(Meine persönlichste Weihnachtsgeschichte möchte ich mit euch teilen, ihr Lieben, deshalb auch kein Post als Weihnachtswichtel.
)
Vielleicht das Fest der Liebe...
Und dabei hatte ich mir so tolle Geschenke ausgedacht.
Für Vater das alte Taschenmesser mit den abgewetzten weichen Schalen aus Hirschgeweih, das so ziemlich das Wertvollste war, was ich damals besaß. Großvater hatte es mir zugesteckt, als er schon sehr alt war und nicht mehr lange reden konnte, ohne müde zu werden. Eigentlich hatte ich es vorher nie beachtet, aber Großvater machte ein sehr wichtiges Gesicht, als er sagte: "Hier, steck´s weg. Du sollst es haben - ich habe sehr an ihm gehangen."
Das hat mich natürlich stolz gemacht, denn das Taschenmesser und Großvater waren eins. Immer, wenn zum Wochenende ein Kleiderwechsel bevorstand, lag das Taschenmesser fein säuberlich neben dem Schnupftuch und der Tabakstange. Zudem wollte ich so werden wie Großvater, denn immer hatte er Zeit, mir zuzuhören. Oder seine Geschichten. Nun, so richtig gut erzählen konnte er eigentlich nicht. Aber seine Stimme brummte so schön, und ich fand´s gemütlich.
Dieses Jahr zu Weihnachten musste ich mich davon trennen, denn ich hatte ein Problem.
Das konnte man längst nicht mehr mit Worten erklären, denn Vater hörte mir schon lange nicht mehr zu. So habe ich mir gedacht, daß das Taschenmesser mir helfen könnte, denn vielleicht wurde Vater nachdenklich, bei einem Geschenk, von dem ich mich so schweren Herzens trennte. Und vielleicht fiel ihm dann wieder ein, wie schön es war, als er noch Zeit für mich hatte.
Und für Mutter hatte ich den glattgeschliffenen Kiesel ausgewählt, über den würde sie sich sicherlich freuen und dann wieder genauso lachen wie damals, als wir Urlaub am Meer machten. Den Kiesel fanden wir bei einem unserer lustigen Spaziergänge, wo Vater den alten krummbeinigen Piet nachmachte, in dessen rietgedeckter Kate wir wohnten. Abends habe ich damals oft das Einschlafen hinauszuzögern versucht, weil es so gemütlich war in diesem fremden, großen, sauberen Bett. Und wenn ich mich reckte, konnte ich den schmalen gelben Lichtschein durch die Ritze der Tür schimmern sehen, hinter der Vater und Mutter gutgelaunt lachten.
Das ist alles schon lange her, doch ich war sicher, daß Geschenke, die einem so schwerfallen, helfen, alle Wünsche zu erfüllen.
Aber dann ist alles schiefgelaufen.
Es fing damit an, daß Vater, wie immer häufiger in letzter Zeit, schlechtgelaunt nach Hause kam. Schon als er die abgewetzte Aktentasche in die Ecke neben den wackligen Schuhschrank warf, statt sie wie früher gutgelaunt auf die Hutablage des Garderobenständers zu legen, die eigentlich der Stammplatz für die Aktentasche war, denn bei uns trug niemand einen Hut, wußte ich, daß es klug war, ihn nicht anzusprechen.
Mutter merkte das wohl nie so schnell, denn sie sprach so, als ob nichts wäre: "Dirk (das bin ich) muß morgen 50 Pfennige mit in die Schule bringen. Sie sammeln dort für die Kostüme des Weihnachtsspiels."
"Pfh, Weihnachtsspiel. Die sollten nicht ihre Zeit verplempern, sondern den Kindern lieber etwas Ordentliches beibringen. Werden schließlich von unserem Geld bezahlt. Die sollten ihnen mal lieber beibringen, wie man die Ellenbogen benutzt im Leben. Statt den Kindern Flausen in den Kopf zu setzen über Weihnachtsmann und Christkind, sollte man ihnen besser klarmachen, daß ihr zukünftiges Leben kein Zuckerschlecken ist."
Bei den letzten Worten hatte Vater energisch seine Zeitung in der Mitte geknickt und hielt sie sich wie einen Schutzschild vors Gesicht.
Ich hörte diese Reden nicht gern. Außerdem: Wozu sollte ich lernen, die Ellenbogen zu benutzen? Ich wollte doch schon längst kein Fußballspieler mehr werden.
Mutter machte es nur noch schlimmer, denn sie ließ immer noch keine Ruhe:
"Kannst du denn von nichts anderem mehr reden als von deiner Unzufriedenheit. Ich kenne dich ja gar nicht wieder. Wenn das Kind das immer hört. Es muss doch einmal wieder möglich sein, so wie früher ein paar freundliche und fröhliche Sätze miteinander zu wechseln."
Vater guckte von seiner Zeitung hoch: "Du hast gut reden. Bist den ganzen Tag zuhause und hast keine Sorgen."
Ich wusste, was jetzt kam und konnte Mutter auch verstehn. Denn so gut, wie Vater immer tat, hatte sie es nun wirklich nicht.
Obwohl ich an ihrer Stelle den Staubsauger nicht angemacht hätte.
Denn sie wusste doch ganz genau, daß Vater das abends nicht mochte.
"Mußt du das unbedingt abends machen? Hast doch den ganzen Tag Zeit dazu. Mach das sofort wieder aus..." Und so ging es immer weiter. Ich stand in meinem Zimmer, und mir war ganz übel vor Aufregung und Trauer.
Wenn ich drüben an der Straßenecke den kerzengeschmückten Weihnachtsbaum anschaute und daran dachte, daß morgen schon der Heilige Abend war, saß mir ein Kloß im Hals, und ich wusste gar nicht, was werden sollte. Ich schlich mich am Wohnzimmer vorbei, in dem die Stimmen immer lauter und erregter wurden, und huschte zur Dielentür, die ich ganz leise hinter mir schloß. Zwei Treppen tiefer gab es Ruhe.
Die Ruhe hieß ´Herr Kleinhans` und trug für den Marktwirt in unserem Viertel die Kohlen aus. Ich hatte es mir nach Großvaters Tod angewöhnt, Herrn Kleinhans zu besuchen. Erst unter irgend einem Vorwand, später dann immer häufiger, und oftmals ohne Grund, denn wir vertrugen uns gut.
Vater sah es nicht gern, wenn ich bei ihm war: "Das ist kein Umgang für dich. Da kannst du nichts Gutes lernen. Im Leben muss man rennen und treten, oder man fällt und fällt und wird so wie der. Lerne lieber etwas für die Schule, sonst wirst du nie was und wirst Kohlenträger wie der kleine Hans."
Es ärgerte mich gewaltig, daß Vater immer ´dieser kleine Hans` sagte. Denn erstens war es nicht nötig, und zweitens war Herr Kleinhans nur wirklich klein, weil er vom vielen Kohlesäcketragen einen ganz krummen Rücken hatte, so daß er immer aussah, als ob er gerade wieder einen dieser mächtigen staubigen Säcke zu einer der kleinen Kellerluken trüge.
Und dumm war Herr Kleinhans sicher nicht, denn er wusste ganz herrliche Geschichten zu erzählen. Ganz unruhig wurde ich vor Bewunderung, manchmal vor Mitleid, wenn er von seinen schweren, oft geflickten Kohlensäcken erzählte. Sie schmiegten sich mit ihren dicken Bäuchen, die schlecht gefüllten noch zusätzlich mit lustigen Zipfeln, genau in die Kuhle, die der Rücken zwischen dem schwarzen Hals mit den weißen Rillen und dem krummen Buckel bildete.
Das war gar nicht so gleichmäßig leicht, wie es aussah. Das Aufkippen, so heißt das Schultern des Sackes von der mit bröseligem Kohlenstaub bedeckten Ladefläche des grünen Lastwagens, fiel beim zehnten oder gar beim zwanzigsten Sack höllisch schwer. Aber Herr Kleinhans hatte mir seinen Zaubertrick verraten, den ich schon deshalb gut behalten wollte, weil er Wunder bei allen unangenehmen Aufgaben vollbringen sollte. Leise sagte Herr Kleinhans, wobei er meistens still vor sich hinschaute:
"Du darfst nur nicht hochschauen, mußt immer gemächlich und zuverlässig wie eine alte Küchenuhr vor dich hintrotten. Dabei denkt man am besten an etwas besonders Schönes, etwas, wovon man schon lange träumt. Nur nicht aufgucken! Dann wird der Sack urplötzlich so schwer, daß du ihn absetzen musst und glaubst, ihn nie wieder hochnehmen zu können."
So schleppte ich im Geiste so manchen Sack mit, und ich hätte dabei bestimmt an die letzten Ferien gedacht, in denen ich jeden Tag glücklich war und Vater und Mutter wohl auch. Denn was Schöneres fiel mir nicht ein.
Mir war so elend zumute, als ich zaghaft den abgewetzten fleckigen Klingelknopf drückte. Fast wäre es mir lieber gewesen, Herr Kleinhans hätte diesmal gar nicht aufgemacht. Aber schon öffnete sich die Tür, und er stand vor mir. Freundlich und ruhig wie immer und sagte: "Na, da freu´ich mich aber. Komm rein."
Jetzt war ich doch froh, daß er zuhause war.
In seiner Küche, die ihm zugleich als Zimmer für alles Mögliche diente, lagen auf dem weißlackierten Tisch, von dem die Farbe schon an den Kanten abgegangen war, eine Menge Dinge. Strohstäbe, Goldpapier, Nüsse, Watte, und inmitten von Schnipseln und Leim, direkt neben seiner kalten Zigarre mit dem zerknautschten Mundstück stand ein wunderschöner, ganz weihnachtlich und feierlich aussehender Rauschgoldengel im blauen langen Stanniolkleid und goldenem Haar, die Arme weit ausgestreckt und in einer Hand eine unglaublich kleine zierliche Kerze. Kastanien lagen auf der gußeisernen Platte des Ofens, hinter dessen aufwärtsschwingendem Ofenrohr die holprige Tapete schwarz war.
"Magst du eine?", fragte er mich und hielt vier der in der Mitte geschlitzten gerösteten Kastanien in den hohlen Händen, wobei er sie von einer Hand in die andere fallen ließ, weil sie vom Ofen noch heiß waren. Eigentlich wollte ich von meinem Kummer erzählen, aber als wir, jeder über seine Kastanien gebeugt, neben dem Rauschgoldengel am vertrauten Tisch saßen, fragte ich ihn doch lieber, für wen er den Engel gebastelt habe und wer ihn wohl Weihnachten besuchen käme. Da lachte Herr Kleinhans, und sein Lachen klang nicht ganz so rein wie sonst:
"Weißt du denn nicht, daß Engel niemandem gehören? Auf einmal war er da. Er kommt jedes Jahr um diese Zeit. Wird wohl mein ganz persönlicher Weihnachtsengel sein. Vielleicht will er uns alle ein bßchen glücklich machen - sieh mal, wie er lacht unter seinem Haar."
Doch ein kleiner Engel aus Pappmaché konnte mir nicht helfen. "Wie soll man denn glücklich sein, wenn die wichtigsten Wünsche nicht erfüllt werden? Und der Engel lacht auch gar nicht, denn Sie haben eine dieser Nüsse hier angemalt, und so ist sein Kopf entstanden."
Herr Kleinhans schüttelte abwehrend den Kopf: "Laß dir erzählen, mein Junge, auch meine Wünsche sind meistens nicht erfüllt worden. Jahr für Jahr habe ich gewartet, und bin immer ratloser und trauriger geworden. Ich habe die Menschen ängstlich und zornig angesehen, je nachdem, und habe mich gefragt, was ich falsch gemacht habe, weil keiner mir wenigstens ein Stück vom Glück und meinen Wünschen brachte. Und ganz spät erst, als ich schon sehr verzweifelt war, habe ich mir mein Glück selbst gebastelt. Du hast recht, den Engel habe ich gebastelt, aus etwas Pappe, Leim und Goldpapier. Aber er hat Leben für mich, und wenn du genau hinsiehst, siehst du sein Lachen. Denn er hat mir gezeigt, daß man sich seine Wünsche selbst erfüllen muß Schließ die Augen und träume dir dein Glück herbei. Diese Augenblicke werden vielleicht die glücklichsten in deinem Leben sein.
Das ist wohl kein guter Rat für einen kleinen Jungen, aber er ist zu wahr, als daß ich ihn dir vorenthalten dürfte."
Bei seinen letzten Worten lachte Herr Kleinhans fast ein wenig verlegen.
"So, nun gehen wir gemeinsam hinauf zu deinen Eltern, und immer, wenn du morgen Abend traurig wirst, schließe die Augen. Und du kannst sicher sein, daß ich dann meine Augen ebenfalls geschlossen halte, und wir träumen, und der Engel wird uns in seinen starken Armen ein Stück weiter tragen - dem Glück entgegen."
Sehr ungern bin ich mit Herrn Kleinhans dann hinaufgegangen. Er hat mir nachgeschaut, bis ich die Wohnungstür leise hinter mir geschlossen habe. Und am Heiligen Abend habe ich oft die Augen geschlossen.
Weil ich so viele Wünsche hatte? Weil ich mich nach Glücklichsein so sehnte?
Herr Kleinhans wird es wissen.
(von Anna Struck)