Khasib war immer anders vorgegangen. Natürlich hatte auch er sich eine Freude daraus gemacht, seine Frauen mit phsyischen Strafen davon abzuhalten, jemals wieder auch nur an Ungehorsam zu denken, aber er hatte stets darauf geachtet, dass seine Halunken präzise vorgingen. Natürlich machte Khasib seine Hände nicht schmutzig. Er ließ seine Handlanger die störrischen Sklavinnen züchtigen. Im besten Fall lief es darauf hinaus, dass sie für einen dieser abgerissenen Kerle anstatt für Khasib selbst die Schenkel spreizen mussten. Im schlimmsten Fall geschah genau dies, aber erst nach einer körperlichen Tortur durch Schläge mit Hand, Stock oder Peitsche. Aber immer wurden nur Stellen herausgesucht, die selbst bei einem Schleiertanz von Stoff bedeckt würden. Der Harem sollte makellos aussehen und unberührt. Nach außen wollte Khasib immer den Schein wahren, gut für seine Dutzenden von Frauen zu sorgen. Doch unter den Seidentüchern fanden sich immer Blessuren.
Wenn Corax hingegen so weitermachte wie bisher, würde sich am Boden der Kabine bald Madihas Leiche finden. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Warum schritt die falsche Meeresgöttin nicht ein? Hieß sie es denn gut, dass ihr dunkler Kraken, Vogel, Elf - was auch immer! - einen weiteren Mord beging? Es hatte doch eben noch danach ausgesehen, als missbilligte sie sein Massaker an Bord ebenfalls. Einen Schiffsjungen umzubringen, weil er sie versehentlich verletzt hatte, um sich selbst zu verteidigen, war aber in Ordnung? Warum unternahm nur niemand etwas?!
Tatsächlich amüsierte sich Azura kein bisschen darüber, was Corax gerade mit Madiha anstellte. Sie bekam es nicht einmal richtig mit. Der Schock saß ihr tiefer in den Knochen als der Schnitt in ihrer Handfläche. So sehr, dass sie den Schmerz sogar nur zweitrangig miterlebte und der Anblick ihrer Hand, wie sie sich mit Blut füllte, wesentlich eindrücklicher für sie war. Aber selbst das führte noch zu keiner Reaktion, wenngleich sich eine Ohnmacht langsam anbahnte. Vielleicht hätte Azura sogar das Bewusstsein verloren, wenn die Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes ausgeblieben wäre. Dort aber huschte gleich mehrfach etwas zwischen den Holzritzen hervor und versammelte sich zu dunklen Flecken an der Wand. Ein Blick hinüber verriet ihr, dass die Ratten das schwimmende Schiff wohl verlassen hatten. Ihren Platz nahmen nun mehrere Kakerlaken ein, die hässlicher nicht hätten sein können. Es ließ sich schwer beschreiben, aber irgendwie machten sie einen ... knorrigen Eindruck. Ihre Beine waren nicht krabblerisch dürre Stiele, sondern knotige Auswüchse unterhalb ihres ovalen Chitinkörpers. Sie glänzten schwarz, jedoch nicht wie Edelsteine oder geschwärztes Glas, sondern wie öliges Pech, auf das die Sonne fiel. Sie drohten passiv damit, sich zu verbrennen, sollte man sie berühren. Oder sie würden sich gleichermaßen wie Pech an die Finger des Wagemutigen heften, an ihnen kleben bleiben und ihn überwältigen. Es waren nicht viele Kakerlaken, doch ihre Präsenz wanderte wie ein eisiger Schauer des Unbehagens an Azuras Körper entlang. Er setzte sich in ihrem Herzen fest, um dort alle Glücksgefühle zu verdrängen, dass nur Angst und Ekel zurück blieben. Fast schmeckte sie den rachedurstigen Hass, den Corax in Form von physischer Kraft gerade auf Madiha abgab und für eine kurze Schrecksekunde wollte auch sie jemandem wehtun.
Dann aber brach der Anblick der Kakerlaken selbst sich erneut Bahn. Der Ekel vor diesen Krabbelviechern war größer als ein Hassgefühl, das nicht in ihrem Herzen geboren worden war und so drängte es sich an die Oberfläche, um dort zu explodieren. Ihr Schrei steigerte sich zu einer wuchernden Hysterie heran, die schrill in den Ohren der Anwesenden klingelte. Das hatte allerdings auch sein Gutes: Sie erreichte Corax.
„Bi… bitt…e“, krächzte Madiha ihren kostbaren Atem hervor, als der Griff um ihren Hals sich jäh lockerte. Die Hände zogen sich gänzlich zurück und ihre Sicht verschwamm für einen benommenen Moment, in dem neuer Sauerstoff sich einen Weg in ihre Lungen suchte, um sie vor einem Erstickungstod zu bewahren. Als sie wieder klar sehen konnte, war der mörderische Dunkelelf schon bei seiner selbst titulierten Göttin angekommen. Gerade schob er beide Arme unter ihren Körper, um sie auf selbige zu heben. Wäre er nur stattlicher und in der Seele nicht so verdorben, das Bildnis hätte in jedes Märchen hineingepasst, in dem der strahlende Ritter seine Prinzessin auf Händen zu seinem Pferd trug, um sie anschließend zu seinem Schloss zu bringen, wo er sie in wilder Leidenschaft ... glücklich bis an ihr beider Ende lieben würde, bis sie entweder an einem zu kitschigen Ende oder einem Übermaß körperlicher Freuden verschieden.
"Herrin, was ist los?" Corax hielt Azura an seine Brust gedrückt, schaute auf ihre Hand und suchte dann ihren Blick nach einer Antwort ab. Er erhielt sie, aber nicht direkt von ihr. Sein Gesicht verlor an Farbe. Er versteifte sich und ihm klappte die Kinnlade herunter, als er der keckernden Stimmchen gewahr wurde, die zu ihm sprachen.
"Du hängst mir zu oft an diesem Weib herum. So hübsch ist sie nicht."
"Jaja, deine letzte Herrin war auch keine Schönheit, aber wenigstens grausam. Die hier ist ... langweilig."
"Rette sie nicht, lass sie fallen. Lass sie leiden!"
Corax starrte die Kakerlaken an. Seine Hände begannen zu zittern und beinahe hätte er Azura wirklich fallen gelassen. "NEIN!", brüllte er los, bekam sie beim Nachgreifen im letzten Moment zu fassen und wich bis an die Schrankwand der Kabine zurück. "Ich mag nicht mehr spielen! Haut ab!"
"Ohohoho, wie ernst es ihm ist. Er spricht sogar Gaianya mit uns."
"Lass uns den Spaß, kleiner Vogel. Kreischen kannst du ein anderes Mal."
"Ja, zum Beispiel, nachdem wir mit deiner neuen Herrin gespielt haben."
"Oder kümmere dich weiter um das Balg da hinten. Ja, sie atmet wieder. Sie kann wieder spielen."
"Ohja, lustig. Warum rammen wir ihr nicht den Schiffsanker in ihr Loch und werfen sie über Bord damit?"
"Ohja, lustig, lustig, hohoho!"
"HÖRT AUF!" Corax brüllte die kleinen Kakerlaken an, die wild und keckernd über den Boden wuselten. Dann trat er nach ihnen. Mit Azura auf den Armen stampfte er mehrmals auf den Boden. Dass er dabei einige Federn ließ, fiel ihm gar nicht auf. Schließlich knackte es hörbar und seinem nackten Fuß, gefolgt von einem schleimigen Fleck insektenhafter Körpersekrete.
"Was hat es getan?!"
"Es hat unseren Bruder zerquetscht!"
"Wie kann er es wagen?!"
"Jahaaaa, jetzt leidet ihr! Lasst uns in Ruhe!" Corax kreischte triumphal auf. Aber sein Schrei war mehr ein wütendes Krächzen, als hätte sich erneut eine Krähe auf das Schiff verirrt. Außerdem war es gewaltig genug, dass es Holz sprengte. Nein, es war nicht Corax Schrei. Von draußen hatte man die Tür entriegelt und nun stürmten mehrere Matrosen die Kabine. Zwei von ihnen fielen sofort über den Dunkelelfen her. Azura wurde dabei unsanft in die Schlafnische fallen gelassen, wobei zu einer verletzten Hand sicher noch einige blaue Flecke an Schulter und Armen hinzukämen, denn sie stieß sich an der Rahmenkante der Koje an. Darüber hinaus blieb sie aber unversehrt, ganz im Gegensatz zu Corax. Der wurde gerade zu Boden gerungen, seine Hände und Füße mit Stricken gefesselt, während man ihm einen Säbel an den Hals drückte, dass der kalte Stahl ihn vor zu schnellen Bewegungen warnte.
"Was macht dieser ... was immer er ist in der Kabine?" Das war Jakub Tauwetter. Er drängte sich in den zu engen Raum. Briggs schielte nur an der Hüfte des Ersten Maats vorbei, um die Kabine nicht noch enger zu machen. Er blieb besser draußen. Aber Jakub musste als Redeführer die Situation einschätzen. Die drei Matrosen hielten Corax in Schach. Mit der Klinge am Hals wehrte er sich nicht einmal, grinste aber zu den Männern empor, obgleich er noch immer eine eher fahle Haut besaß, als sei ihm die blanke Angst in alle Glieder gefahren.
Jakub warf ihm einen strengen Blick zu. Dann entdeckte er Madiha und trat an sie heran. Er bot ihr eine kräftige Hand an, um ihr aufzuhelfen. Eine Spur ehrlicher Sorge lag in seinem sonst so strengen Blick. Er vertrieb sie aber schnell zurück in die hinteren Reihen seiner Persönlichkeit. "Alles in Ordnung?", fragte er Madiha und schaute sich um. "Du solltest doch nur auf die Fremde aufpassen. Wo kommt ihr Handlanger her?"
"Sollen wir ihn endlich töten, Käpt'n?" Einer der Männer schaute zu Jakub herüber. Der schien über den Titel nicht erstaunt. Er schüttelte aber den Kopf und befahl: "Fesselt ihn an den Schiffsmast. Ich will erst Antworten, ehe ich eine endgültige Entscheidung treffe. Allerdings glaubte ich, die Antworten von der Frau zu erhalten. Wo steckt sie?"