Vermutlich wäre sie längst tot. Unabhängig davon, ob die seltsame, Rubine liebende Hexe von einer Dunkelelfe in ihr etwas gefunden hatte oder nicht. Ihr Verhalten hätte sie keine zehn Minuten in der Gewalt dieses brutalen Volkes überleben lassen. Aber eben, weil es da etwas gab - etwas, das mit ihrer Wassermagie zu tun haben musste - durfte Azura weiter atmen. Ihr allgemeiner Zustand besserte sich dadurch allerdings noch lange nicht. So ging Corax mit ihr nicht gerade zimperlich um. Er zerrte sie nun mit sich. Da hatte man ihn vorher richtig umgänglich nennen können, allein aus dem Grund, weil er einmal auf ihre Forderung hin stehen geblieben war und sie angehört hatte. Diese Spielchen hatten geendet, als sie sich weiterhin sträubte und es auch noch wagte, das Kinn vorzurecken. Als hätte menschlicher Abschaum hier auch nicht ein Fünkchen mitzureden. Er war ihr entgegen gekommen. Wenn sie dieses Geschenk nicht annahm, würde er eben den anderen Weg einschlagen. Für ihn machte es letztendlich keinen großen Unterschied, es kostete ihn kaum Kraft, dieses Menschenweib mit sich zu schleifen.
Wenn sie weiterhin zeterte, würde es eben noch eine Backpfeife setzen. Er hatte die Wirkung dieser Methode durchaus bemerkt, warum es also nicht wiederholen? Der Schock hatte ihr ja geradezu im Gesicht gestanden. Wahrscheinlich war sie mehr darüber überrascht, dass man sie überhaupt geschlagen hatte als von dem Schlag selbst. Corax genoss es, ihr derartiges Entsetzen zu bereiten. Nach außen hin zeigte er es aber nicht. Es war eine innere Befriedigung, ganz persönlich und nur für ihn allein bestimmt. Er amüsierte sich dennoch darüber, das Gör an seiner Kette musste nichts davon erfahren. Sie konnte es sich vermutlich denken, aber was kümmerte es ihn schon, was diese Menschenbrut dachte? Noch hatte der Soldat seinerseits nicht bemerkt, dass Azura keine reinblütige Vertreterin des menschlichen Volkes war. Vermutlich würde es die Verachtung von Seiten Coraxes aber nur schüren, wenn er herausfand, dass in ihr auch noch elfisches Blut floss. Von Elfen, die nicht den Dunklen angehörten.
Er hatte sie den ganzen Weg zurück durch die Tore der Stadt, die Straßen hinunter bis an den Hafen geführt. Und er hatte geschwiegen, war auf keines ihrer Worte eingegangen. Er beantwortete ihr keine Fragen, wenn sie sie stellte. Er reagierte nicht mehr auf ihre Forderungen. Das einzige, was die Adelstochter feststellen durfte, war sein Gang, der sich mit jedem weiteren gekeiften Wort verschärfte, bis er schließlich in einen Armeemarsch verfiel, welche für ein ungewohntes Bein irgendwann Wadenkrämpfe bedeuten konnte.
Nach dieser Hetzjag hielt er endlich nahe der Docks an. An diesem Teil Andunies, in dessen Nähe sich auch ein Ende der Stadtmauer erstreckte, befand sich neben einem weiten Sandstrand ein gewaltiger Bau, für den die Handelsstadt vermutlich nahezu so berühmt war wie für ihren Apfelwein. "Wir sind da, Hure", richtete Corax endlich wieder das Wort an sie. "Eure Akademie für Wassermagische." Ja, das war sie, ein großes und stolzes Gebäude. Dutzende Türme und Zinnen reckten sich in den Himmel. Aus gotischen Fenstern floss Wasser in langen, plätschernden Sturzbächen herab. Es schlängelte sich seinen Weg durch den Stein selbst, wurde von Wasserspeiern in hohem Bogen von den Bauen gespuckt oder ergoss sich in sprudelnden Brunnen, wo jeder Tropfen einem Diamanten gleich glitzerte. Die gesamte Akademie umgab ein Wassergaben und Zugang bekam man nur über die steinerne Brücke, die in ihrem Mittelstück des Geländers Statuen von Ventha beherbergte. Diese hielten Amphoren, aus denen sich ebenfalls Wasser in den Graben ergoss. Kois und andere Zierfische tummelten sich darin, bildeten einen schillernden Farbreigen unter der Wasseroberfläche. Das gewaltige Eingangsportal wurde von zwei Delfinen zu beiden Seiten eingerahmt. Die Spitzen ihrer Schnauzen berührten sich direkt über der Pforte zu einem verspielten Nasenkuss. Sie standen auf ihren Flossen, welche wie die Sockel von Säulen den Eingang säumten. Derzeit stand das Portal offen und die eigentliche Pracht wurde nur von der Tatsache überschattet, dass es nicht Magier waren, die sich hier tummelten. Das hieß, man konnte schon einige von ihnen sehen. Orks schubsten sie voran, hielten schwere Eisenketten, an denen sie sich wie Perlen aufreihten. Ihre Gelenke waren in magische Fesselungen gelegt, die jegliche Zauberei verhinderten. Es war ein Anblick voll Schrecken.
Dunkelelfen standen in der Nähe. Sie unterhielten sich, besprachen die gegenwärtige Sachlage und diskutierten über irgendeinen Handel, den sie wohl abgeschlossen hatten. Einige lobten Manthala, dass sie ihr glückliches Händchen über ihre Kinder ausgestreckt hatte. Eines jedoch stand fest, ohne dass man auch nur einem Wort des dunklen Volkes lauschen musste: Die Magierakademie war wie Andunie selbst schon zuvor von den Dunkelelfen eingenommen worden.
"Corax Rabenschrei, seid Ihr das?" Ein fremder Dunkelelf, mittelschwer gerüstet und das Schwert noch blutig, trat an den Angesprochenen heran. Er musterte kurz die kleine Kette, die den Soldaten an Azura band - oder umgekehrt, wie man es nahm. Dann blickte er der Adligen direkt in die Augen. "Hat dir deine Herrin ein Haustier erlaubt?" Corax reagierte nicht auf den Spott. Wie schon bei Azura war er die unnahbare Ruhe selbst. Er antwortete wiederholt auf Celcianisch. Das hatte vor allem den Grund, seine Gefangene endlich etwas mehr aufzuklären. So musste er sich später nicht wiederholen.
"Sie ist neuer Besitz meiner Herrin. Ich soll die Akademie nach nützlichen Büchern und Gegenständen durchsuchen, die in ihre Ausbildung fließen und diese erleichtern können. Ich sehe, die Akademie ist bereits unter unserer Kontrolle. Kann ich mich umsehen?"
"Natürlich - celcianisch sprechender Abschaum. Denk daran, dass deine Herrin einen Preis für all das zu zahlen hat, was du von dort drinnen mitnehmen wirst."
"Sie wird dem neuen Stadtherrn das Geld direkt zukommen lassen." Corax neigte leicht den Kopf, die Faust auf die Brust pressend. Ein Soldatengruß und ein Zeichen von Untergebenheit. Offenbar stand er nicht so hoch wie der fremde Dunkelelf in der militärischen Rangordnung. "Setz dich in Bewegung, Gör!", forderte er Azura mit einem Ruck an der Kette auf und steuerte auf das offene Portal zu. Noch immer war nicht vollkommen klar, wie denn nun ihr Schicksal aussah. Ausbildung? Besitz seiner Herrin? Was hatte diese Hexe mit ihr vor?