22. Dezember
Idee von Maruka, geschrieben von Kazel
Die einzige Stadt mit und für Drachen, die dem Wichtel ansatzweise geläufig war, nannte sich Drachma. Aber seinesgleichen hatten sich dort schon seit langer Zeit nicht mehr blicken lassen. Die Stadt war Ruine, mehr noch als Kosral im Wald Neldoreth. Nichts dort lebte mehr. Es gab keine Drachen mehr in Drachma, keine Menschen als Hüter ihres Geleges und als Reiter der Lüfte. Die gigantisch hohen Hallen mit den weiten, gotischen Fenstern und Landeplätzen für die Geschuppten waren leer. Die wie Nester angedachten Sitzplätze längst nur noch Unrat. Nistplätze an Klippen, in Höhlen und sogar extra angelegten Bereichen innerhalb der Stadt waren verwaist. Dort würde nichts mehr schlüpfen, das das Erbe der einst so glorreichen Drachenstadt annehmen könnte.
Aber Kosral konnte man nicht mehr länger als Ruine bezeichnen. Die zerklüfteten Mauern waren wie durch Zauberhand neu erstanden. Die dunklen Völker hatten giftige Spinnen und gefräßige Asseln in die untersten Kellergruften vertrieben oder gar getötet, um sich selbst dort einzunisten. Man konnte von ihren Eroberungszügen halten, was man wollte, aber sie hatten Kosral erneut mit Leben gefüllt. Sie bewohnten die im Wald gelegene einstige Menschen- und Elfenstadt nun, füllten sie mit Leben an und gaben ihr so auf ihre eigene Weise neuen Glanz. Wenn das mit Kosral funktionierte, warum dann nicht auch mit Drachma? Vielleicht hatten alle Wichtel Celcias sich geirrt. Vielleicht waren die Drachen, die vor Jahren durch die sechs Kristallträger wieder erweckt worden waren, nicht in den Tempel im Schattengebirge geflogen, sondern hatten die einstige Heimat früherer Generationen aufgesucht. Vielleicht lebten zumindest die Geschuppten wieder dort.
"Drachma..." Der Wichtel murmelte es verträumt. Zugleich durchbrach er damit die Stille der Nacht, durch die sich ihr magischer Schliten nahezu lautlos bewegte. Manchmal konnte man den Wind an den Kufen vorbei rauschen hören. Manchmal vernahm man die Arbeit von Flockes Gelenken, wenn das Kaninchen neuen Schwung für einen nächsten vorpreschenden Sprung holte. Und manchmal knirschte das Leder der Zügel in Ritter Ruprechts Händen, sobald er den Kurs etwas korrigierte. Darüber hinaus hatte Stille geherrscht, so dass dieses eine Wort aus des Wichtels Mund laut wie ein Peitschenknall klang.
"Du siehst sie schon, die Drachenstadt", stellte Ruprecht fest. Da wagte der Wichtel erstmals einen Blick über den Rand des Schlittens. Unter ihm lag sie, prachtvoll und schön wie damals schon. Irgendwie strahlte sie neu erwachte Erhabenheit alter Zeiten aus. Der blanke Stein von breiten Wehrmauern, hohen Türmen und architektonisch verspielt gebauten Zinnen schmiegte sich passgenau an die Felswände. Zusammen erschufen Gebirge und Stadt eine Symbiose wahrer Perfektion. Aus Sicht des Wichtels aber boten die vielen Lichter von Feuerschalen, Fackeln und Kohlebecken den Gipfel dieser Aussicht. Leben. Jemand lebte innerhalb des Schutzwalls, vertrieb die Leere aus den Hallen und die Kälte aus dem Stein.
"Was geht denn da vor sich, Ritter Ruprecht? Alles wirkt so ... so ..."
"Lebendig? Ho, ho, ho! So ist es, kleiner Freund. Drachma erwacht neu und da solltest du als Wichtel doch mal einen Blick drauf wefen. Was meinst du?"
Unter einem Nicken schob das Männlein die Zipfelmütze etwas aus der Stirn. Oh, wie gern wollte es hinunter fliegen und mitten auf dem großen Platz der Drachenstadt landen! Es wollte in alle Ecken und Winkel schauen, ob sich nicht sogar eines der geschuppten Wesen hier versteckte. Der Wichtel mochte die zahlreichen Geschichten über Drachen und am liebsten war ihm der Eisdrache. Manch einer hätte vielleicht den erhabenen Golddrachen oder den König aller Geschuppten, den Regenbogendrachen, erwartet. Aber das Wichtelchen gehörte ganz und gar in die kalten Jahreszeiten und so liebte es die Erzählungen über Eisdrachen, welche mit ihrem Odem Kristalle in den Himmel bliesen und sie mit einem kräftigen Flügelschlag als glitzernden Schnee gen Celcia schickten. Ach, wenn der Schlitten nur ein Drache wäre!
"Können wir landen, Ritter Ruprecht? Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand auf der Liste steht, der ein Geschenk verdient hätte, aber ... oh, ich wünschte, wir hätten Zeit uns die ganze Stadt anzusehen. Das ist so aufregend!"
Der Ritter ließ erneut sein teifes, aber lustiges Lachen erklingen. "Vielleicht finden wir ja die eine oder andere gute Seele, die wir beschenken könnten. Ich bin sicher, dass ... oh. Oh ho ho ho!" Dieses Mal war es kein Lachen, das seiner Kehle entkam, sondern ein Laut der Vorsicht. Vor dem Schlitten erhob sich ein gigantischer Schatten, der in den Nachtimmel aufstieg. Kaninchen Flocke gelang es gerade noch, in der Luft abzubremsen, ehe er mit dem dunklen Fleck kollidiert wäre. Der Wichtel kreuzte seinen Blick mit einem Paar geschlitzter und sehr wachsamer Augen, die problemlos seine gesamte Größe umfassten. Er schluckte und drückte sich etwas dichter in die Ecke des Schlittens zurück.
"Was war das?", ächzte er etwas verängstigt.
"Nun ja, die Drachenstadt hat ihren Namen nicht von dem Fakt, dass es hier viele Nachtfalter gibt."
"A-aber der wird und doch nicht angreifen, oder? Ritter Ruprecht, ich habe nicht einmal ein Schwert wie du!"
Der Ritter winkte ab. Der Schatten war zwischen den Wolken verschwunden und stellte vielleicht nur einen Drachen auf nächtlicher Jagd dar. Ruprecht blieb wachsam, aber unbesorgt. Er deutete unter sich in die Tiefe. "Ich sehe mehrere gute Seelen dort unten, aber ... ich glaube, deine Anwesenheit ist gar nicht nötig, kleiner Freund. Sieh selbst."
Der Wichtel fasste sich ein Herz und spähte noch einmal über den Rand des Schlittens hinweg. Was er sah, wärmte ihm das Herz. Durch die Mauern hindurch, als wären sie gar nicht vorhanden, konnte er all die Freude und Liebe ausmachen, die unter ihm in Drachma stattfand. Er sah Zweibeiner und Vierbeiner. Letztere erfreuten sich an ihrem frisch begonnenen, noch so jungen Leben und ihre von Schuppen geschützten Herzen schlugen warm für die Celcianer, die ihnen Ersatzmütter geworden waren. Da ging auch dem Wichtel das Herz auf. Er lächelte zu Lysanthors Vasall hinauf. Dann pflichtete er bei: "Du hast Recht. Sie haben bereits Geschenke erhalten. So kostbare und fröhliche Geschenke, die für ganz Celcia so viel bedeuten werden. Sie brauchen meine Gaben wirklich nicht."
"Gut, dann schlage ich vor, dass wir-"
Ritter Ruprecht wurde schlagartig unterbrochen, als ein kräftiger Seitenwind den Schlitten ins Wanken brachte. Er krallte sich sofort ins Holz, packte zugleich auch den Wichtel am Kragen, damit dieser nicht über Bord fiel. Wenig später tauchte die Quelle der kräftigen Böe auf. Groß, mit Schuppen über den gesamten Körper verteilt, die im Mondlicht scharfkantig schimmerten. Ein Augenpaar, das die Welt gesehen hatte und vor Weisheit aber auch mit einem Beschützerinstinkt erfüllt war. Nüstern blähten sich und die Bestie zeigte ihre blanken Reißzähne, die Ritter Ruprecht in ihrer Größe wohl in nichts nachstanden. Die Schwingen des Wesens verdunkelten für einen Moment den Himmel, als sie am Schlitten vorbei zogen und dabei den Mond verhüllten. Zwischen den gezackten Rückenschuppen saß ein Reiter, eingehüllt in eine dicke Panzerung und bewaffnet. Sowohl er als auch sein Drachengefährte schienen bereit, keinen Eindringling unerlaubt nach Drachem einfliegen zu lassen. Der Wind war eine Warnung an jene, die Böses im Sinn hatten.
Ruprecht aber hob sofort beschwichtigend die Hände. Der arme Wichtel in seinem Griff musste ertragen, dass er kurzzeitig etwas durchgerüttelt wurde. Dann verneigte sich der Vasall tief und zeigte auf des Wichtels magischen Jutebeutel. Ob der Drachenreiter die Tradition kannte?
"Ihr wurdet schon reich beschenkt", rief Ruprecht. "Wir ziehen weiter, denn die Nacht neigt sich dem Ende." Seinem Ruf antwortete der Drache mit einem lauten Brüllen. Es brachte die Sterne und auch die Sicht des Wichtels zum Zittern. Nie zuvor hatte er einen so großen Drachen gesehen, erst Recht nicht aus nächster Nähe. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er war sich selbst nicht ganz sicher, ob Aufregung oder Angst es so zum Hämmern brachte. Vielleicht ein wenig von beidem.
"Wird er uns angreifen?", wimmerte er dennoch. Er wollte nicht als Drachenfutter enden. Aber Ritter Ruprecht setzte ihn endlich ab und griff dann nach den Zügeln von Flocke. "Nicht, wenn wir uns nicht feindselig zeigen. Landen werden wir in Drachma aber auch nicht." Das käme wohl feindselig herüber. So wollte Ruprecht den Schlitten gerade antreiben, da wurde er wiederholt von einem kräftigen Wind erfasst. Die letzte Warnung von Seiten des Drachens und seinem Reiter.
Jetzt hieß es, schnell zu sein. Flocke sprang wie wild los, denn seine Taschenuhr bimmelte plötzlich. Der Klang war interessant, denn statt eines nervtötenden Lärmens erklangen Dutzende kleiner Glöckchen in einer fast schon zu romantischen Melodie. Außerdem sang eine liebliche Stimme dazu. Kling, Glöckchen, klingelingeling ... Beinahe hätte der Wichtel mit eingestimmt. Aber sein erster Singversuch ging im Ruck unter, der durch ihn und den Schlitten ging. Ruprecht riskierte nichts, sondern flog nun hastig von dannen. Der Drache war drauf und dran, sie erneut zu streifen, um mit seinem Flügelschlag einen Wind zu beschwören. Dieses Mal aber traf er den Schlitten. Ein Rumpeln und Poltern ging durch das Fluggerät. Den Wichtel rüttelte es ordentlich durch. Er keuchte auf und konnte sogar Flocke kurz Quieken hören.
"Oh, ich glaube, sie haben uns erwischt", ächzte selbst Ruprecht. Das hatten sie. Ein Hinterlauf des Drachen hatte den Schlitten gestreift und ein Teil des Hecks aufgerissen. Holzsplitter stoben umher. Magie sprühte aus der "Wunde" des magischen Gefährts. Glitzernd und silbrig rieselte sie in der langen Flugbahn, die Ruprecht einschlug, auf Drachma nieder. Aber Magie blieb immer wandelbar und in einer Höhe wie dieser, in einer kühlen Nacht wie dieser, da formte sie sich passend ins Gesamtbild.
Der Schlitten stob davon, gewann Distanz zum Drachen, seinem Reiter und der Stadt, die beide beschützt hatten. Jener Reiter blickte auf die silbrig weiße Spur, die der Schlitten mit seiner Flucht in die Nacht hinterließ. Er sah gen Drachma herunter, wo die Magie sich langsam auf Dächer und Plätze legte. Als hätte jemand Puderzucker über die Drachenstadt verteilt, war sie schnell in ein weißes Gewand absoluter Unschuld gehüllt. Denn nichts auf Celcia war so rein und ehrlich wie unberührter Schnee.
Und so hinterließ der Wichtel den neuen Bewohnern Drachmas doch noch eine Kleinigkeit.