Sobald etwas zu leicht zu erreichen war, bestand das große Risiko, die junge Frau ebenso leicht zu langweilen. Azura braucht die Herausforderung und das Wissen, dass sie ihren Willen nur mit etwas mehr Anstrengung auch am Ende bekommen würde. Oder dass immer wieder eine neue Ecke und Kante darauf wartete, dass sie sich daran stieß und etwas dagegen unternehmen musste. In der Hinsicht passte ihr Rabe wahrlich perfekt zu ihr, nachdem sie ihre Sinnestäuschung in Bezug auf den Waldelfen zumindest vordergründig erst einmal überwunden hatte.
Aber es war für sie auch schwer, sich tatsächlich auf Corax einzustellen, seine Eigenheiten zu beachten und nicht einfach ihre eigenen Ansichten ihm überzustülpen. Dank ihrer Gefühle jedoch wollte sie es versuchen, bemühte sich... und wurde mit Erfolg belohnt. Zwar würde es das Verhältnis zwischen ihnen beiden keineswegs erleichtern, allerdings war es ihr wichtig, dass er auch auf seinen eigenen Willen und seine eigenen Bedürfnisse achtete.
Wer sie kannte, mochte es kaum glauben, und dennoch bedeutete es ihr viel, was hinter seiner Stirn vorging, und vielleicht wäre sie hin und wieder bereit dazu, sich diesen Einfällen unterzuordnen. So, wie vorhin, als er darauf bestanden hatte, allein zu sein und ihr nicht zu folgen. Auch jetzt wollte sie seine Gedanken und Gefühle wissen, obwohl diese wieder an ihrem eigenen Gewissen knabberten und es aufbegehren ließen.
Dass sie dabei unbewusst genau die richtige Antwort gab... war wohl eher ein Zufall, denn wirklicher Instinkt. Und auch für sie selbst waren ihre Worte mehrdeutig. Nein, sie wollte sich nicht vorstellen, wie der Waldelf, ihr angeblicher Erzeuger, sie berührte, sie in Besitz nahm, wie es bislang nur Corax hatte tun dürfen und eigentlich auch nur sollte. So sehr es ihre Sehnsüchte auch geweckt hatte, hatte sie ihren Liebsten niemals betrügen wollen, obwohl sie wahrlich knapp davor gewesen war. Doch genauso wenig wollte sie sich vorstellen, was die beiden Männer alles miteinander anzustellen vermochten, wenn sie unter sich waren. Oder was ihr Rabe bereits alles getan hatte, um zu jener Erfahrung zu gelangen, die er im Umgang mit ihr gezeigt hatte.
In diesem Fall war es vermutlich wirklich besser, wenn sie beide sich darüber ausschwiegen und sich anderen Themen widmeten. Wie zum Beispiel ihren Zweifeln, die sie partout nicht aufgeben wollte. Sie... konnte es einfach nicht, denn das würde wiederum Gefühle in ihr wecken, die leicht verletzt werden könnten. Hoffnung war ein zartes Pflänzchen, das gehegt und gepflegt werden musste und viel zu rasch kaputt gemacht werden könnte. Würde sie ihre Ablehnung aufgeben, würde sie zu hoffen beginnen.
Worauf? Auf vieles, da es in ihr durchaus einen Wissensdrang gab, der, einmal entfacht, kaum zu bändigen war. Und sie hätte viele Fragen, unendlich viele! Nein, besser für ihren eigenen Schutz waren die Zweifel, die sie nun äußerte.
Dabei spürte sie, wie ihr Liebster sich an sie lehnte und ihr wurde etwas wärmer, sodass auch sie mehr gegen ihn sank. Hätte er noch seinen Arm, sie konnte sich gut vorstellen, dass er ihn um ihre Schultern gelegt hätte. Wenn sie doch nur etwas tun könnte, um ihm dieses fehlende Glied zurück zu bringen!
Und mit einem Mal war es Corax, ausgerechnet er, der an ihrer Mauer aus Zweifel kratzte. Der die zielsicher die Fugen des Mörtels fand und diesen herausholte, sodass der Halt weniger wurde. Zuerst nur sah sie zu ihm auf, unsicher, ob sie sich nicht gerade verhört haben könnte.
Dann fuhr er fort und ließ sie blinzeln, während sie etwas unsicher die Schultern höher zog. "Na ja... es gäbe genug Vorteile, die er sich verschaffen könnte. Geld, Verbindungen... Mein Stiefvater ist nicht der reichste und nicht der mächtigste, aber... unbedeutend ist er auch nicht. Oder... war es...", murmelte sie, während eine Hand unter der Decke hervor kroch, um mit den Federn seiner neuen Gewandung zu spielen. Sie strich darüber, zupfte hie und da oder grub die Finger auch mal etwas tiefer zu den Federkielen, als suche sie seine Haut. "Und wenn er es wäre, dann hat er meine Mutter im Stich gelassen, als sie ihn gebraucht hätte...", fügte sie noch leiser hinzu.
Lautlos seufzte sie und zog ein wenig an einer Feder. "Warum sollte er also jetzt darunter leiden? Wir sind uns fremd...", nuschelte sie in sich hinein, ehe sie ihren Kopf abrupt anhob und ihn erstaunt einen langen Moment lang ansah.
Dann seufzte sie erneut und deutete ein Kopfschütteln an, während ihr Blick sich wieder auf ihr Fingerspiel an seinem Gefieder senkte. "So wichtig kann ich ihm nicht sein...", wehrte sie schwach ab.
Daraufhin schwiegen beide, bis Corax etwas sagte, das sie abzulenken und ebenfalls zum Grinsen zu bringen wusste. "Unvorsichtig? So bist du mir bislang nicht vorgekommen.", neckte sie ihn zurück und wanderte gedanklich weiter zu dem Beutel, den sie gefunden hatte.
Und während er anderes im Sinn gehabt hätte, etwas, das sie ihm in ihrem derzeitigen Zustand einfach nicht erfüllen konnte, bemerkte sie sein Sehnen nicht, weil ihr eigenes Streben nach Wissen sich bemerkbar machte. Plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus, drängte es sie, endlich Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Was letzten Endes darin gipfelte, dass ihr bewusst wurde, dass sie sich früher als gedacht wieder dem Waldelfen stellen musste. Am besten so schnell wie möglich!
Jedoch überschätzte sie ihre eigenen Kräfte und als sie aufsprang, um ihren Gedanken Taten folgen lassen zu können, da ließ er sie im Stich. Sie spürte noch, wie ihr schwindelig wurde und hatte das Gefühl, in einen Strudel zu geraten, als sie auch schon die allzu bekannte Schwärze umfing und damit alles andere auslöschte.
Als sich das Dunkel um sie herum lichtete, war es seltsam. Sie war nicht aufgewacht, sondern befand sich in Manthalas Reich, das spürte und wusste sie, ohne sich ernsthaft Gedanken darum machen zu müssen. Stattdessen erlebte sie eine Szene, die sie aus einer anderen Perspektive bereits kennen gelernt hatte. Allerdings war das noch lange nicht alles. Irgendetwas war... anders mit ihr. Sie war nicht sie selbst und auch ihre Gedanken, ihre Empfindungen, ihr Wissen waren anders.
Wo sie sonst Mitleid mit ihrem Raben empfand und sie ihm ehrlichen Herzens wünschte, er wäre seinen Eltern nicht gestohlen worden, um in Leid und Qual heranwachsen zu müssen, da gefiel ihr diese Vorstellung in diesem Traum umso mehr. Ja, es kam ihr sogar so vor, als wäre sie die Urheberin dieses Plans und sorgte dafür, dass ihre Untertanen... oder Kumpanen oder wie auch immer man sie nennen mochten, dies auch in die Tat umsetzten. Sie freute sich darauf, ihre Spielchen mit diesem kleinen, noch unschuldigen Wesen zu treiben, es zu formen und knechten, bis es wie ein Stückchen trockenen Holzes brechen würde.
Wann dies soweit sein würde, das gelte es abzuwarten, aber sie spürte, dass es länger dauern würde als mit seinen Vorgängern und dass es ihr dadurch umso mehr Vergnügen bereiten würde. Mit diesem Würmchen würde sie keine Enttäuschung erfahren! Er war die richtige Wahl und er hatte mit ihnen zu kommen in das Reich von Schmerz und Leid!
Keinen Wimpernschlag, nachdem es geschehen war, erschienen die Eltern und deren Verzweiflung war weitere Labsal für sie, dass sie höchst zufrieden grinste, während sie die Dunklen noch beobachtete. Sich darüber freute, dass sie litten, obwohl sie noch nicht einmal damit begonnen hatten, diesen Säugling zu formen und zu benutzen. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie lachen, kalt und schadenfroh kitzelte es in ihrer Kehle, stieg auf und wäre ein letzter Gruß an die Hilflosen.
Plötzlich verblasste dieses Bild und sie schrak aus ihrem Traum hoch. Kerzengerade, zitternd und schwitzend saß sie auf dem Bett, während ihre Augen blicklos herum irrten, bis sich allmählich die Umgebung davor zu klären begann. Es dauerte einige sich in die Länge ziehende Sekunden, ehe sie erkannte, wo sie sich befand und dass sie wieder sie selbst war, mit ihren eigenen Emotionen und nicht mit denen fremder Wesen. Trotzdem schüttelte es sie noch einmal kräftig durch, dass es einem Wunder gleich kam, dass ihr dabei nicht die Zähne klapperten.
Instinktiv zog sie die Beine an und wollte sich klein machen, um den Schrecken, der durch die Bilder allmählich in ihren bewussten Verstand einsickern wollte, nicht so viel Angriffsfläche zu bieten. Dabei bemerkte sie die kühle Luft, die ihre Haut streifte, weil sie sich dadurch aus dem schützenden, wärmenden Federkleid befreit hatte.
Es lenkte sie ab, ließ sie blinzeln und an sich herab sehen. Schwer musste sie schlucken, als sie feststellen musste, dass sie... nackt war und wie schlimm ihr Äußeres gelitten hatte. Um im nächsten Moment abwechselnd blass und dann wieder rot zu werden, als ihr klar wurde, dass nicht sie es gewesen sein konnte, die sich entkleidet hatte.
Übelkeit stieg ihr die Kehle hoch und sie wagte es kaum, ihren Kopf weiter zu drehen, um nach Corax zu sehen. Wäre da nicht sein ruhiger, gleichmäßiger Atem gewesen, der sie am Ende doch soweit sich verrenken ließ, dass sie zu seinem Gesicht blicken konnte. Wie friedlich er wirkte, wie... unverdorben und ungebrochen.
Heiße Tränen schossen ihr plötzlich in die Augen und verdrängten die Scham, die sich ihrer bemächtigen wollte. Dabei hatte sie ihn so sehr auf Abstand gehalten, damit er niemals diesen Anblick ertragen musste, den sie derzeit bot! Trotzdem... hatte er es getan und sich danach zu ihr gelegt, um sie zu wärmen. Wie schon bei ihrem Geruch hatte er sich nicht gescheut, sich ihr zu nähern, denn sein Körper lag ihr zugewandt da.
Eigentlich hätte sie sich also zurück legen und an ihn kuscheln können, um die Wärme, die er bot, zu genießen. Hätte, nachdem er nun ihren Zustand bereits gesehen hatte, ihn ein wenig streicheln und noch mehr an sich heran lassen können, sobald er dadurch aufgewacht wäre. Wäre... ja, wäre da nicht dieser Traum gewesen, der ihr jetzt die Tränen des Mitleids und des Schmerzes in die Augen trieb, dass diese überqollen und feuchte Spuren ihre Wangen entlang zogen.
"Mein armer Rabe...", formten ihre Lippen tonlos, um ihn nicht zu wecken. Langsam und vorsichtig bewegte sie sich, um sich weniger stark verrenken zu müssen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
Da blitzte ein Erinnerungsfetzen aus den Traumbildern hinter ihrer Stirn auf und ließ sie erstarren.
"Faelyn...", wisperte sie kaum hörbar und spürte, wie der Drang, etwas zu tun, für
ihn zu tun genauso drängend wieder wurde wie vor ihrer Ohnmacht.
Doch anstatt wie zuvor einfach aufzuspringen, ging sie dieses Mal langsamer vor. Einerseits, um nicht noch einmal in die Schwärze zu sinken, andererseits aber auch, um ihren Liebsten nicht zu wecken. Sobald es ihr gelungen war, sich aus dem Bett zu schleichen, tappte sie bloßfüßig zu ihren Sachen, die er so fein säuberlich zusammen gelegt hatte.
Das Ensemble vom Abend dauerte ihr zu lange, um es überzuwerfen, und das Kleid von davor würde sie alleine nicht anziehen und schließen können, auch wenn es schon gut getrocknet war. Also fischte sie aus dem Stapel lediglich das hellblaue Unterkleid heraus und streifte es sich über, unabhängig davon, ob es sich noch klamm anfühlen mochte oder nicht. Es bedeckte einen Gutteil ihres Körpers und war trocken genug, um nichts hindurchscheinen zu lassen, das niemandes Blicken ausgesetzt werden sollte.
Dann wollte sie schon das Zimmer verlassen, den Moment nützen, solange sie ihn nicht geweckt hatte, um ihr Vorhaben dieses Mal in die Tat umsetzen zu können. Jedoch zögerte sie und entschied sich um. Auf leisen Sohlen, denn ihre Füße waren weiterhin unbekleidet, schlich sie zu dem einzigen Tisch in diesem Raum, auf dem sogar Schreibgerät parat lag. In der Annahme, Corax hätte zumindest das Lesen gelernt, schrieb sie rasch ein paar Worte auf.
| Mein Liebster,
Ich wollte dich nicht wecken, du siehst so süß aus, wenn du im Schlaf sabberst. | |
Diese Bemerkung konnte sie sich einfach nicht verkneifen und musste grinsen, als sie diese niederschrieb. Danach besann sie sich auf die Eile, die sie verspürte, und kam zum Wesentlichen.
| Ich muss etwas heraus finden, über diese Faelyn. Ich bin bald zurück!
Azura | |
Zufrieden damit legte sie ihre Nachricht dann auf das Kissen neben seinem Kopf. So würde er es sehen können, sobald er die Augen aufschlug. Gerne hätte sie ihm über die Wange gestreichelt oder ihm einen Kuss auf die Haut gehaucht, aber das verkniff sie sich lieber, um ihn nicht trotz allem noch aufzuwecken.
Sollte ihr das Glück hold sein und er weiter schlafen, würde sie so leise wie möglich den Raum verlassen. Draußen auf dem Gang hätte sie die Qual der Wahl, wohin sie sich wenden sollte, denn sie hatte überhaupt keine Ahnung, wo sie nach dem Waldelfen suchen sollte. Das hatte ihr Corax schließlich nicht mehr verraten, ehe sie bewusstlos geworden war. Und fragen wollte sie auch niemanden.
Wie spät mochte es eigentlich sein? War noch Nacht oder würde bald die Sonne schon aufgehen? Sie hatte sich darum nicht gekümmert.
Mit einem Schulterzucken würde sie, wenn niemand sie aufhielt, den einzigen Weg einschlagen, der ihr nachvollziehbar schien. Sie würde wieder in jenes Turmzimmer gehen, in dem sie schon einmal auf ihn gestoßen war, und darauf hoffen, dass er sich auch jetzt dort aufhielt. Sollte dem nicht so sein... würde sie weiter überlegen müssen.