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von Azura » Freitag 10. Mai 2024, 23:49
Es war schon immer ein Unterschied für sie gewesen, ob sie sich im Kreise Gleichaltriger befand oder auch die ältere Generation vertreten war. Bei letzteren musste sie sich von ihrer besten Seite zeigen, anderen Anforderungen entsprechen und sich unterordnen, solange, bis sie selbst dazu gehören würde und zum Mittelpunkt werden könnte.
Doch nun kam noch etwas anderes, Gewichtiges zum Tragen. Denn dieses Mal ging es nicht um sie, nicht direkt, sondern um den Mann, den sie liebte und dessen Glück ihr wichtig war. Dafür hielt sie sich zurück, blieb sittsam und zügelte ihr Feuer soweit als möglich. Außerdem dauerte sie dieser alte Dunkelelf, den sie schon einmal in einer Vision in all seinem Leid nach der Entführung gesehen hatte, und der nun dermaßen gebrechlich wirkte. Umso mehr freute es sie, dass er seinen Erstgeborenen wieder sehen konnte und das wollte sie nicht stören.
Obendein gab es ausreichend Gedanken, die gewälzt werden wollten, während sie beobachtete. Wie es ihr ergehen würde, wenn ihr das Kind geraubt werden würde? Würde sie daran zerbrechen oder es, wie die Eltern ihres Raben, schaffen, ein weiteres Mal Leben zu schenken? Würde sie sich überhaupt von der Erinnerung lösen und einen neuen Versuch annehmen können? Oder würde sie ihn ständig mit dem Original vergleichen? Erst recht wenn... wenn er genauso aussah, sie eigentlich hätten Zwillinge sein können.
Das wurde ihr erneut vor Augen geführt, als dieser andere, der Nachgeborene erschien. Ihm fehlte das Düstere, Bedrohliche und teilweise vielleicht sogar Verrückte, das nach all dem erlittenen Leid in ihm schlummerte. Und dennoch war die Ähnlichkeit beängstigend groß... Nicht nur, weil es ihr Herz schneller klopfen ließ.
Wie schlimm es wohl die Eltern getroffen hatte, dieses Kind jeden Tag zu sehen und daran erinnert zu werden, was sie verloren hatten? Ob sie ihn denn trotzdem hatten als die Person akzeptieren können? Wobei es vermutlich ganz gut war, dass Corax dermaßen früh entführt war, sodass sein Charakter wahrscheinlich noch kaum für den Vergleich ausgeprägt gewesen war. Oder hatten sie ihn dennoch stets mit seinem älteren Bruder verglichen? War er oft herabgesetzt worden? Und... wie ging es ihm jetzt damit, zurück treten zu müssen nach all den Jahren?
Vorsichtig lugte sie unter ihren Wimpern zu ihm herüber, beobachtete die Szenerie und wartete darauf, wann es Zeit wurde, diesen Posten wieder zu verlassen. Nun wäre es somit soweit, sie würde Corax bei seinem Vater lassen und nicht länger an seiner Seite weilen. Was sie davon hielt? Es war verständlich und sie hatte es ihm gegenüber auch erwähnt, dass sie seinen Wünschen entsprechen würde. Irgendwie aber traf sie trotz allem eine kleine, feine Nadel, dass es so schnell geschah. Auf der anderen Seite wurde sie jedoch nicht vergessen und ihr wurde Gesellschaft an die Seite gegeben, die ebenfalls definitiv ihren Reiz hatte.
So blieb sie bei Emmyth und beobachtete mit ihm kurz, wie der Erstgeborene sich mit seinem Vater bekannt machte. Schließlich wandte sie sich dem Jüngeren zu und begann mit ihm eine Konversation, bei der sie sich gegenseitig ein wenig abzutasten begannen. Zwar sah sie immer wieder zu Corax hin, denn er zog sie unbeirrt weiter an wie das Licht die Motte, und wenn er lächelte, versuchte sie, all ihre Wärme und ihre Freude für sein Glück, die sie empfand, in ihren Blick und auf ihre Lippen zu zaubern. Das hier war wichtig für ihn und auch wenn es bedeuten könnte, dass er sich von ihr entfernen würde, war es schön für sie zu wissen, dass er seine Familie wieder gefunden hatte.
Aber ihr Hauptaugenmerk lag nun erst einmal auf ihrem Gesprächspartner, hinter dessen Fassade sie durchaus Frechheit und Witz erkennen konnte. Bald waren sie soweit, dass sie sich bei ihm einhaken konnte und nach einem letzten Nicken in Richtung von Vater und Sohn wandten sie sich langsam ab. Bei seinen Worten spürte sie, wie ihre Wangen zu glühen begannen und sie senkte einen Moment lang den Blick.
Dann allerdings stieß sie wie unabsichtlich etwas gegen seinen Oberarm mit ihrer Schulter. "Ihr übertreibt! Ich bin mir sehr sicher, dass Ihr an jedem Finger mindestens ein hübsches Mädchen habt, das Euch anhimmelt.", konterte sie, doch ihr feines Lächeln zeugte davon, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Von ihren noch immer roten Wangen ganz zu schweigen.
Um das Ganze nicht in zu große Verlegenheit ausarten zu lassen, griff sie den Faden mit dem Rundgang auf, wenngleich auf eine für sie harmlose Weise. Schon oft hatte sie kokettiert, hatte durchaus verbotene Gedanken anzuregen verstanden und es genossen, die gefangenen Fische am langen Arm verhungern zu lassen, um die Sehnsucht noch mehr zu wecken. Dieses Mal hingegen... beabsichtigte sie es nicht, denn ihr Herz war vergeben und ihr war bewusst, dass ihr Ruf tadellos bleiben musste, um Corax nicht schneller als nötig zu verlieren. Obendrein wäre es ihr mehr als schäbig vorgekommen, dermaßen schnell ihren Raben zu hintergehen und seinen eigenen, gerade erst wieder gefundenen Bruder dafür zu benutzen. Auch wenn sie früher viel gespielt hatte, das wollte sie jetzt gewiss nicht tun.
Dass Emmyth es aber anders verstand, als sie es gemeint hatte, war ihr nicht sofort bewusst. Anfangs noch war ihr Blick herausfordernd, denn sie wollte etwas mehr von dem hervorkitzeln, das unter der Oberfläche schlummerte. Warum? War sie einfach nur neugierig... oder suchte sie nach Ähnlichkeiten... nach Unterschieden? Azura wusste es nicht. Sie folgte lediglich ihrem Gefühl und dabei vor allem dem Wunsch, sich von all den Sorgen und Ängsten abzulenken, die unter ihrer Oberfläche lauerten.
Doch dann änderte sich der Ausdruck in seinen Augen und bei ihr hoben sich die Brauen noch etwas mehr an, ihr Kopf legte sich ein wenig schief und ihr eigener Blick wurde nachdenklich. Was ging hinter dieser Stirn vor...? "In... gewissen Formen?", wiederholte sie und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer bei seinem Grinsen.
Um danach umso heftiger zu pochen, als er aufkeuchte und sich verlegen abwandte, um vor sich hin zu murmeln. Ihre Augen wurden groß, als ihr aufging, in welche Richtung er gedacht hatte, und nun war sie es, die wie ein Echo aufkeuchte. Dann konnte sie sich nicht mehr halten und verpasste ihm mit der freien Hand und spitzen Fingern einen Klaps auf den Oberarm. "Oh, Ihr... Ihr..." Sie brach ab, denn ihr fehlten im ersten Moment die Worte.
Mit hochroten Wangen sah sie auf die andere Seite, weg von ihm, und nuschelte in sich hinein:"Warum sind alle schwarzen Vögel solche Schufte?" Ein paar Schritte lang war sie unfähig, die Konversation fortzuführen.
Erst, als sie an einem hohen Fenster vorbei gingen, kam ihr ein hoffentlich rettender Gedanke. Bei seinen Worten konnte sie ihn endlich wieder ansehen und lächelte leicht. "Ja, draußen ist es immer anders. Allein schon die Luft, mal frisch, mal trocken, mal schwer, mal kühl. Und man kann es vorher nie wissen, solange man nicht raus geht.", führte sie weiter aus und folgte ihm in Richtung Tür.
Dabei lauschte sie ihm und verharrte nun ihrerseits. "Hm...", machte sie und wog ab, wie weit sie gehen durfte und konnte. Natürlich wäre schon der Garten interessant und Winkel zu erforschen, darin hatte sie reichlich Übung. Eine Plantage hingegen zu besuchen, den Mauern und allem, was innerhalb dieser geschehen war, zu entfliehen und sei es nur für kurze Zeit...
Ihr Kopf drehte sich und sie sah über die Schulter zurück, als erwarte sie Corax, der jeden Moment in Erscheinung treten würde. Kurz zögerte sie noch, dann fasste sie einen Entschluss. Die junge Frau sah zu Emmyth zurück und lächelte. "Die Plantage klingt gut.", sprach sie aus, ehe sie sich selbst vor ihrer eigenen Courage fürchten würde.
Eine Flucht war notwendig, das spürte sie, und sie hoffte, es würde ihr gut tun. Die Konsequenzen... mochten sie kommen, wann sie wollten, diesen Moment musste sie einfach auskosten. Somit folgte sie ihrem Begleiter weiterhin, wohin er sie auch führen würde. Dabei zeigte sich, welch ein Galan dieser Mann war. Er geleitete sie, stützte sie, wo es die Höflichkeit gebot, und ohne auch nur im Geringsten zu zögern. Gut, das hätte Corax vermutlich auch getan, aber seinem jüngeren Bruder war das vielmehr in Fleisch und Blut übergegangen, ohne dass er dabei unterwürfig wirkte. Er verhielt sich ihr gegenüber ebenbürtig, ohne jenen Extremen, die ihr Rabe sonst an den Tag zu legen wusste.
Als sie unten angekommen waren, kam es jedoch zu einer für sie unbehaglichen Situation. Plötzlich erschienen bewaffnete Dunkelelfen und stellten sich ihnen in den Weg. Azura schluckte und sah fragend zu ihrem Begleiter hoch, dem anzumerken war, dass ihm dies nicht gefiel. Ein wenig bröckelte seine galante Fassade und zeigte ihr etwas, das ihr bekannt vorkam... viel zu bekannt. Und was sie schon geahnt hatte, ohne es wirklich greifen zu können, konnte sie ein wenig besser fassen. Denn als Konsequenz auf Corax' Verschwinden war es nur allzu verständlich, dass die Eltern ihren jüngeren Sohn nicht aus den Augen ließen.
Seine Worte konnte sie verstehen, die Replik hingegen nicht. Dennoch spürte sie, wie Emmyth sich an ihrer Seite versteifte. Instinktiv hob sie ihre freie Hand und legte sie auf seine. "Ruhig...", raunte sie ihm zu, da ein Wutausbruch die Sache nicht einfacher machen würde.
Obwohl sie es nicht erwartet hatte, merkte sie, dass es zu wirken schien... oder er sich von selbst wieder in Griff bekam. Das Ergebnis war dasselbe, er beherrschte sich und es kam nicht zum Eklat. Stattdessen zupfte er an seinem Umhang und widmete sich ihr mit beherrschter Stimme.
Sie sah zu ihm hoch, lauschte ihm und drückte am Ende seine Hand sanft. "Auch ein Zweitgeborener ist kostbar.", erwiderte sie leise, für seine Ohren bestimmt, und ganz nach ihrer Überzeugung. Schließlich war er all die Jahre hindurch geliebt worden und sie konnte sich schwerlich vorstellen, dass dies auf einen Schlag anders sein sollte, nur, weil Corax erschienen war. An solch eine Grausamkeit wollte sie nicht glauben, nicht bei der Familie ihres Raben!
Danach fuhr er fort und obwohl ihre Augenbrauen sich in leichter Verwunderung etwas anhoben, lächelte sie weiterhin und fragte sich, ob sie ihr eigenes Verhalten auf ihn übertrug oder sie sich tatsächlich in diesem Punkt ähnlich waren. Denn wenn es nach Azura ginge, würde sie solche Worte wählen, um die Wachen in Sicherheit zu wiegen und längst ein Schlupfloch zu wissen, um doch noch entkommen zu können. Ob er das auch so handhaben wollen könnte? Der Spaziergang im Garten könnte interessant werden!
"Oh, auch die vielen Beete mit den bunten Blüten sind gewiss spannend anzusehen!", flötete sie, als hätten sie nicht zuvor ein ganz anderes Ziel vereinbart. Schon verschwand ein Teil der Wachen wieder und sie konnten, weniger streng beobachtet, ihren Weg fortsetzen.
Gemächlich schritt sie an seiner Seite entlang und atmete tief ein, als sie hinaus traten. "Ah, frisch, mit einem Hauch von Feuchtigkeit, aber ohne der Schwere, dass Ventha uns bald wieder segnet.", kommentierte sie den Duft, der in ihre Nase strömte und den sie durchaus noch länger erschnuppert hätte, wenn neben ihr der Sohn des Hauses sich nicht dermaßen geärgert hätte. Ihre Ablenkung schien nicht zu funktionieren.
Als sie ihm jedoch einen Blick zuwarf, funkelten seine Augen mit einem Ausdruck, der ihr die Verwunderung ersparte, als er ihr Handgelenk ergriff und sie sanft, wenngleich bestimmt mit sich zog. Ohne zu protestieren, folgte sie ihm und raffte ein wenig ihren Rock, um ihn vor dem ärgsten Schmutz zu bewahren. Ihre Herz schlug ein wenig schneller dabei und zugleich kräuselten sich ihre Lippen zu einem feinen Lächeln. Die Vermutung, sie könnten sich ähnlich sein, verstärkte sich immer mehr.
Der Weg führte sie durch den halben Garten und obwohl sie solche Spaziergänge gewohnt war, war sie etwas außer Atem, als sie endlich zum Stehen kamen. So wirklich etwas von ihrer Umgebung erfassen, konnte sie nicht. Sie spürte lediglich die Wasserquellen, die ihr verrieten, dass ihr Element hier gewürdigt wurde.
"Rennt Ihr immer so?", wisperte sie mit einem belustigten Funkeln in den Augen und strich sich eine Haarsträhne zurück. Hoffentlich sah sie nicht allzu derangiert aus!
Doch ihre Sorge um ihr Äußeres wurde rasch übertönt von seinen Worten. Hinter verstohlen erhobener Hand kicherte sie, als er sie erneut umfasste und mit ihr weiter eilte. Der Dunkelelf winkte seinen Bewachern frech, während sie nicht verhindern konnte, dass ihre Wangen sich etwas ob der Geschwindigkeit, als auch der verbotenen Flucht röteten. Oh je, was mussten diese Männer von ihr halten. Hoffentlich kämen keine Gerüchte über ihre Treue auf nach solch einer Szenerie. Nicht auszudenken, was Corax glauben und von ihr halten würde...
Aber auch diese Gedanken konnten nicht lange gedeihen, als sie in eine Laube geschoben wurde, die dank des Efeus von außen mehr als schwer einsehbar war. Leicht außer Atem ließ sie sich bereitwillig auf der Steinbank nieder. "Ihr seid unfair! Tragt Ihr einmal ein Korsett und lauft so herum, Ihr Foltermeister!", schalt sie ihn mit einem unterschwelligen Lachen in der Stimme, während sie zu diesem verboten gutaussehenden Mann hochsah, wie er da so lässig am Eingang lehnte.
Als er ihr ein Geständnis machte, schnaubte sie belustigt. "Ach, noch mehr?", neckte sie ihn.
Um im nächsten Moment zu erröten und sich auf die Unterlippe zu beißen. "Das kenn' ich woher.", nuschelte sie in sich hinein und fühlte die Feder in ihrem Haar, als wolle diese sie an deren Urheber erinnern. Aber das war nicht möglich, oder? Dieses kleine, schwarze Ding konnte nicht schwerer werden, einfach so!
Eine Bewegung ließ sie aufsehen und die Augenbrauen erneut anheben und den Kopf leicht schräg legen. "Ist es nicht etwas zu kühl?", fragte sie in einer Mischung aus Verlegenheit und Neckerei. Indes hängte er den Mantel auf und ihr kam der Gedanke, dass er dies als Trick machte. Denn von außen wäre nicht erkennbar, ob seine Beine darunter hervor schauten oder nicht.
Ihre Lippen formten sich zu einem weiteren Schmunzeln. "Das merkt man Euch überhaupt nicht an.", spöttelte sie gutmütig und erhob sich, um ihm zu folgen.
Als er ihr zeigte, wie es um den Fluchtweg bestellt war, traf sie rasch eine Entscheidung. Um kein Risiko einzugehen, löste sie die Feder aus ihrem Haar und steckte sie in ihren Ausschnitt. Dann machte sie sich daran, durch das Loch zu kriechen und sich auf diese Weise aus dem Garten der Faelyns zu stehlen. Wobei auch sie nicht viel Federlesens darum machte, denn sie kannte solche Momente. Oh, wie oft war sie heimlich auf ähnliche Weise verschwunden, um ans Meer zu gelangen und dem Rauschen der Wellen aus direkter Nähe zu lauschen? Nicht umsonst hatte sie damals, bei ihrer Flucht mit Corax aus der Stadt, einen Geheimgang gewusst, ohne lang darüber nachdenken zu müssen!
Jetzt hingegen ging es nicht sofort aus der Stadt, lediglich vom Grundstück weg, sodass sie bald wieder aufrecht stehen und ihre Kleidung notdürftig abklopfen konnte. Auf den ersten Blick schien das alles zu sein, das ihre Kleidung abbekommen hatte, sodass sie innerlich aufatmete. Es wäre wirklich eine Schande, wenn sie das Kleid ihrer Mutter ruinieren würde! Andererseits... welch andere Wahl hätte sie gehabt? So hübsch dieser Garten auch gewirkt hatte... die Plantage und die Flucht hinaus vor die Mauern reizten sie viel mehr!
Mit einem kurzen Blick und Griff überzeugte sie sich davon, dass die Feder ihres Raben unversehrt an ihrem Platz saß, dann war sie für den Aufbruch bereit. Erneut hakte sie sich bei ihm unter und kicherte hinter ihrer erhobenen Hand. "Verratet Ihr mir auch die Geheimgänge innerhalb des Anwesens? Und versucht gar nicht erst zu behaupten, von denen wüsstet Ihr nichts!", zog sie ihn auf.
Ihre Heiterkeit allerdings verblasste auf dem Weg je öfter sie auf andere Dunkelelfen stießen, die offensichtlich zu ihnen herüber sahen. Ihre Wangen röteten sich und ihr Blick ging hinunter. Doch sie wurden nicht angesprochen und kamen am Ende unbehelligt bei der Stadtmauer an. Hier waren die Schäden der Belagerung und Eroberung noch offenkundig und obwohl sie darum wusste, musste sie innehalten und schlucken. Sie löste sich von ihrem Begleiter, überließ es ihm, mit den Wachen zu reden und ihnen Pferde zu besorgen, während sie an eine der zahlreichen Lücken trat und ihre Hand auf die Wunden des Steins legte.
Leise seufzte sie und hatte einen Moment der Traurigkeit. Einer, der sich hätte auswachsen und ihre Gedanken zu ihrem Stiefvater führen können, wenn Emmyth nicht schnell genug gewesen wäre. So holte er sie zurück an seine Seite und ein Andunier half ihr in den Damensattel. Mit spitzen, eleganten Fingern zupfte sie an ihrem Rock herum, der ein wenig zu kurz für einen Ritt war und somit ausreichend Blick auf ihre Stiefel gewährte. Aber das störte sie gerade nicht.
Stattdessen ergriff sie die Zügel und sah mit einem feinen Lächeln auf. "Oh, macht Euch wegen mir bitte keine Umstände. Ich bin mir sicher, Ihr fängt mich, sollte ich fallen.", neckte sie ihn und zwinkerte ihm frech zu. Gemächlich ließen beide die Tiere losgehen und verließen auf diese Weise ihre Heimatstadt.
Kaum waren sie auf der freien Fläche vor den Mauern, fragte sie ihn nach der Richtung, in die es gehen sollte. Sobald er ihr diese gezeigt hätte, funkelte es herausfordernd in ihren Augen auf. "Der Letzte muss dem Ersten einen Wunsch erfüllen!", flötete sie und gab ihrem Fuchs im selben Moment das Zeichen zum Galopp.
Mit wehendem Haar ritt sie davon und demonstrierte ihre Sicherheit im Sattel. Im Prinzip könnte sie in diesem Tempo sogar mit einem Jagdfalken auf der Hand reiten, doch das war hier ja nicht der Fall. Deswegen hatte sie die Zügel auch in beiden Händen und konnte umso mehr riskieren. Ob er sie würde einholen oder mithalten können? Oder würde er sie überholen? Hatte sie in ihrer Vorfreude auf den Ritt zu viel gewagt?
Wie auch immer, am Ende war sie angenehm erschöpft, mit geröteten Wangen und gelöster Frisur hielt sie an und sah zu dem Dunkelelf, wie es nun weiter gehen würde. Gemächlicher legten sie den letzten Abschnitt zu dem Gehöft zurück, Seite an Seite und sie nickte bei seiner Erklärung.
Als sie die Stallungen erreicht hatten, wurde ihr beim Absteigen geholfen. Kurz darauf erschien schon eine Bäuerin und Emmyth stellte klar, was er hier vorhatte. Wobei er dabei ein recht angenehmes Benehmen an den Tag legte, deutlich und trotzdem zugewandt, um kein Regiment der Angst zu führen. Es erinnerte sie an ihren Stiefvater mit seinen Bediensteten und das versetzte ihr einen Stich ins Herz.
Sie senkte ihren Blick und war versucht, gleich wieder umzukehren und ihre Mutter aufzusuchen, um mit ihr Pläne zu schmieden, bei denen es nicht hieß, dass sie dafür nicht geeignet wäre. In diesem Moment erklang seine Stimme an ihrer Seite und holte sie aus ihren Gedanken. Zwar brauchte sie noch einen Atemzug, haderte mit sich, was sie tun sollte, dann jedoch siegte ihre trotz allem gute Erziehung.
Sie rang sich ein Lächeln ab, hakte sich bei ihm ein und nickte. "Aber nur, wenn wir dieses Mal nicht so rennen wie vorhin.", mahnte sie ihn, wenngleich noch sichtlich nicht völlig wieder in der harmlosen Tändelei wie vorhin. Noch waren ihre Gedanken bei Alycide und wie sie ihm helfen konnte.
Jedoch nicht mehr lange, dann nahm die Schönheit der Plantage und der Duft nach dem ergiebigen Regen ihre Aufmerksamkeit wieder ein. Sie sah sich um, schnüffelte und genoss eindeutig die Umgebung, bis sie sich ein wenig vergaß und kurzerhand von ihm löste, um an einen Baum mit besonders schönen Blüten zu treten. Als wäre sie völlig allein, hob sie ihre Hand an, schloss die Augen und öffnete die Lippen, um den kostbaren Regentropfen, der noch darauf glitzerte, in ihren Mund laufen zu lassen. Als könne sie auf diese Weise schon vorausschmecken, wie die Äpfel in voller Reife sein würden.
Das hatte sie schon als Kind geliebt und dafür auch ertragen, dass ihre Eltern sich darüber amüsiert hatten. Mit ihrer Magie schaffte sie es, dass der Tropfen nicht von seinem Weg abkam, und als er auf ihrer Zunge lag, kostete sie ihn richtig aus. Welch einen Anblick sie dabei bot, dessen war sie sich nicht bewusst. Es war eines ihrer liebsten Vergnügen, die sie seit ihrer Kindheit pflegte und die kaum jemand von ihr kannte. Und doch konnte sie hier nach all der Zeit nicht widerstehen, vergaß regelrecht, wem sie diese Kostbarkeit gerade anvertraute.
Umso mehr zuckte sie zusammen, als er sie ansprach und damit in die Wirklichkeit zurück riss. Mit roten Wangen schluckte sie und hatte das Gefühl, der Tropfen würde eine Spur von Scham durch ihren Körper ziehen. "Verzeiht, ich habe mich hinreißen lassen...", wisperte sie mehr als peinlich berührt.
Wenn da nicht seine Worte gewesen wären, die diese Empfindung überlagerten. Abrupt ruckte ihr Kopf hoch und ihre Augen weiteten sich. Die Röte breitete sich über ihr gesamtes Gesicht bis hin zu ihrem Dekolleté aus.
Daraufhin wurde sie ganz blass und wich einen Schritt von ihm zurück. "Was? So denkt Ihr von mir?", keuchte sie und schüttelte den Kopf, machte einen weiteren Schritt von ihm weg.
Was entsetzte sie eigentlich gerade dermaßen? Sie war längst verdorben von Corax und wer, wenn nicht sein Bruder, der ihm so sehr glich, sollte ihr das nicht regelrecht vom Gesicht ablesen können? Oder lag es daran, dass sie, ein Mensch, ihn, den Dunkelelfen, begleitet hatte? Gingen alle seiner Art davon aus, dass sie zu seiner... körperlichen Befriedigung diente, zwangsläufig, und somit auch anderen zur Verfügung stünde? Sie hatte gar keine Signale in der Hinsicht ausgestrahlt... nicht so wie früher, um den Galanen die Köpfe zu verdrehen! Oder wollte sie womöglich, ehe es vollkommen zu spät wäre...? Oh nein, solch ein Unsinn! Sie hatte aus ihrer Verwirrung bei dem Waldelfen schließlich gelernt und würde Corax nie wieder derart leichtfertig in Gedanken betrügen!
Hin und her gerissen von ihrem eigenen Chaos im Kopf wich sie immer weiter zurück, bis ein Stamm in ihrem Rücken diesen Weg beendete. Sie erstarrte bei dem Gefühl und war einen Moment lang zu keiner weiteren Regung fähig.