Synnover stellte keine Ansprüche an sich selbst, die sein eigenes Leben erschwerten, so wie Zarrah es tat. Er dachte nicht an das Wohl von anderen, wenn es ihm keinen Vorteil einbrachte. Er würde weder die Verfolgung der morgerianischen Wachhunde anstreben noch die Rettung von Razag und Crystin, brächte es ihm nichts ein, abgesehen eben von deren Rettung selbst. Er sträubte sich vielleicht auch nur deshalb davor, mehr als Zweckverbündete in den anderen zu sehen, weil die wenigen Momente seines Lebens negativ ausgefallen waren, als er sich anderen emotional so weit geöffnet hatte. Er hatte sich an Sodth geklammert, war ihm Haustierchen und absolut loyal gewesen. Er hatte sich von ihm und den anderen Orks schikanieren, mit Abfällen füttern und in Schränke sperren lassen, während seine Verletzungen sich entzündeten, ihn krank und schwach machten. Und wofür? Weil dieser große Ork die einzige Bezugsperson in seinem damals noch so jungen Leben gewesen war. Er hatte keine Wahl besessen, doch als ihm erste Optionen offenstanden, hatte er sie genutzt. Nicht für die Reißer hatte er gekämpft, sondern für sich. Ohne Ansprüche an sich zu stellen. Es hatte ihm genügt zu wissen, dass es weniger Schrankstrafen und besseres Essen verhieß, wenn er gewann. Und er hatte geglaubt, Sodth wäre stolz auf ihn, auf sein Talent, seine Erfolge. Er hatte geglaubt, der große Ork würde ihn mögen über das Herr-und-Haustier-Verhältnis hinaus. Und dann hatte Syn herausfinden müssen, dass Geld beliebter war als das Kaninchen. Er war Mittel zum Zweck für Reichtum und nicht mehr. Er war an Dunkelelfen verkauft worden, weil es mehr Geld und Reichtum verhieß als er in den Hinterhöfen gegen goblinische Gegner je hätte einspielen können. All sein Bemühen, seine Treue, sein Glauben an Sympathie ... verraten und verkauft.
Dann war da Yolintha von den Nachtklingen gewesen. Diese vollbusige, dralle Schönheit mit Erfahrung und mehr Speck an der Hüfte als Syn in seinem Leben jemals in den Magen bekommen hatte. Sie war ein Rasseweib unter den Dunkelelfen und als sie das Kaninchen zu sich holte, war nach einigen Wochen nicht ganz klar, wer mehr an wem hing. Sie brachte ihm einiges bei und forderte eine erfolgreiche Umsetzung ihrer Lehrstunden regelmäßig ein. Dass sie es nur auf ihre eigene Befriedigung abgesehen hatte, war dem Burschen damals alles andere als klar. Wie auch? Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als er seine Unschuld verlor. Mit vierzehn verliebte man sich sofort und erst Recht, wenn der Schwarm einfach nur ein wenig freundlich, ein wenig zuvorkommend war. Yolintha hatte ihm schöne Kleidung, ein warmes Bett und Erfahrung geschenkt. Sie hatte ihn umworben und seine Fähigkeiten gelobt. Strafen fielen in sexuellen Gefälligkeiten aus und endeten nicht in engen, dunklen Schränken oder Kerkern. Wie hätte er ihr nicht sein Herz schenken können?
Aber diese Frau hatte es zertreten. Sie hatte ihm seine Stellung deutlich vermittelt. Sklaven liebten nicht. Er wüsste gar nicht, wie es war zu lieben. Er wusste, wie man Liebe machte! Das hatte sie ihm beigebracht und das sollte er weiterhin anwenden - bei ihr, bei ihren Bekanntschaften, um auch hier bessere Beziehungen, Geld oder andere Vorteile zu erspielen. All ihr Lob, all ihre Zuwendung diente am Ende nur ihrer eigenen Befriedigung. Nichts davon war echt. Nicht einmal Synnover selbst, als er zum ersten Mal die Maske des Verführers aufsetzte und das Kaninchen nicht nur in der Schwarzen Arene mit weitreichendem Talent glänzte.
Und Karrish? Wenn Syn sich noch zu jemandem auf emotionale Ebene hingezogen fühlte, dann war es der Sohn des Nachtklingen-Hauses. Aber der Moment, sich auf ihn einzulassen, verstrich mit jedem Tag, den beide schweigend miteinander verbrachten. Syn hatte gelernt, seine Gefühle zu verschließen. Er himmelte den Dunkelelfen im Stillen an. Er dankte ihm im Stillen und er sehnte sich ebenso im Stillen nach seiner Anerkennung. Er würde Karrish niemals erzählen, wie sehr dieser Mann ihm Freund, Vater, Bruder, Vertrauter war. Er würde nicht riskieren, dass sein letzter Funken Hoffnung von Spott zerschlagen oder er durch einen weiteren Verkauft verraten würde. Er wollte von Karrish nicht hören, wie lächerlich es sei, dass er an ein Band zwischen ihnen glaubte. Sklaven knüpften keine Bande. Sklaven dienten der Sache. Sklaven waren eine Sache, eine von vielen. Syn hob sich daraus nur ab, indem er sich auffällig und unentbehrlich machte. Wenn er nach etwas strebte, dann nach dem Minimum, unersetzlich zu sein.
Und so versuchte er es auch bei Zarrah. Seine Ambitionen galten weder dem Wunsch nach Nähe zu ihr oder einer Festigung ihres Bandes. Es war keine Liebe im Spiel, keine Freundschaft. Vielleicht ein wenig Leidenschaft, denn die Elfe war alles andere als unattraktiv. Ihr fiebriger Blick zog Syn sogar an, so dass er das glänzende Dunkelgrün viel zu lange mit seinem eigenen erwiderte. Letztendlich aber zielten all seine feinen Zärtlichkeiten, seine Zuwendungen nur darauf ab, Zarrah ruhig zu stellen. Sie sollte schlafen, damit sie sich nicht allein auf den Weg machte. Denn dann wäre Synnover in der Wildnis allein, in der er nicht würde überleben können. Im schlimmsten Fall verletzte sie sich noch mehr und würde ihm Belastung sein. Oder aber sie starb ... Warum sorgte ihn das so sehr über sein Problem des Überlebens hinaus? Knüpften sich doch Bande zwischen ihnen? Fürchtete er etwa nicht nur, allein zu sein, sondern von ihr alleingelassen zu werden? Fürchtete er einen Schmerz, den er wie bei Sodth empfunden hatte? Ein Schmerz, der nun ebenfalls brannte angesichts der Tatsache, dass Karrish nicht ahnte, dass sein Kaninchen noch lebte? Dass es zu ihm zurück musste und wenigstens auf ein stummes Lächeln des Elfen hoffte?
"Bin ich nicht immer zurückgekehrt?"
Syn schaute auf. Er musterte Zarrah und ihre kläglichen Versuche eines Aufbruchs. Wenn sie jetzt ging, würde sie nicht zurückkehren. Und daran erinnerte Synnover sie auch. Dann setzte er alles auf eine Karte. Mit Worten konnte er sie nicht dazu bewegen, zu bleiben oder sich auszuruhen. Also musste er sich bewaffnen. Das hier war kein Arena-Kampf. Es war einer, der auf anderen Ebenen geführt wurde und so zückte das Kaninchen Klingen eines anderen Arsenals. Wenn er Zarrah nicht mit Logik überredete, dann vielleicht mit Verführungen. Innerlich schluckte er. Sie war schön, kein Zweifel. Der Sex mit ihr war gut gewesen. Syn hatte ihn bisweilen sogar fast genießen können, wäre es nicht wie jede Vereinigung mit irgendeiner Dunkelelfe gewesen. Immer und immer wieder. Keine Gefühle, keine Liebe, keine Verbundenheit. Das gab es für ihn nicht. Er war nur ein Sklave.
Syn kannte seinen Platz. Er kannte seine Aufgaben. Zarrah fügte sich in die Rolle eine Anführerin. Sie stellte Ansprüche an sich selbst, um anderen ein Vorbild zu sein. Es gelang. Sie erinnerte das Kaninchen an dessen Rolle und was man von ihm erwartete. Mit Küssen und Streicheleinheiten näherte es sich ihr. Es liebkoste sie, schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit und ignorierte die eigene Müdigkeit. Es wäre bereit, seine letzten Kraftreserven zu verbrauchen, um diese Frau befriedigt ins Reich der Träume gleiten zu lassen. Er war nur noch einen falschen Liebesschwur davon entfernt, ihre Wünsche zu erfüllen und so wie sie ihn anschaute, sehnte sie sich auch danach. Da war ein Funkeln in ihren Augen, welches sie bei ihm vergeblich suchte. Er spürte weder echtes Verlangen noch den Wunsch, ihr körperlich so nahe zu sein. Syn war einfach nur müde, aber das zählte für jemanden wie ihn nicht, wenn andere verlangten, mit diesem Spielzeug zu spielen. Er biss die Zähne zusammen, setzte das beste Lächeln auf, das er sich noch abringen konnte und stellte sich mental darauf ein, durchzuziehen. Er durfte sich nur nichts anmerken lassen und das würde er nicht. Darin war er gut! Yolintha hatte niemals etwas bemerkt!
"Ich bin nicht Yolintha." Syn glitt aus der Wolke seiner Gedankenwelt, in die er fast immer abdriftete, wenn es auf Tuchfühlung ging. Sein Körper schaffte das auch, ohne dass er die ganze Zeit hochkonzentriert und aufmerksam sein musste. Er hatte gelernt, das gleiche Ergebnis zu erreichen und sich dennoch ein wenig in sich selbst flüchten zu können. Jetzt aber gewann Zarrah seine volle Aufmerksamkeit. Er schaute sie an und seine Augen weiteten sich mit jedem weiteren ihrer Worte. "Du musst mich nicht befriedigen, um das zu bekommen, was du willst. Du solltest das bei niemandem tun. Jedenfalls nicht, wenn du es nicht ... fühlst und wirklich willst."
Er schnaufte, halb amüsiert und halb im Versuch, ihre Worte zu fassen. "Was...?", fragte er, denn er konnte nicht ganz glauben, was sie da sagte. Er konnte nicht begreifen. Das hatte er die ganze Zeit nicht. Ihr Aufruf, nicht nur an ihn, sondern auch an Razag und Crystin beim Fluss war nicht zu ihm durchgedrungen. Leere Worte, leere Versprechen, eine Lüge. Wie konnte ein Sklave sich denn von allem lösen, das ihn geformt hatte? Einfach so? Er hatte es genossen, durch die Wälder zu spazieren, mit den anderen zu essen oder das Lager herzurichten. Er hatte die Schönheit einer Natur bewundert, die angeblich so frei war wie er selbst sein sollte. Ihm hatte die Illusion gefallen, aber nicht mehr hatte Synnover darin gesehen. Es waren verheißungsvolle Worte wie man sie den Sklaven mitteilte und in ihnen Hoffnung schürte, bevor man sie zur Großen Hatz in die Ödnis der Toten Ebene entließ. Leere Versprechungen, deren Hoffnung und Glaube an etwas Echtes mit dem Tod endeten. Er hatte das Spiel mitgespielt und bereits geahnt, worauf es hinauslief. Er hatte keines ihrer Worte für bare Münze genommen. Bis jetzt.
"Du bist frei." Was immer sie noch an Worten nachstellte, verlor sich in einem verschwommenen Wabern des Echos dieser Aussage und der Erkenntnis, die sich endlich in seinem Kopf breit machte. Er bekam weder Zarrahs Wünsche an seine Lebenesgestaltung mehr mit, noch ihre Bitte, dass er sich schlagenlegen sollte. Sie würde nicht ohne ihn losziehen. All das verstummte unter dem Wissen, welches sich nun in seinem Geist ausbreitete. Es erfüllte jede Ecke seiner Existenz und drückte all die Zweifel, Ängste und falschen Hoffnungen heraus, an die er sich all die Jahre und unter alle Widrigkeiten geklammert hatte, um nicht zu zerbrechen.
"Ich bin ... frei", wisperte Syn, nur um es noch einmal zu hören. Um es von sich selbst zu hören. Sein Blick huschte zu Zarrah, die sich bereits artig auf ihr Lager gebettet hatte. Er blickte sie an und durch sie hindurch. "Frei...", wiederholte er und seine Augen suchten nach einem Fixpunkt. Sie fanden keinen, wanderten wie ein gehetztes Kaninchen durch das Unterholz und somit über Zarrahs Körper, bis sie Schutz im tiefen Grün fanden und sich dort einnisten konnten. Warm und geborgen verschwammen die Gefahren von außen. Nein, Synnovers Sicht verschwamm. Tränen quollen hervor, als er mit gebrochener Stimme noch herausbrachte: "Ich muss ... das ... nicht tun ... ich muss ... es nie ... nie wieder..."
Seine Linke fuhr vor seinen Mund. Die von Crystin geheilte Hand, die nun wieder im Stande war, zu ersticken. Jetzt versuchte Syn, auch ohne Luftmagie, sein eigenes Schluchzen zu ersticken, das an die Oberfläche zu dringen versuchte. Er wandte den Kopf zur Seite, wandte sich halb ab. Zarrah sollte es nicht sehen. Sie sollte diese Schwäche nicht sehen. Sklaven durften keine Schwäche zeigen. Aber er war kein Sklave mehr. Er war frei. Wirklich frei.
Syns Schultern bebten. Er beugte sich über seine eigene Hand, die sich fest auf den Mund presste. Er kniff die Augen zusammen, um den Tränenfluss zu stoppen, aber sein Körper begriff viel schneller als sein Geist, was es endlich bedeutete. Er begann zu verstehen. Er verstand, was Razag ihm auf dem Floß hatte sagen wollen. Ich glaube, ich will gar keinen Sex mehr haben. Als hätten sie eine Wahl! Das waren seine Gedanken gewesen. Nun begriff er, dass es der Wahrheit entsprach. Er hatte eine Wahl. Er war frei. Er würde nie wieder zu etwas gezwungen werden, das er nicht wollte. Er könnte selbst entscheiden. Und er konnte alle Masken ablegen, um darunter zu entdecken, wer er selbst eigentlich war ... was von ihm noch übrig war.
Syn weinte hemmungslos. Er weinte lang. Oh, er hatte schon viel geweint, seit man ihn Morgeria entrissen hatte. Meistens heimlich und für sich. Auch jetzt versuchte er, die Außenwelt davor zu verschließen, indem er sich klein machte, vornüber beugte und das Schluchzen hinter der Hand verbarg. Aber er weinte und er ließ alles heraus. Er beweinte sich, seine jahrelange Unterdrückung und die nun gewonnene Freiheit. Er weinte sich frei.
Irgendwann versiegte die Quelle. Irgendwann genügte es. Syn musste nach außen hin wieder Stärke ausstrahlen. Denn so frei er war, er durfte sich keine Blöße geben. Das machte ihn angreifbar. Dann wäre es viel zu schnell vorbei. So hob er den Kopf an, zog die Hand vom Mund und wischte sich mit der Faust über die Augen. Dann atmete er tief ein, um beim Entlassen der Luft eine gefestigte Mimik aufzusetzen. Ruhe. Frieden. Freiheit.
Er wandte sich um, blickte auf die Schlafstatt und Zarrah herab. Er betrachtete sie schweigend und falls sie seinen Blick erwiderte, sähe sie ein ähnliches Bild wie damals im Wald. Er verbarg die Tränenspuren nicht, aber er ging auch nicht auf sie ein. Müde erfasste sein Grün ihre Gestalt, bevor Syn den Schlafsack anhob, der ihr als Decke diente. Geschwind schob er sich darunter, um dicht an sie zu rücken. Sein Arm legte sich ganz selbstverständlich um ihren Körper, darauf bedacht, kein Gewicht auf ihre Verletzung auszuüben. Die Finger streichelten, was er erreichen konnte, ganz gleich ob es ihr Rücken, der Arm oder ihre Haare wären. Es diente nicht dazu, sie zu verwöhnen oder zu verführen. Er suchte Ruhe. Er genoss den Frieden, den er gefunden hatte. Er entdeckte Freiheit.
Dann reckte Syn den Kopf zu Zarrahs Gesicht. Er neigte sich ihren Lippen entgegen wie er es im Wald getan hatte. Es entstand dieselbe Atmosphäre. Doch bevor er fragen konnte, ob es ihm überhaupt erlaubt wäre, blinzelte er und senkte den Blick. Nein. Er musste es nicht mehr tun, auch nicht, um seinen Dank auszudrücken. Nie wieder - wenn er es nicht wollte. Aber was sollte er sonst tun? Er hatte nichts, das er Zarrah geben könnte. Nichts, außer...
"Schlaf gut. Nachher suchen wir nach ihnen." Syn schloss die Augen, seine Hand blieb auf Zarrahs Schopf liegen, er eng an sie geschmiegt, aber Küsse oder andere Gefälligkeiten würden künftig wohl ausbleiben.