Leere und Schmerz und Masken. Das waren die drei Säulen, auf denen Synnovers Leben aufgebaut worden war. Ein Dach aus Angst lag darüber. Angst davor, dass man ihm anmerkte, dass er sich andere Konstanten für ein festeres, neues Fundament wünschte. Angst davor, dass seine Masken bröckelten und die Wahrheit freilegten. Nämlich, dass er all die Zeit stets versucht hatte, die Leere mit irgendetwas zu füllen. Ganz gleich was, Hauptsache, sie nahm ihn nicht ein. Er war weit genug gegangen, Körper und Seele zu verkaufen. Er hatte keine Wahl. Friss oder stirb, hieß es für Sklaven in Morgeria. Wer aus der Reihe tanzte und zwar, indem er sich negativ hervortat, der wurde aus dem System entfernt. Wem es jedoch gelang, sich positiv hervorzutun und Aufmerksamkeit zu erregen, weil man interessant war, der durfte etwas Neues erhalten, mit dem er die Leere füllen konnte: Schmerz. Körperlich, seelisch. Es war allemal besser als gar nichts zu fühlen. Schrecklich wurde es nur, wenn man das Falsche empfand - oder was andere als falsch definierten. Liebe war falsch. Emotionale Ausbrüche waren falsch, ganz gleich ob sie in Schreien, einem Tränenmeer oder freudigem Lachen endeten. Das Leben anderer mit eigenen Bedürfnissen zu stören war falsch. Darum hatte man sich selbst zu kümmern, still und allein für sich. Viele Sklaven starben für sich allein, nachdem sie für sich allein gelebt hatten. Synnover hatte Dank Zarrah'lindae einen Ausweg erhalten, weil sie ihm keine Wahl gelassen hatte. Sie hatte ihm nicht nur gezeigt, dass alles in Morgeria Falsche richtig war. Sie hatte ihn aufgefordert, es als richtig zu sehen und für sich einzufordern. Das hatte er getan. Für einige Zeit hatte Synnover gelebt ... und dann war Zarrah gestorben. Vermutlich. Zusammen mit Raz'ulak dem Furchtlosen. Sicher hatte er nicht einmal den Tod gescheut. Und Crystin, die warme Spuren aus Licht auf seiner Seele hinterlassen hatte, ähnlich wie die Frau, der er nun entgegenblickte. Und Angst kehrte zurück. Das Dach wurde schwer, getragen von Nachwuchs, geschaffen aus seinen Emotionen, Empfindungen und Liebe, die er für all diese Seelen empfand, die er in seine aufgenommen hatte. Er hätte es nicht zulassen sollen, denn jetzt drohte sein Dach unter der Last all dieser Angst einzubrechen. Angst davor, dass jedes Quäntchen mehr alles zum Einsturz bringen und ihn endgültig vernichten könnte. Er durfte dieses Dach nicht weiter beladen. Er musste mit seinen Säulen gegenhalten, ob er wollte oder nicht. Denn zwei davon waren besonders stark, gefestigt und mit Metall versehen, um alles durchzuhalten. Der Schmerz kehrte mit der Information zurück, was seinen Freunden geschehen war. Die Leere breitete sich aus, als ihm klar wurde, dass es Liebe war, die sein gesamtes Konstrukt dermaßen belastete. Liebe fütterte den Schmerz, nährte die Leere und schuf neue Ängste. Liebe für eine Person, die nie davon erfahren oder ihn gar zurücklieben könnte. So saß sein gesamtes Sein unter diesem zitternden Dach, getragen von zwei kräftigen und einer nahezu vegessenen Säule. Seine einsame, kleine Existenz. Sie würde bestehen, hier im Schatten sitzen und sich gar ein wenig in ihrer kleinen Welt bewegen dürfen, solange sie auf Dach und Säulen achtete - auf jede von ihnen. Synnover legte seinen Namen ab und wandte sich den Masken der eingestaubten Säule zu. Syn griff nach ihnen.
Eine illusionäre Ruhe legte sich über ihn. Syn blickte mit glatten Zügen auf die hereinbrechende Dämmerung. In wenigen Minuten hätte der Verlauf die Farbe von Larianas Augen angenommen und es müssten nur noch die Sterne erscheinen, um ein perfektes Abbild ihres Blicks an den Himmel zu zaubern. Es schmerzte, das zu sehen, weil es auch schmerzte, Lariana anzusehen. Seine Welt war zu einem kleinen, engen Schrankfach geworden. Er roch das Holz, den eigenen Schweiß und die Angst darin, nie wieder die Tür öffnen zu können. Sein Herz krampfte. Er muste sich von all dem lösen, um atmen zu können. Er musste den Himmel wieder anschauen können, ohne an Lariana zu denken. Vielleicht gelänge ihm das dann auch mit Zarrah, wann immer er ... überhaupt dachte.
Ein Schauer rann ihm über den Rücken. Es piekte. Es schmerzte. Denn er wusste insgeheim, dass er Lariana nicht von sich stoßen wollte. In seinem emotionalen Chaos glaubte er aber auch, dass es für ihn die einzige Möglichkeit war, zu überleben. Ansonsten würde er an all dem Schmerz vergehen.
"Oh Syn...nover..."
Er keuchte, schüttelte den Kopf. Warum benutzte sie den Namen immer noch? Spürte sie nicht, wie sehr sie ihn damit quälte? Kein Peitschenhieb könnte so tiefe Narben hinterlassen wie der leise Klang seiner eigenen Namenssilben. Endlich wurde sie still. Sie wandte sich sogar ein Stück weit ab, um nun ihrerseits in den Himmel zu schauen. Der Abschied für immer leitete sich ein. Syn wappnete sich. Auch das würde schmerzen, aber sein Leben hatte ihn darauf vorbereitet. Er hatte so viele kommen und gehen sehen, oft genug durch seine eigene Hand. Jeglicher Versuch eines Kindes, mit Goblins in den Hinterhöfen etwas Kontakt aufzubauen, war meist noch am gleichen Tag zunichte gemacht worden, weil er im Kampf gegen sie hatte überleben müssen. Später setzte es sich in der Arena fort. Manchmal verlangte man ja auch von ihm, gemeinsam mit jemandem zu kämpfen. Razag... Auch das schmerzte. Aber wie viele andere würde dieser Schmerz schneller und leichter vergehen als alles, was sein, Crystins, Zarrahs Tod und Larianas wiederholte Nennung seines Namens - ihre Nähe zu ihm - auslösen könnten. Er musste sich auf den kurzen Schmerz konzentrieren, denn jenen würde er überstehen. Es würde wehtun, aber nicht ewig. Syn schloss die Augen, während er seinen Körper unbewusst anspannte, weil seine Seele nach allen Möglichkeiten suchte, die Gefühle für Lariana auszusperren.
Als er glaubte, es beinahe geschafft zu haben und bereit zu sein, musste sie jedoch erneut sprechen. Syn biss sich auf die Unterlippe. "Ich ... ich kann nicht leugnen, dass es mir das Herz zerreißt, dass du mich nicht mehr sehen willst. Aber ... aber ich verstehe, dass du jetzt Zeit brauchst." Er schwieg. Er fürchtete, jedes Wort könnte seinen Entschluss gefährden. Denn er wollte Lariana sehen. Er sah sie gern, am liebsten beim Backen. Da entfaltete sie eine Passion, die ihn zwar nicht ansteckte - Syn gehörte wahrlich nur als Esser in die Küche -, aber die ihm eine gewisse Wärme schenkte. Jedes Mal, wenn sich Mehl auf ihrer Nase absetzte oder sie gemeinsam vom Teig naschten. Wann immer Lari ihm die ausgestochenen Plätzchen zeigte oder lachte, weil seine Verzierungen im Ofen zu einem bunten Klumpen zusammengeschmolzen waren. Er würde es vermissen, aber er würde überleben. Das musste er, denn in seinem Inneren war ein noch härterer Entschluss gereift. Er musste sich darauf konzentrieren, zu lernen. Möglichst viel in möglichst kurzer Zeit. Er müsste ein Weltklasse-Luftmagier, ein phänomenaler Fächerkämpfer und nicht zuletzt der beste Himmelsreiter werden, den Hymlia je gesehen hätte. Nein. Ich muss nur in allem besser werden. Und Himmeslreiter. Zehn Monate ... Wenn er die durchstand, würde er tun, was voll und ganz seinem Willen entsprach. Er musste durchhalten. Er musste überleben ... auch wenn es bedeutete, lieb Gewonnenes hinter sich zu lassen. Es muss sein.
Sie hatte schon wieder zu Sprechen begonnen. Es glitt an ihm vorbei wie das Rauschen eines Baches. Wasser war mit den Fingern so schwer greifbar. Wenn aber ein silbrig glänzender Fisch heraussprang, um ihn vollzuspritzen, wurde selbst er aufmerksam. Sein Silberfischchen trug seinen Namen. Lariana musste ihn wieder nennen. In Syn krampfte sich alles zusammen. Er japste auf.
"Ich will nur sagen ... ich bin da. Egal, wann dir danach ist, du ... dir Tür steht dir immer offen, in Ordnung?" Er nickte mechanisch. Er würde das Angebot nicht annehmen. Er konnte nicht. Denn dann würde er Lariana vielleicht noch zu sehr mögen ... und wenn auch sie stürbe... er wollte es sich nicht ausmalen. Wieviel an ihm konnte denn och zerbrechen?! "Versprichst du mir nur etwas?" Ihre schönen Augen tauchten in seinem Sichtfeld auf. Sie nahmen es vollkommen ein. Syn stellte erst jetzt fest, dass auch sie geweint hatte und ihr das Wasser erneut in den Augenwinkeln stand. "Versprichst du mir, dass du nicht in die Einsamkeit abgleitest und alles vergisst, was du hier gewonnen hast?" Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Um ihr zu sagen, dass er es nicht versprechen konnte, weil die Einsamkeit für ihn bestimmt war. Weil sie ihn zusammehielt, gemeinsam mit dem Schmerz und den Masken, die er tragen würde, damit niemand sich an diesem Elened stören könnte. Dass es nur das war, was er kannte und was funktionierte, ohne dass er sich selbst zerstörte. Etwas wie seine Freundschaft zu Razag und Crystin, seine Zuneigung zu ihr selbst, seine ... Liebe zu ... Das darf es nicht geben. Nicht für mich. Nicht jetzt. Vielleicht eines Tages ... Hoffnung starb zuletzt. Nach wie vor hegte etwas in ihm, so klein es auch war, die Hoffnung, dass er sich irrte. Aber er konnte und durfte sich nun nicht daran klammern. Denn er musste-
"Deine Freunde haben dich ein Stück des Weges begleitet ... sie waren die Geburtshelfer für den Synnover, der nun hier in seiner Heimat ist. Der Träume hat, der lachen kann und beginnt seine Vergangenheit abzustreifen."
"Hör endlich auf damit!" Es klang nicht halb so harsch wie er es hinausbrüllen wollte, denn ihm fehlte die Kraft. Ihm fehlte die Wut. Syn wurde von Angst, Leere und Schmerz erfüllt. Nichts davon war leidenschaftlich genug, um solche Worte mit Kraft anzureichern. Sie klangen verzweifelt. Er bettelte. Dann fasste er sich. Er ließ einmal die Schultern rollen, bemühte sich um eine ruhige Miene und noch ruhigere Stimme. Letztere zitterte leicht. "Er ... ist nicht mehr, verstehst du denn nicht? Er - sie! - ist tot." Er kniff die Augen zusammen, um den Tränenfluss aufzuhalten. Dieses Mal gelang es.
"Lass es nicht umsonst gewesen sein ... Wo auch immer deine Freunde jetzt sind ... sie waren es, die dich hergebracht haben und die sehen wollten, dass du fliegst." Er nickte langsam, die Augen noch immer geschlossen. Ja, er musste fliegen. Das war jetzt alles, was zählte. "Synnover, ich schätze, es ist nicht der Moment, aber ..." Der Rest ging unter. Gequält winselte er und krümmte sich vor. "Hör endlich auf, mich so zu quälen!", keuchte er. Der Name waren Tausend Messerstiche in sein Herz. Und noch ehe er sie wahrlich beschimpfen konnte, um vielleicht einen viel größeren Fehler zu machen, als den Abstand zu verlangen, den er aus eigener Sicht brauchte, schob eine zierliche Hand etwas in die seine. Anschließend schlangen sich zwei warme Arme um seinen Hals. Wärme schloss ihn ein, dass er erstarrte. "Nicht...", wisperte er so heiser, dass es keinen Klang bekam. Hatte er es überhaupt ausgesprochen? So warm... und weich... Seine Maske bekam Risse, seine Distanz bröckelte. Er wollte alle Mauern niederreißen. Syns Finger zuckten zögerlich.
Lariana war zu schnell. Sie löste sich, ehe er den letzten Sprung machen und sich überwinden konnte. Die Wärme schwand. Der verführerische Moment, einfach aufzugeben und seine Seele doch noch zerstören zu lassen, war vorbei. Syn sah noch einen silbrigen Haarschopf, der sich mit wellenartigen Sprüngen von ihm entfernte. Er sah Tränen durch die Luft glitzern, als hätte jemand Diamantstaub geworfen. Und er vernahm das Echo von Larianas Liebesschwur in seinem Geist. Das war er, der Abschied für immer. Lauf ihr nicht nach, gemahnte er sich und zwang sich zugleich, ihr Verschwinden bis zum Schluss anzusehen. Er folterte sich mit diesen Bildern. Es war der bessere Schmerz, aber einer, der gerade für den Moment alles überdeckte. Er würde zu schnell vergehen, doch es war besser so. Es musste so sein.
Synnover wusste nicht, wie lange er nun allein am Koppelzaun stand. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, so dass Hymlias Lichter bald wie kleine, matte Sonnen die Wege würden erhellen müssen. Pastellfarben verblassten, Grau breitete sich aus. In ihm herrschte Schwärze. Da erinnerte er sich an das Übergeben in seiner Hand. Er hatte jene so fest zur Faust geballt, dass es ihm bisweilen gar nicht mehr aufgefallen war. Nun aber bemerkte er es und warf einen Blick darauf. Lariana hatte ihm eine Nachricht überbringen wollen, offenbar eine gute, denn ihre Laune war herzlich gewesen, bevor auch sie durch die Schreckensbotschaft aus der Bahn geworfen worden war. Was war das nun für eine Botschaft? Syn entfaltete das Papier. Er erkannte Gallanvas schnörkelige Schrift, die ihm schon immer eher wie kleine Gemälde vorgekommen war. Er brauchte eine Weile, um die wenigen Zeilen in der wachsenden Dunkelheit zu lesen. Dann las er sie ein zweites, ein drittes und viertes Mal. Tränen tropften auf das Papier. Schließlich sog er die Luft scharf ein und zerknüllte die Nachricht. "Nur noch Syn", sprach er sich selbst zu, steckte das Papier mit den Namen seiner Eltern und Schwester aber ein.
Die nächsten Tage verliefen anders als es die Hymlianer seit der Rückkehr eines der ihren gewohnt waren, zumindest was Syns unmittelbares Umfeld betraf. Im Haus des Willkommensbotschafters Gallanva traf man ihn nicht mehr an. Er hat sein weniges Hab und Gut genommen und war ausgezogen. Nun stellte es sich als Vorteil heraus, dass er einen Anteil seines Lohns zurückgelegt hatte. Davon zahlte er jetzt das kleinste erschwingliche Zimmer in der Schänke "Zur Leuchtenden Wolke". Er aß dort - allein - an einem der abgelegensten Tische. Am gleichen Tisch versuchte er auch, den Vormittag lang die luftmagisch theoretischen Lektionen in seinen Kopf zu bekommen. Zu Professor Filius' Unterricht war er nicht mehr erschienen. Mit dem Lehrenden hegte er keinerlei Groll, fürchtete nicht einmal, dass es ihm Probleme machen könnte, die Bindung zu ihm zu halten. Allerdings war Syn nicht bei der Sache. Er würde den Lektionen weder folgen, noch seine Übungen anständig durchführen können. Das hatte er noch in der Nacht nach seinem Bruch mit Lariana bemerkt, als er versucht hatte, sich mit Luftmagie abzulenken. Der Wind strauchelte, gehorchte ihm nicht oder weigerte sich vollends, überhaupt zu wirken. Frustriert hatte er seine Übungen abgebrochen. Seither fasste er nicht den Mut auf, dem Professor unter die Augen zu treten, der so viel in ihn gesetzt und ihn mehrfach gelobt hatte. Er würde die Blicke der anderen Schüler nicht ertragen, noch weniger mögliches Beileid, am allerwenigsten ihren Spott, dass der Tod eines Orks, einer Dunkelelfe und einer Heilerin ihn überhaupt dermaßen belastete.
Also versuchte er es für sich, aber auch im Selbststudium brachte er nicht die nötige Konzentration auf, um sich länger als wenige Minuten mit einer Thematik zu beschäftigen. Es half auch nichts, dass er sich dabei selbst ohrfeigte oder viel zu viel Geld in Getränke steckte, um seinen Frust herunterzuspülen. Wenigstens hier besann er sich schnell, denn er musste sparsam sein, wenn er das Zimmer behalten wollte. Dabei bräuchte er es nicht einmal wirklich. Ein Stauraum irgendwo hätte ausgereicht.
Syn schlief kaum. Es gelang ihm nicht. Schon die Abende, wenn Hymlia ruhiger wurde, schickten ihm Tagträume mit Szenarien, wie die letzten Momente seiner Freunde ausgesehen hätten. Reue stieg regelmäßig in ihm auf, nicht einmal Zarrah mitgenommen zu haben. Er hätte sie alle mit nach Hymlia retten sollen. Alle. Razag, Crystin, Erin und Amos, Flosse und sogar Sprotte. Sogar ihn! Ob auch nur einer überlebt haben mochte? Syn bezweifelte es. Das Meer war so groß und schön und weit wie der Himmel. Wenn das Schiff zerbrach, auf dem man fuhr, konnte man unmöglich eine Chance haben. Geplagt von diesen Bildern und Gedankengängen war auch an Schlaf nicht zu denken. Davon ab, dass er schon im Hause Wolkenlos schwierig gewesen war, wenn Lariana ihren Freiraum und eine Nacht für sich haben wollte, zeichnete sich auch nach zwei Monaten immer noch ab, dass Syn kaum ein Auge zubekam, wenn er der Platz neben ihm im Bett leer blieb.
Um sich von alldem abzulenken, verweilte Syn oft im Schankraum. Andere Gäste, die Musik und der Lärm überdröhnten das Chaos in seinem eigenen Kopf und wenn er sich selbst gelegentlich auf die Tanzfläche begab, um dort umher zu wirbeln, beruhigte sich teilweise sogar sein Herz. Aber er tanzte allein. Er saß allein und er blieb allein. Wann immer jemand auf ihn zukam, suchte er schweigend das Heil in der Flucht. Er war schneller, windiger. Er entkam jedes Mal. Dann saß er irgendwo am Rand der Himmelsstand, die Beine über die Kante baumelnd, blickte zum Himmel und weinte stumm. Es gab bei ihm keinen Ausbruch. Er schrie nicht, weder seinen noch Zarrahs Namen. So hatte er es nicht gelernt. Die Nachtklingen sagten nichts über seine Tränen, aber sie hatten stets erwartet, dass er still weinte.
Heute Nacht waren die Gefühle in ihm besonders schlimm. Er war müde, fühlte sich kraftlos und ausgelaugt. Vor allem aber nahm sich die Bewirtung der Taverne heute ihren freien Abend. Es gab keine Trinkenden, keine feierlaunigen Studenten, keine anderen Gäste, die das Tanzbein schwangen oder halb berauscht zur Melodie der Musiker sangen. Es war erschreckend still in Hymlia ... und laut in Syns Kopf. Er verließ also die Schänke und streifte wie ein heimatloser Streuner durch die Straßen, beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Die Einsamkeit machte ihm heute schwer zu schaffen. Er würde überhaupt kein Auge zutun und morgen sollte er sich doch mit Layan treffen, um über die Eignung zum Himmelsreiter zu entscheiden. Das durfte er nicht vermasseln. Druck lastete auf ihm, paarte sich mit der bereits vorherrschenden Müdigkeit und dem Kummer in seinem Herzen. Wie von selbst führten ihn die Füße zum Haus des Botschafters. Vor der Tür blieb er stehen. Sein Blick glitt jedoch zum Fenster. Er schnupperte instinktiv, erhoffte isch fast, die Aromen von Larianas Kochkünsten zu erhaschen. Dann versteifte er sich. "Nein ... ich darf nicht nachlassen." Er sprach es laut genug aus, um es selbst zu hören und sich zu erinnern, nicht einzuknicken. Schon wandte er sich ab, lief zügig, bis er rannte und wieder in den Straßen verschwand. Seine Augenwinkel brannten heiß, aber er vergoss keine Träne. Als er abbremste und sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand lehnte, las er den Straßennamen gegenüber: Wolkengasse. Syn zuckte zusammen. Dann stieß er sich ab und schlich einige Gebäude entlang. Bei Hausnummer sechs blieb er stehen, um zur vier herüberzuschauen. Durchaus mit Neugier erfasste er den Anblick dessen, was offenbar auch mal sein Heim gewesen sein musste. Verschollen im Alter von 5 Jahren, erinnerte er sich an die Notiz auf dem Zettel, die neben seinem eigenen Namen gemacht worden war. Synnover Federflug. Er spähte aus den nächtlichen Schatten hervor. Nichts am Haus weckte in ihm Erinnerungen, ebenso wenig wie es die Namen seiner Eltern getan hatten. Vermutlich war er zu klein gewesen, hatte sie vielleicht nur Mama und Papa genannt. Oder aber etwas hatte all seine Erinnerungen an sie gelöscht. Und Kira Federflug? Sechzehn Jahre ... war er denn in etwa so alt? Er wusste es nicht. Alles, was er wusste, war, dass er sechs Jahre bei den Nachtklingen verbracht hatte. Aber er hatte sich auch älter gefühlt als zehn, als man ihn dorthin brachte. Für Syn stand nur eines fest: Seine Eltern hatten offenbar schnell für Ersatz gesorgt. Mit diesem Gedanken riss er Gallanvas Notiz in zwei Teile, warf sie zu Boden und wandte sich ab. Es ist besser so. Sie haben sich mit einem Leben ohne Synnover abgefunden ... ich muss das auch tun. Außerdem sollte er sich auch nicht an neue Bekanntschaften binden, ebenso wenig wie an alte. Jeder könnte plötzlich im Meer sterben. Er schauderte, schlang im Gehen die Arme um sich selbst. Er fühlte sich schrecklich allein.
Und dann blieb er stehen, als er sich an Larianas Bitte erinnerte. Das Versprechen, nicht in die Einsamkeit zurückzukehren. "Aber was soll ich denn tun?", wisperte er in die Stille der Nacht.
Keine zehn Minuten später stand er vor der Pforte eines Hauses, den Kopf gesenkt. Er zögerte, wagte es nicht. Weitere Minuten vergingen, in denen er sich nicht rührte. Schließlich riss er sich zusammen, straffte seine Haltung und klopft energisch an. Hoffentlich war Galina überhaupt zu Hause. Hoffentlich würde sie die Tür öffnen und hoffentlich war sie noch immer an ihm so interessiert wie an anderen Männern ihrer langen Liste. Denn sie war aktuell seine einzige Chance ... auf Ablenkung, auf Schlaf und einer Nacht, der Einsamkeit zu entkommen, um sein Versprechen zu halten.