Beinahe wäre Madiha direkt gegen Jakub gelaufen. Er stand so plötzlich vor ihr, eine aufragende Wand aus Muskeln und diesem durchdringenden Blick. Die Enden seines Halstuches fielen auf die vom Hemd unverhüllte, unbehaarte Brust und legten sich wie eine breite Blutlinie darauf. Ob Schweiß treibende Arbeit oder die Gischt sein Hemd fleckig gemacht hatte, konnte Madiha nicht für sich beantworten. Sie nahm zwar Jakubs Geruch wahr, doch die leichte Schweißnote darin war nicht unangenehm. Vielmehr besaß sie dieses kernig Männliche, von dem so viele Frauen oftmals schwärmten. Herb und salzig hing Jakubs Aroma kurz in der Luft, ehe er sie mit seiner Stimme und einem erneut strengen Blick aus den eisblauen Augen durchbrach: "Dir ist übel, aber statt dich hinzulegen findest du noch genug Kraft, dein Hab und Gut zu suchen? Hrmmm." Er brummte ein wenig zu grimmig auf. Jakub schöpfte definitiv Verdacht. Seine Augen glitten über Madiha hinweg in die Dunkelheit, aber falls er Caleb wirklich entdeckt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen legte sich sein Fokus wieder auf Madiha. Anschließend folgte seine rechte Pranke, die er seinem mutmaßlichen Schiffsburschen schwer auf die Schulter fallen ließ. "Du kannst es ruhig zugeben", forderte er und gab Madiha Raum für eine Reaktion. Die Welt schien in diesem Moment still zu stehen. Weder das Rauschen der Wellen, noch das Knarren des Schiffes erreichten die Ohren des Mädchens. Nicht einmal ihren eigenen Atem konnte sie vernehmen. Vielleicht hielt sie aber auch die Luft an. Und ihr Herz? Hatte es aufgehört zu schlagen? Dann sprach Jakub erneut: "Bei meiner ersten Seereise ist mir von den Hängematten auch nur noch übler geworden. Man muss sich eben erst einmal daran gewöhnen, dass auf einem Schiff einfach alles schaukelt." Hätte er mehr Freundlichkeit in seine Stimme gelegt, hätten die Worte durchaus etwas Scherzhaftes besessen. So aber bildeten sie den einzig trockenen Fleck im Umkreis von Meilen.
Die Hand des Ersten Maats legte sich enger um Madihas Schulter. Es schmerzte, als er sie kraftvoll drückte und dann mit Bestimmtheit in eine Richtung dirigierte. Dem Mädchen blieb gar nichts Anderes übrig, als der stillen Forderung zu folgen. Jakub schob sie nun vor sich her. Er sagte nichts mehr, was Grund zur Sorge gab. Dieser Mann war so schwer zu durchschauen wie die Tiefe der See und mindestens so gefährlich, weil man durch diese Unberechenbarkeit absolut keinen Eindruck von ihm erhalten konnte. Was würde nun geschehen?
Zunächst einmal konnte Madiha wenigstens für sich verbuchen, dass Caleb wohl doch nicht entdeckt worden war. Der Dieb war nun wieder auf sich allein gestellt. Das Mädchen hatte keine Gelegenheit, sich überhaupt nochmal nach ihm umzusehen, geschweige denn ihm irgendein Zeichen zu geben. Jakub führte sie wieder hinaus aus dem Laderaum, vorbei an der Kombüse. Der Duft von einem stark verzwiebelten Eintopf drang so stechend in die Nase, dass es Tränen in die Augen treiben konnte.
"Heute Nacht können wir mit den Winden der Mannschaft in den Segeln fahren", kommentierte Jakub. Er sollte mehr Schalk in seine Tonlage fügen, damit seine Scherze nicht wie ein grimmiger Vorwurf klangen. Fischauge lugte aus der Kombüse und grinste. Er kannte den Humor des Ersten Maats bereits, fühlte sich keineswegs angegriffen und winkte beiden Vorbeiziehenden mit einem Kochlöffel zu.
"Schüsseln?", fragte er noch, aber Jakub schüttelte im Laufen den Kopf. "Unser Schiffsjunge ist seekrank, der isst lieber erstmal nichts."
"Aye", erwiderte Fischauge und jetzt wirkte er etwas bedrückt. Doch es war zu spät, um weitere Worte mit ihm zu wechseln. Jakub blieb vor der Kabinentür stehen, die nebst der Kombüse noch vorzufinden gewesen war. Mit einem schweren Eisenschlüssel aus seiner Hosentasche öffnete er und schob Madiha ungebremst ins Innere.
Viel gab es in der Kammer nicht zu sehen. Sie war sehr klein und jeder mit Klaustrophobie würde auch bei offener Tür sofort eine erstickende Enge verspüren. Ein halb zugezogener Vorhang verbarg die Koje des Bewohners nur zum Teil. Das Bett in der Nische aber war restlos hergerichtet, wenngleich es lediglich aus einer schlichten Matte, Decke und einem länglichen, viel zu hart erscheinenden Kissen bestand. Keine Samtüberzüge wie in den Herrenhäusern aus Madihas altem Leben. Keine Quasten und Troddel an den Kissen, keine verzierte Bettwäsche. Gegenüber von der Schlafnische fand sich ein Wandschrank oder war es eine Schrankwand? Die gesamte Gegenseite bestand aus Holz mit gut verriegelten Türen. Was immer sich im Inneren befand, nicht einmal ein Sturm würde es hinausschleudern können. Vermutlich fanden sich dort aber nur Kleidungsstücke. Die Doppeltüren machten nicht den Eindruck, dass sich dahinter eine zweite Kammer verbarg. Unterhalb eines runden Fensters, das dringend von einer Salzschicht befreit werden musste, damit man es wieder ordnungsgemäß nutzen könnte, hatte jemand einen quadratischen Tisch und einen Hocker abgestellt. Beides war mit den Bodenplanken vernagelt, ebenso wie die kleine Schatulle auf dem Tisch selbst. Sie besaß Schubfächer, die allesamt durch winzige Holzriegel das Innere daran hinderten bei zu hohem Seegang herauszufallen. Damit endete die Sondierung des Raumes auch schon. Langweilige Schlichtheit und doch besaß die enge Kammer ihren ganz eigenen Charme.
Jakub schob Madiha auf die Nische zu. "Lass deinen Seesack erst einmal neben der Koje auf dem Boden liegen. Ich finde Stauraum im Wandschrank, sobald du schläfst." Er nickte Richtung Bett. "Aye, ruh dich aus. Dein Magen wird es dir danken. In den Laken schaukelt es tatsächlich weniger." Er zögerte, blickte zur Tür und schloss sie dann von innen. "Ich hab noch Arbeit zu erledigen. Du gewöhnst dich schon noch daran in den zwei bis drei Wochen Seefahrt." Er musterte Madiha mit seinem durchdringenden Blick. Eine Spur Nachdenklichkeit lag darin. Dann entschied er: "Du schläfst die Reise über hier. Bei der nächsten Reise kannst du dich dann an den Hängematten versuchen."