehrte und sich Layan, Lariana, sowie anderen konfrontiert sähe, die er im Morgengrauen verlassen würde. Ob sie ihn wirklich bei sich aufnähmen? Syn bezweifelte es, war zugleich aber auch neugierig es herauszufinden.
Ob sie Zarrah auch bei sich aufnehmen? Innerlich schnaufte er trotzig.
Sie müssen! Er würde nichts Anderes zulassen. Sie war ein gewichtiger Teil dessen, was er als Familie bezeichnete. Und egal, was seine Zukunft brächte, er liebte sie, diesen Schatz.
Aber war Syn wirklich derart entschlossen? War er bereits alles aufzugeben, was er sich in einem Jahr in Hymlia geschaffen hatte? Die Frage schlich sich in seine Gedanken, als er beim Haus Wolkenlos ankam und wie so üblich zunächst einen Blick durch das Fenster nahm. Es hatte sich zur Tradition gewandelt. Syn blieb immer erst vor der Tür stehen, blickte durch die Scheibe, ganz gleich, ob er dahinter Lariana werkeln sah oder nicht. Jetzt erkannte er sie, zusammen mit Crystin und Kira. Die Frauen unterhielten sich, scherzten offenbar. Sie wirkten guter Laune. Er lächelte. Er kannte Lariana zu gut, hatte gewusst, sie würde Crystin nicht der Tür verweisen. Er fühlte sich darüber aber auch erleichtert.
Ihr müsst euch umeinander kümmern, wenn ich weg bin. Ihr alle drei.
Syn würde all das hier aufgeben. Seine Schwester, die so stolz darauf war, dass er Himmelsreiter werden könnte und die offenbar eine eigene mögliche Beziehung mit Layan auf's Spiel gesetzt hatte, nur um Crystin zu finden. Crystin ... er würde sie hier zurücklassen, in dieser für sie fremden Welt. Aber es ginge ihr hier besser als in Rumdett. Ohne den Ort zu kennen, war er davon überzeugt. Ob sie ihr unschuldiges Lächeln zurückgewänne? Vielleicht ebenfalls nach einem Jahr. Dafür würde Lariana ihres verlieren.
Lari... Er blickte sie durch das Glas hindurch an. Syn betrachtete ihre Schönheit, die sich im Zentrum ihrer nachthimmelblauen Augen sammelte. Er würde auch sie aufgeben. Sie, die sein Herz befreit und ihn erstmals bewusst Liebe hatte spüren lassen. So sehr, dass er wusste, wem seine Liebe noch gehörte. Er seufzte. Dennoch stand sein Entschluss fest.
Er betrat das Haus Wolkenlos nicht. Syn wandte sich ab und stapfte Hymlias Straßen hinunter. Sein Gang war zielstrebig. Er führte ihn zur Akademie der Luftmagie hin, wo Professor Filius ihn und viele andere Hymlianer lehrte. Dort gab es eine Bibliothek für die Schüler, die nicht nur Wissen über Hymlia selbst beinhaltete. Er musste nach wie vor herausfinden, wo Rumdett lag. Ob er mit seinem Vorhaben Glück hatte und vielleicht einige Informationen, im besten Fall irgendeine Karte der celcianischen Küste abstauben könnte, änderte nichts an seinen weiteren Taten. Möglicherweise kam er nicht einmal in die Bibliothek herein. Syn hatte sich nie bemüht, die Öffnungszeiten herauszufinden. Träumerisch wie er war, ließ er sich nur an diesen Ort treiben, wenn Galina oder Lariana ihn zum Lernen dorthin mitschleiften. Unabhängig vom Resultat zog es ihn nach der Aktion aber noch einmal zur den Ställen der Himmelsreiterschule. Er vergewisserte sich, dass Turok versorgt und in der Box war, aus der er ihn morgen holen wollte. Er prüfte, ob seine Ausrüstung noch im Versteck verborgen war und packte gegebenenfalls ein, was er aus der Bibliothek hatte verschwinden lassen können. Erst danach machte er sich zurück auf den Weg zu Lariana.
Der restliche Abend verlief unglaublich harmonisch. Er war so wundervoll, dass Syn zeitweise den Ernst seiner morgigen Pläne vergaß. Er ließ sich voll auf das "Weibertrio" ein und Lariana, Kira und sogar Crystin wussten ihn gut abzulenken. Gemeinsam genoss man die Kochkünste der Hymlianerin, wobei Syn nicht müde wurde, Crystins Teller immer wieder mit Häppchen zu befüllen, die sie wenigstens probiert haben sollte. Nicht nur ihm standen Tränchen des Glücks in den Augen. Die Lichtheilerin hatte garantiert in Rumdett nicht derartige Köstlichkeiten vertilgen können. Das war unmöglich! Aber nicht nur der Gaumen kam auf seine Kosten. Die drei Frauen und Syn als Hahn im Korb schwatzten miteinander. Er erzählte den Hymlianerinnen, wie Crystin und er einander kennengelernt hatten und dass er sie beinahe verführt hätte, wäre seine Verwundung nicht aufgerissen. Für Syn war es keine große Sache, darüber zu sprechen, auch wenn Crystin möglicherweise ein wenig beschämt reagieren mochte. Dafür lief er seicht rot an, als sie über seine Euphorie witzelte, zum ersten Mal Wälder zu sehen. Lariana konnte es wohl irgendwie nachempfinden. Die Sehnsucht leuchtete ihr offen aus den Augen und als Syn begann, von Phaurencia, die Waldgott zu sprechen, hingen sowohl sie als auch Kira ihm an den Lippen. Crystin unterband es wohl nur deshalb nicht. Sie wusste wohl besser, wer wirklich Gott des Waldes war. Sie hatte den Geschichten aufmerksamer gelauscht.
Lediglich Zarrah erwähnte Syn kein einziges Mal und sollte sie durch Crystins Worte zur Sprache kommen, wurde er ganz still. Ehe die Stimmung umschlagen konnte, wechselte man also das Thema, so dass alle einen überaus fröhlichen Abend miteinander verbrachten. Bevor daraus allerdings eine ausgelassene Nacht werden konnte, intervenierte Kira. Sie erinnerte an die morgige Prüfung und dass ihr Bruder doch wenigstens etwas Schlaf bekommen sollte. Mit einem wissenden Augenzwinkern deutete sie an, dass weder er noch Lariana sofort einschlafen würden, sobald sich die Schlafzimmertür hinter ihnen schloss. Und sie sollte Recht behalten. Bevor man sich jedoch gegenseitig eine gute Nacht wünschte, rang Syn ihr ab, auch im Haus Wolkenlos zu übernachten. Er drängte Kira geradezu, bis sie endlich einwilligte. Sie würde bei Crystin mit im Zimmer schlafen, auch um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten.
Syn war's zufrieden. Er lächelte Crystin warm an: "Hymlia ist ein guter Ort." Dann umarmte er sie und anschließend seine Schwester. Kira hielt er dabei inniger und länger als man es erwarten mochte. Auch sein darauf folgender Blick lag auffallend lang auf ihr. Der eigene war trotz aller Heiterkeit für diesen Moment irgendwie ... bekümmert und ernst. "Gute Nacht, ihr beiden! Wir sehen uns morgen!"
Lügner...
Lariana würde die letzte in Hymlia sein, die ihn sehen sollte. Die Letzte, die ihm nahe sein, ihn spüren und genießen durfte. Sofern sie das wollte. Syn schlug ihr in dieser Nacht keinen Wunsch ab und nur sein Körper wäre die Grenze dessen, was beide noch am Schlafen hinderte. Er selbst wollte so viel aus diesen letzten gemeinsamen Momenten schöpfen, wie er konnte. Da war es fast überraschend, dass er es zeitig wieder aus den Federn schaffte, aber auch hier hatte er sich über Monate hinweg vorbereitet. Das Geheimnis lag im Wasser. Wenn man am Vorabend eine entsprechende Menge trank, lockte die volle Blase rechtzeitig aus dem Schlaf. Syn hatte es geübt und irgendwann herausgefunden, wie viel er zu sich nehmen musste, um in einem Zeitfenster zu erwachen, das seiner Planung entgegen kam.
Es gelang. Als Syn erwachte und erst einmal das Badezimmer aufsuchte, schlief Lariana noch selig. Er erleichterte sich aber nicht nur, sondern wusch sich und zog sich an. Um nicht aufzufallen, konnte er nicht auf nützliche Kleidung zurückgreifen, aber er hatte derlei Ersatz in seinem Rucksack bei Turok verstaut. Jetzt trug er die klassische Prüflingskleidung der Himmelsreiterkadetten: Eine hellgraue Hose, weißes Hemd und darüber die bläuliche Weste, die ihn als solchen kennzeichnete - zumindest für jene, die in Hymlia lebten. Am Gürtel befestigte er seine Kampffächer. Zuletzt griff er nach dem Medaillon seiner Famiie. Noch einmal las er alle Namen darin, dann klappte er es zusammen und hängte sich die Kette um. Syn wusste, dass es gefährlich sein konnte. Ein solches Kleinod verknüpfte Unschuldige sofort mit ihm. Sein abgelegter Name stand darin. Dennoch wollte er sich nicht davon trennen. Trotzdem verbarg er es vor Blicken, indem er es unter sein Hemd schob. Jetzt war Syn soweit. Er atmete durch und kehrte auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer zurück. Sein Blick fiel sofort auf das Bett, auf Lariana. Wie gern hätte er sich verabschiedet. Noch lieber würde er einfach bleiben. Er wusste, dass beides nicht möglich war. Er hatte sich entschieden und doch blieb ihm keine Wahl. Es gab einfach keine andere Option für ihn als diese. Er würde sich immer für Zarrah entscheiden.
Dennoch...
Syn handelte und zwar entgegen seiner Planung. So viel Zeit musste sein! Er konnte Lariana nicht vollends sang- und klanglos zurücklassen, auch wenn er erneut ein Risiko einging. Rasch suchte er ein Papier, Feder und Tinte zusammen. Er schrieb nur eine Zeile. Dann faltete er das Papier und legte es neben Lariana auf sein eigenes Kopfkissen. Er mochte ihr nicht sagen können, was er fühlte. Diese Worte, zum ersten Mal ausgesprochen, galten nicht ihr. Aber er konnte es ihr auf andere Weise mitteilen.
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Sein Weg führte ihn nicht direkt hinaus. Er blieb am Zimmer stehen, hinter dessen Tür Kira und Crystin schliefen. Er lauschte. Sein Herz wurde schwer, noch schwerer. Es das Gewicht in seine Beine rutschte und ihm am Gehen hindern könnte, löste er sich. Mit eiligen Schritten verließ Syn das Haus Wolkenlos. Er nahm den einstudierten Weg, der seltsamerweise schon immer vorsah, auch einmal an Galinas Haus vorbei zu kommen. Er warf einen Blick auf ihre Tür, schmunzelte kurz, aber in Bedauern. Sie würde sich einen anderen suchen müssen, dem sie einen Buchband über Hymlias Historie über den Schädel zog, wenn er wieder verträumt und abgelenkt zum Himmel schaute. Galinas Heim stellte aber die einzige Ausnahme dar, von der Syn sich über seine Route hinaus verbaschiedete. Er durfte schließlich keine Zeit verlieren. Bald würde es auf dem Grundstück der Himmelsreiter nur so von ihnen wimmeln. Die Prüflinge kämen aus ihren Unterkünften. Sicher hielt S'idan sofort Ausschau nach Syn. Zuschauer und Familien träfen ein, um ihre Geliebten anzufeuern oder sich das Spektakel einfach anzusehen. Dann brächte man die Pegasi auf den Platz. Bis dahin musste er längst fort sein!
Syn schlich sich nicht in die Ställe. Er spazierte ganz offen. Das wäre weniger auffällig und er könnte seine Nervosität vor der Prüfung als Ausrede nutzen, die er mit einem Blick auf Turok beruhigen wollte. Glücklicherweise begegnete er niemandem. Syn kramte seine Ausrüstung hervor, lud alles in Turoks Satteltaschen und legte ihm das Zaumzeug an. "Tut mir leid, dieses Mal geht es nicht ohne. Aber ich hab dir extra Zuckerwürfel eingepackt", entschuldigte er sich bei dem Tier, streichelte seine Schnauze und lehnte sich anschließend für einen letzten Moment des Durchatmens an. "Wenn ich's nicht schaffe, musste du allein heim finden", raunte er dem Pegasus zu. Er war sich im Klaren, dass er auch Turok in höchste Gefahr brachte, aber es war nötig. Mehr noch als zuvor, denn es ging nicht länger um Rache. Es ging um Rettung.
Syn führte Turok aus dem Stall und warf einen Blick in den Himmel. Zwischen den Wolken sah er keinen Himmelsreiter seine Runde ziehen. Der Schichtwechsel fand statt. Er hatte nicht viel Zeit. Schon sprang er in den Sattel und gab Turok mit einem sanften streichen seines Halses zu verstehen, dass er losfliegen konnte. Gemeinsam spurteten sie auf den Rand der Himmelsstadt zu und schon stürzte Turok sich in die Tiefe. Es war der leichteste und schnellste Weg. So würden sie von den wenigsten gesehen und wenn der Höhenunterschied erst einmal groß genug wäre, könnte sein Pegasus wild und frei durch den Himmel gleiten. Syn schaute nur ein einziges Mal wehmütig zurück. Er hatte ein gutes Jahr gehabt. Ein einziges in seinem ganzen Leben, aber es war das Beste gewesen bisher. Er würde all das vermissen. Aber Zarrah vermisste er noch mehr.