Der Instinkt war schon eine seltsame Sache. Unerklärlich und gleichzeitig von solch hoher Bedeutung. Wusste man dieser kleinen, innersten Eingebung im richtigen Moment zu lauschen, konnte sie oftmals die ausschlaggebenden Hinweise liefern. Silas wusste das und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Instinkten zu vertrauen. In seinem Fall entsprach der Instinkt jedoch weniger einem subtilen Bauchgefühl als dem sprichwörtlichen Nagel im Nacken, der ihn oftmals quälte. Wenn also ein unangenehmes, im Grunde genommen jedoch nicht außergewöhnliches Ereignis einen unerklärlichen Alarm in ihm auslöste und ihn dieses Gefühl, obwohl es sich längst gelegt haben sollte, nicht verließ, nahm Silas das Signal ernst. Dann fragte er sich, woher es rührte. Woran sich dieses Gefühl einer drohenden Gefahr, diese Ahnung eines nahenden Unglücks speiste. Was für ein verdammter Mist, dass ihn jene diffuse Befürchtung nun bereits seit einer Woche begleitete und er keine Ahnung hatte, was er mit diesem metaphorischen Nagel, der sich unaufhaltbar in seinen Nacken bohrte, anstellen sollte. Er hatte lange und ausführlich darüber gegrübelt, welche Möglichkeiten ihm zur Bewältigung der derzeitigen Notlage zur Verfügung standen. Der einzige Ausweg beschränkte sich seiner Meinung nach auf eben jenen Sprung ins kalte Wasser, den er nun wagen würde müssen. Bei Manthala, wenn es irgendeine brauchbare Alternative gegeben hätte, er hätte sie der wahnwitzigen Idee, welche ihn an diesem Abend in Richtung der Dunkelschenke trieb, sofort vorgezogen. Doch egal wie sehr Silas sich darum bemühte, ihm wollte einfach nichts einfallen, das ihm diese unangenehme Aufgabe erspart hätte.
Als er zuvor seine Wohnstätte verlassen hatte, hatte er mit einem letzten Blick auf seine Mutter festgestellt, wie fahl und klein sie in dem spärlich eingerichteten Zimmer wirkte. In seinen Ohren hatte ihre Atmung irregulär und sehr laut geklungen und beinahe hätte es ihn daran gehindert, zu gehen. Es beunruhigte ihn, sie zurückzulassen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Untätig dabei zusehen, wie das Fieber sie immer öfter in den somnolenten Zustand vollständiger Erschöpfung trieb? Nein. Seine Schwestern würden ihre Mutter nicht aus den Augen lassen, dieser Tatsache war sich Silas gewiss. Zahel und Rhona hatten ihrer Mutter während ihrer Wachphasen bereits die letzten Tage beim An- und Auskleiden geholfen, hatten sie beim Aufsetzen unterstützt, ihr mit warmen Waschlappen den Rücken gewaschen und die zerknoteten Haare gebürstet, die sich vor allem in ihrem verschwitzten Nacken zu filzen begonnen hatten. Silas hätte niemanden lieber und gleichzeitig derart ungern die Verantwortung über das Wohlergehen seiner Mutter übertragen. Nicht mehr lange. Nur noch ein bisschen, kratzte er im Geiste den letzten Rest kläglicher Hoffnung zusammen. Es kostete wahre Anstrengung, sich der Schwarzmalerei seines Wesens nicht gänzlich zu unterwerfen. Ich werde tun, was nötig ist. Dann wird es ihr bald besser gehen. Es waren dieselben Worte, welche er einen Tag zuvor gegenüber Zahel gewählt hatte. Es schien sich in den letzten Stunden zu einer Art Mantra herangeformt zu haben.
Silas hielt im Schritt inne und sah sich noch einmal um, die Stirn misstrauisch in Falten gelegt, ehe er nach kurzem Zögern den Kopf schüttelte und sich die Kapuze seines Umhangs eine Spur tiefer ins Gesicht zog. Nebelschwaden waberten um seine Knöchel als er seinen Weg durch die leergefegten Gassen fortsetzte. Er musste sich irren. Er hatte in den letzten Tagen zu viel gearbeitet, hatte versucht, die richtigen Antworten auf die falschen Fragen zu finden, die man, wenn man wusste, was gut für einen war, in den meisten Ecken dieses Reichs besser nicht stellte. Doch sie entwischten ihm ohnehin immer und immer wieder, egal wie nah er ihnen kam. Es war ermüdend und Silas hatte kaum geschlafen, da war es naheliegend, dass sich diese Umstände rächen würden. Bei seinem Blick über die Schulter war niemand da gewesen, der ihn beobachtet hatte, er hatte es sich nur eingebildet – und damit musste jetzt Schluss sein. Doch der Gedanke an fremde Augenpaare, die ihn aus den Schatten heraus taxierten, elektrisierte seine Sinne und jagten seine Füße ein wenig schneller über den Weg, der ihn Richtung Dunkelschenke geleitete. Alle Ängste, die die horrorverliebte Phantasie eines nervösen Geistes mit einsamen, verlassenen Orten in Verbindung brachte, fielen ihm prompt ein und verknäuelten sich zu einem undurchdringlichen Ganzen. Hatte er seine Fragen an die Falschen gerichtet? Lauerte man ihm auf? Meuchler? Vergewaltiger? Diebe? Eigenartig, trotz seiner Furcht und der Nervosität fiel ihm der Weg leichter als er angenommen hatte. Das lag vermutlich eher am Ziel, welches er verfolgte, als daran, dass er sich mit seiner Situation tatsächlich abgefunden hatte.
Wie ein Vogel vor einem Schlangennest verharrte Silas vor der Taverne einen kurzen Moment lang an Ort und Stelle. Erneut warf er einen prüfenden Blick in die Umgebung. Es war spät geworden, die ortstypischen Leuchtpilze hatten den Abend eingeläutet und ließen ein dämmriges Licht über die Gemäuer der Dunkelschenke tanzen. Die schwach beleuchtete, gut gefüllte Schenke war für gewöhnlich der perfekte Ort, um sich im lärmigen Murmeln fremder Gespräche und der düsteren Stimmung treiben zu lassen. An einem anderen Abend vielleicht, unter anderen Umständen und mit genügend Münzen in der Tasche, würde sich Silas hier Ablenkung und ein wenig Zerstreuung gönnen. Er würde sich sinnlos betrinken, einen warmen, einladenden Körper zwischen den zwielichtigen Gestalten finden und einfach alles vergessen. Doch heute Abend brannte eine tiefwurzelnde Verzweiflung in seiner Brust und eine schmerzhafte Courage hatte sich seiner bemächtigt, die ihm jedoch angenehmer vorkam als das schleichende Gift aufkeimender Panik, welche er beim Betreten der Schenke gewaltsam niedergerungen hatte. Das kurze Zögern hatte seine energischen Schritte gebremst und so steuerte er langsam, wenn auch zielsicher, den rustikalen Tresen an, hinter dem er den Wirt der Taverne vermutete. Vielleicht würde ihn jener bei genauerer Betrachtung als Orianas Sohn erkennen, immerhin hatte seine Mutter die Hälfte ihres bisherigen Lebens hinter eben jenem Tresen verbracht und oft genug die dunklen Ecke dieser Örtlichkeit mit ihrem mystisch-angehauchten Gesang erfüllt. Auch er selbst hatte das eine oder andere Mal gegen ein paar Münzen seine Stimme zwischen den zwielichtigen Gestalten zum Gesang erhoben, Silas ging allerdings nicht davon aus, dass der Wirt sich jedes Gesicht der letzten Jahre eingeprägt hatte, welches in der Dunkelschenke ein paar Balladen zum Besten gegeben hatte. Der junge Elf schob seine Unterarme auf die hölzerne Fläche des Tresens und widerstand dem Drang, mit den Fingern einen nervösen Takt zu trommeln, stattdessen flocht er jene ineinander und mahnte sich selbst zur Ruhe.
Der Wirt war herangetreten, ein Tuch über die Schulter gelegt, und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Tresens ab. "Was darf's sein?", erklang die spröde, angespannte Stimme. Der Nagel des Instinkts, der sich in Silas' Nacken eingenistet hatte, zuckte und schmerzte erbärmlich. Das hier war eine bescheuerte Idee. Kurz hüllte sich der junge Elf in Schweigen und rückte seine Kapuze etwas nach hinten, um mit stechend gelben Augen nach dem Blick des Wirts zu schnappen. "Ich suche nach Arbeit. Oder nach jemanden, der weiß, wie man hier an gutes Geld kommt.", brachte er dann vorsichtig, jedes Wort auf die Goldwaage legend, hervor. "Es heißt, dass es gewisse... Möglichkeiten gibt, sich hier als einfacher Bürger etwas dazu zu verdienen." Ein Gedanke, der ihn frösteln ließ, kam ihm in den Sinn und schlich sich wieder davon: Du wirst deine Münzen bald nicht mehr brauchen, wenn sie deine Leiche wegen deiner Neugierde zu den Ratten werfen.