Das Haus, in dem Lucy einst gewohnt haben sollte, fand sich am einen Ende von Hymlia. Angelika führte Shankar und Luziver dorthin. Sie kannte das Haus, auch wenn sie Lucy niemals kennen gelernt hatte, aber jeder hätte sie wohl zu dem Haus bringen können. Die Hymlianer mieden es, in der Nähe zu wohnen, weshalb man andere Gebäude ringsum durch kleine Parkanlagen ersetzt hatte. So stand Lucys Haus nun ein wenig abseits von Rest des hymlianischen Wohnviertels. "Die Hymlianer erzählen sich, dass es dort manchmal seltsame Vorkommnisse gab", erklärte Angelika. "Was das genau zu bedeuten hat, weiß ich allerdings auch nicht. Ich bin nie nahe oder lange genug bei dem Haus gewesen, um etwas zu bemerken. Für mich ist es einfach nur ein verlassenes Heim, das leider schon etwas verfallen wirkt."
Ganz so schlimm wie es Angelika beschrieb, war es letztendlich aber nun auch nicht. Das Haus konnte eine kleine Renovierung vertragen, so viel stimmte schon, aber eine Bruchbude war es noch lange nicht. Der Putz blätterte an einigen Ecken und Kanten bereits ab. Es hatte ein paar Ziegel vom Dach gerissen und alles wirkte so, als müsste man mal ordentlich durch putzen, doch ansonsten war es noch gut instand. Einen Garten besaß Lucys Haus nicht, aber einen kleinen Nebenanbau, in dem wohl mal ein Pegasus untergebracht werden konnte. Der Stall stand nun leer da, da Stroh darin roch schimmelig und kleine Vögel hatten sich dort eingenistet. Aus dem Stroh heraus zwitscherte es munter.
Das Haus selbst war - wie die meisten hier in Hymlia - weiß gehalten. Die Dachziegel zeigten sich bläulich und auch die Fenster- und der Türrahmen waren einst in einem hellen Blau gestrichen worden. Eine verfallene Fußmatte vor der Tür grüßte in Hymlikor mit den Worten: Wolkiges Willkommen! Auf den Fenstersimsen standen alte Tontöpfe. Die Pflanzen darin waren seit vielen Jahren schon verwelkt, ließen träge die übrigen Blätter hängen, die zu graubraunen Runzeln geworden waren. Durch die Fensterscheiben konnte man kaum noch ins Innere des Hauses blicken. So viel Staub hatte sich angesetzt, außerdem waren bei einigen Fenstern die Vorhänge zugezogen.
Je näher Luziver dem Haus kam, desto mehr konnte Lucy eine Veränderung spüren. Das alte Gemäuer hatte eine ganz eigene Wirkung auf die Hymlianerin, der Luziver ihr dunkles Haar und die roten Augen zu verdanken hatte. Sie zuckte in Luzivers Geist, so dass diese Persönlichkeit es deutlich spüren konnte. Auch Lucy spürte etwas. Irgendeine Aura ging von ihrem alten Heim aus. Da war etwas, das sie nicht benennen konnte. Sie sah kurzfristig eine halb morsche Treppe vor ihrem geistigen Auge aufblitzen, dann eine geheimnisvolle Schachtel oder Dose, die inmitten eines fünfzackigen Sternes stand. Schon war das Bild wieder weg. Es hatte keine zwei Sekunden vor ihrem inneren Auge aufgeflackert. Dafür musste sie ein seltsames Ungehagen fühlen und durch ihre Erinnerungen schwebte nur ein einziges Wort: Keller.
"Hm, wie kommen wir denn nun in dein Haus herein, Herrin Luziver? Weiß deine zweite Persönlichkeit etwas?" Angelika wandte sich um. Sie hatte bereits versucht, die Tür zu öffnen, aber dieser war nicht nur von außen mit Brettern vernagelt, sondern auch noch abgeschlossen. Shankar würde die Holzbohlen mit Sicherheit irgendwie von der Wand bekommen, doch dann blieb immer noch die verschlossene Tür. Schlimmstenfalls müsste man wohl ein Fenster einschlagen, wenn es sonst keinen Weg in das Haus hinein gab. Aber just in diesem Augenblick regte sich bei Lucy erneut die Erinnerung. Sie konnte einen kleinen Schlüssel sehen. Er war unter der Fußmatte verborgen, auf der Angelika stand. Zumindest in ihrem Geiste schien es so. Ob der Schlüssel immer noch vorhanden war, würde man ebenso heraus finden müssen wie den Versuch, ob sich mit ihm auch die Tür öffnen ließe.