Otis rechnete natürlich auch damit, dass sich Isildur seines Vorschlags heraus verweigern könnte. Er mochte ihm vielleicht etwas schulden, aber das hieß noch lange nicht, dass er sich auf alles einlassen würde, was dem Seemann in den Sinn kam. Aber Otis zählte nicht zu der Sorte von Mensch, die nicht alles versuchte. Er fragte frei heraus und sah dann, wie es sich entwickelte. Da er derzeit eine Art Leibwächter mehr als alles andere an seiner Seite gebrauchen konnte und Isildur wirklich einschüchternd ausschaute, trug er ihm eben seine Wünsche vor. Was der Wolf, der sich selbst für einen Elfen hielt, daraus machte, würde er dann ja sehen. Offensichtlich war er aber abgeneigt, auf den Vorschlag einzugehen. So würde sich Otis wohl eine andere Gegenleistung ausdenken. Er war nämlich fest davon überzeugt, dass ihm dieser wandelnde Pelzball tatsächlich etwas schuldete. Da würden ihn dessen Krallen und Zähne auch nicht von seiner Meinung abbringen - jedenfalls nicht, solange Isildur angeleint war und mit verstauchtem Bein da saß. Die Verletzung sollte aber heilen, dafür sorgte der Medicus Bernenwalder. Er legte den Verband an, wickelte ihn fest um den Lauf, so dass die schmerzlindernden Kräuter nicht nur die Heilung unterstützen, sondern der Druck des Verbandes das Bein auch etwas stabilisieren konnte.
"Das wäre es", sagte der Heilkundige und rieb sich die Hände an seiner Kleidung ab. Er bräuchte nun frisches Wasser zu Desinfektion. Hygiene wurde nur in Heilerkreisen groß geschrieben, aber diese Leute wussten auch, warum. "Ihr solltet ohne Gehhilfe laufen können - langsam und ein wenig humpelnd vielleicht, aber es sollte funktionieren." Horatio Ignatius Lachmus Bernenwalder rutschte ein Stück zurück, damit Isildur testeshalber einmal aufstehen konnte. Wie der Heiler gesagt hatte, es funktionierte. Zwar noch nicht ganz einwandfrei, aber das Bein war ja auch verstaucht. Er nickte zufrieden über sein Handwerk. Gut gemacht.
Von Otis konnte er ein solches Lob nicht erwarten und tat es auch nicht. Das war der Medicus bereits gewohnt, dass wenig Worte des Dankes oder Lobes fielen, wenn man sich als Arzt auf einem Schiff voller raubeiniger Seefahrer anheuern ließ. So wandte auch er sich wortlos um, denn er wollte die kleinen Utensilien wie Bandagenreste, Mörser und Kräuter zurück in seine große schwarze Tasche packen. Was Isildur zu sagen hatte, darauf achtete er kaum. Die Worte waren für Otis bestimmt.
Der wolf verkündete, dass er zum Reisegefährten des vernarbten Seemannes würde, nicht aber dessen Sklave. Otis hob sofort beschwichtigend die Hände. "Natürlich nich', was sollte ich auch mit einem Sklaven? Die müss'n durchggefüttert werden, darauf verzichte ich gern, aye!" Er streckte die Hand wie ein vertrauensseliger Händler mit einem schiefen Grinsen aus. Solche Sorte Mensch, die stets noch einmal betonte, dass es keinen Haken bei der ganzen Sache gab. "Reisegefährt'n, aye?" Mit einem Handschlag wollte er den Zustand besiegeln, der sich nun zwischen ihnen aufgebaut hatte. Es erinnerte an den Versuch, Waffenstillstand zu schließen, nur mit dem Unterschied, dass Isildur und Otis nicht im Krieg lagen. Es sollte einfach die Abmachung zwischen ihnen unterstreichen. Sie würden das Schiff, die Treibgut, gemeinsam verlassen und ab Rumdett Seite an Seite durch die Piratenstadt gehen. Keiner wäre dem anderen unterwürfig, aber Otis erhoffte sich gewisse Leibwächterqualitäten. Ob Isildur jener Pflicht tatsächlich nachgehen müsste, war nicht einmal richtig abgesprochen worden. Dafür hatte er selbst gesorgt, aber der Seemann ließ sich offenbar darauf ein.
"Ich krieg dich schon raus - aufrecht gehend und nich' länger angeleint", versprach Otis. Doch anstatt seine Hand zu ergreifen, packte der Wolf plötzlich nach dem nichts ahnenden Medicus. Dieser quiekte auf wie ein abgestochenes Ferkel, zappelte sodann, dass ihm die mit in die Höhe gezogene Tasche entglitt und zu Boden fiel. Alle eingesammelten Materialien verteilten sich auf den Planken. Der Medicus stoppte seinen Panikanfall und starrte auf die Sachen herunter. Der Mörser hatte einen Sprung abbekommen. Seufzend ließ der Mann die Schultern - überhaupt alles - hängen. Er schwebte knapp über dem Boden, angehoben von Isildurs kräftiger Pranke. Dieser erinnerte ihn nun daran, kein Wort darüber verlauten zu lassen, dass er sprechen konnte.
Otis verschränkte breit grinsend die Arme vor der vernarbten Brust, die unter seinem Fleckenhemd hervor lugte. "Ha! Lachi wird nichts sagen, den kannst'e beruhigt wieder absetz'n. Als Heiler untersteht er etwas, das sich Schweigepflicht nennt, aye?"
"Äh ... ja ... äh ... aye, meine ich", stammelte der Arzt. "I-ich habe mit Dritten nicht über den Zustand oder das Wohlbefinden, geschweige denn die Behandlung meiner Patienten zu sprechen. Ich sage nichts, aber bitte - Herr! - lasst mich wieder runter." Sanft sank der Heilkundige zurück auf seine Füße. Dort angekommen atmetete er erst einmal dankbar aus, ehe er sich erneut daran machte, seine Tasche zu packen. Otis hingegen schien nicht mehr so erleichtert zu sein. Isildur konnte es riechen, nach außen hin verzog der Mann nämlich keine Miene. Nur seine Worte kamen ein wenig ungehalten: "Ich leg dich schon nich' rein! Warum glaub'n das alle immer? Seh ich so hinterrücks aus, hä? Neeeeey!" Er riss die Arme hoch und wandte sich ab, schritt zur Luke herüber. Von oben kam beträchtlicher Lärm. An Deck wurden die Hunde scheu gemacht, wie man so sagte. Alles bereitete sich auf die Ankunft im Hafen der Piratenstadt vor. Immer wieder hörte man dumpf, wie Befehle gebelllt oder darauf mit gleichem Lärmpegel geantwortet wurde. Das Schiff knarrte, die Segel flatterten hörbar und das Rauschen der Wellen mischte sich in die Symphonie eines belebten Komplexes wie dem einer Seemannschaft.
"Ich werde mich aber nicht wieder in Fesseln legen lassen, damit das klar ist." "Aye", gab Otis zurück, ohne sich nach Isildur umzudrehen. Sein Blick war auf die Luke gerichtet.
Als der Medicus den Laderaum durch selbige gerade verlassen wollte, wurde sie knarrend von außen geöffnet. Jemand kam die schmalen Stufen herunter. Bei jedem Schritt ächzte das Holz unter den schweren Lederstiefeln, deren Schwarz bereits seit Jahren verblasst war. Es folgte eine dunkelblaue Lederhose, passend zum Mantel, der von goldenen Knöpfen am Rever zusammengehalten wurde. Quer über die Brust legte sich ein brauner Ledergurt, von dem mehrere kleine Troddeln auf ebenfall goldenem Material herabhingen. Komplettiert wurde dies mit goldenen Borten, die sich am Ärmel- und unterem Mantelsaum des Kleidungsstücks entlang zogen. Der Kragen stand hoch, verdeckte einen Teil des Gesichts des Trägers, gleichfalls wie der schwarze Dreispitz auf seinem Kopf, an dem mehrere winzige Abzeichen metallisch glitzerten. Dunkle Augen in einem wettergegerbten Gesicht, umrahmt von einem hellblonden Bart, blickten unter dem Hut hervor.
Um die Hüfte schmiegte sich ein weiterer Gurt, an dem nicht nur die ausgefüllte Scheide eines Säbels hing, sondern auch noch ein Dolch, auf Hochglanz poliert, sowie ein zusammengestecktes Fernrohr.
Eines musste man dem Mann lassen, bei dem es sich nur um den Kapitän handeln konnte: Er besaß Stil. Hoch erhobenen Hauptes marschierte er in den Laderaum, dabei jedoch sehr bequemlich wirkend, als machte er einen Erkundungsspaziergang. Ihm folgten ein kräftig wirkender Seemann in ähnlicher Kluft wie Otis sie trug, sowie ein kleiner, sommersprossiger Bengel, dessen große klare Augen sofort auf Isildur ruhten. Der Kapitän war er, welcher als erstes sprach: "Medicus Bernenwalder, Ihr hier? Hat sich mein Sorgenkind etwa verletzt?"
"Nein, Kapitän. Ich habe das Wolfswesen behandelt. Verstauchter Hinterlauf, Herr, aber mehr Informationen preiszugeben, verbietet mir die Schweigepflicht." Er neigte dennoch ehrfüchrtig den Kopf. Der Kapitän nickte, was auch ein Zeichen für Bernenwalder war, dass er sich aus dem Staub machen durfte. Hastig erklomm der dürre Medicus die Treppe und verschwand nach oben. Der Kapitän ließ den Blick schweifen. Er streifte Otis und verharrte dann auf Isildur. Die Worte richtete er aber eindeutig an seinen Seemann. "Wir erreichen gleich Rumdett. Otis, betäube den Wolf und schleppe ihn dann von Bord. Die Matrosen haben einen Käfig gebaut, in den wir ihn verfrachten, bis sich ein Käufer findet."
"Herr", utnerbrach der Seefahrer. Der Kapitän hob eine Braue. "Widerrede geben? Hatten wir das nicht schon einmal, Otis?"
"Aye, aber Herr, ich würde mich gern allein um alles kümmern. Überlass mir den Wolf. Du weißt, ich will von Bord geh'n und in Rumdett bleib'n. Ich nehm ihn einfach mit, aye? Du wärst im Nu zwei Sorgen los, Käpt'n." Der Kapitän neigte den Kopf, kratzte sich am Bart. Er schien den Vorschlag tatsächlich zu überdenken. Doch dann entgegnete er: "Ich behalte deinen Seesack mit sämtlichem Hab und Gut auf dem Schiff. Du gehst zusammen mit dem haarigen Pelzknäuel von Bord. Verkauf ihn. Wie, bleibt dir überlassen, aber ich möchte mindestens 30 Fuchsmünzen für ihn haben. Ich gebe dir bis Sonnenuntergang Zeit, dann setzt die Flut ein, die uns wieder aufs Meer bringen wird. Wenn du mir bis dahin das Geld nicht gebracht hast, wirst du besitzlos in Rumdett bleiben - mit einem Riesenköter an deiner Seite."
Otis knirschte mit den Zähnen, antwortete aber: "Aye, Käpt'n." Er wandte sich um und bedachte Isildur mit einem durchdringenden Blick. Mach jetzt kein Thater, sagte der aus, als Otis einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche fingerte, um das eiserne Halsband zu lösen, das den Wolf noch immer gefangen hielt.