Aktuell dachte er aber weder an diese organfreie Zukunft, noch an den fragwürdigen Humor, den der Gevatter manchmal an den Tag legte. Er versuchte, dessen Gabe auf Tarek anzuwenden und die Sanduhr mit seiner Lebenszeit aus dessen Handgelenk zu ziehen. Er brauchte Gewissheit, ob die Strapazen sich gelohnt hatten und er nun kurz durchatmen könnte oder ob er nach wie vor nun schnell sein musste, damit sie den tapferen Soldaten nicht verloren. Seine Finger drehten bereits das Handgelenk herum, da trat ihm ein paar Schuhe in den Weg. Sofort kniete sich deren Trägerin zu Tarek, um ihn zu untersuchen. Edlodi. Ihre Worte richtete sie allerdings direkt an Kazel und wirkte ... aufgebracht.
"Du hast ihn durch einen Sprung da rausgeholt?"
Statt einer Antwort konnte Kazel sich nur halb unterdrücktes Würgen abringen. Schon presste er seine Hände auf den eigenen Bauch und krümmte sich in die Haltung eines Fötus zusammen, nur dass er sich nicht im schützenden Mutterleib befand. Andere Stimmen wurden laut. Sie kamen von überall, aber er ging nicht auf jene ein. Für den Augenblick konzentrierte er sich nur darauf, das halb verdaute Frühstück bei sich zu behalten.
Elodi handelte inzwischen. Sie ließ Tarek von helfenden Händen auf eine improvisierte Bare packen und fortbringen. Anschließend kümmerte sie sich auch um ihren Partner. Erneut tauchte das Paar Schuhe in Kazels Sichtfeld auf. Er schaute empor, doch Elodi war schneller. Schon kniete sie bei ihm, tupfte das Blut mit einem Tuch von seiner Lippe. "Du bist ganz schön hart aufgekommen! Und du siehst ... etwas blass aus. Ist dir schwindlig?" Ihre mutmaßlich auf Sorge geborene Wut schien verraucht. Sie klang sogar fast schon beruhigt. Ein Lächeln kräuselte ihren Mundwinkel, als sie Kazels Kinn etwas anhob, damit ihre Blicke einander kreuzten.
"Übel...", brachte er nur hervor, winkte mit einer Hand aber ab, als wollte er dadurch ein Kopfschütteln andeuten. Es würde vergehen. Er brauchte nur noch einige Moment. "Tarek?", fragte er, denn ihm galt größere Sorge als seiner eigenen Unversehrtheit.
"Wie es aussieht, hat er einige Knochenbrüche und sicher eine Gehirnerschütterung. Aber ... dank dir wird er leben!"
"Du ... hast beide gerettet!" Kazels Blick wanderte weiter. Dunkle Hände streckten sie ihm entgegen. Er brauchte nur zugreifen, um beim Aufstehen Hilfe zu erhalten. Sie gehörten zu den beiden Dunkelelfen, die Miro mit ihm zusammen hatten retten können. Er zögerte nicht, sondern umfasste eine der dargebotenen Hände. Seine Kraft hatte ihn noch nicht verlassen und so kam Kazel rasch wieder auf die Beine. Sofort brandete der Applaus der Umstehenden über ihn hinweg. Zahlreiche Dorfbewohner hatten sich inzwischen auf dem kleinen Platz beim Brunnen versammelt. Sie klatschten Beifall und einige pfiffen sogar ausgelassen.
Kazel blinzelte. Verlegene Röte schoss ihm in die Wangen, als seine Augen über die vielen Leute hinweg schwebten, die ihm applaudierten. Er versuchte reflexartig, diesen Blick auszuweichen, obwohl sich ein sachtes Lächeln auf seine Züge stahl. Dann entdeckte er Miro in der Menge. Er konzentrierte sich auf den Jungen. Sein Lächeln wurde etwas breiter. Natürlich hatte das Kind einige Blessuren davongetragen, aber wie Elodi schon über Tarek kommentiert hatte: Er würde leben. Es hätte alles viel schlimmer kommen können!
Der alte Mann, hinter dem Miro sich halb versteckt hielt, nahm jenen nun an die Hand und trat an Kazel heran. Er dankte Kazel nicht nur, sondern stellte sich auch als Hendrig Wiesenstiel vor, der Gründer der kleinen Graslandsiedlung. Unter ihm scharten sich die ansässigen Landwirte, die Teil der Gemeinschaft geworden waren. Man konnte ihn somit quasi als Dorfvorsteher ansehen.
"Du musst Elodis Gefährte sein! Sie erzählte uns von deinem Vorhaben, herzukommen, doch ich scheine deine Ankunft versäumt zu haben. Verzeih dem alten Narren vor deinen Augen, doch mir ist dein Name entfallen."
Der Mischling schüttelte rasch den Kopf. Das Gespräch lenkte ihn von seiner Übelkeit ab, außerdem fühlte er sich verpflichtet, einige Antworten zu liefern. Deshalb hatten Elodi und er sich schließlich gemeinsam eine Geschichte ausgedacht. Bevor ich sie gekü- Kazels Wangen nahmen erneut eine seichte Röte an. Er versuchte, sich auf die Beantwortung der Fragen zu konzentrieren und das kleine, unbeabsichtigte Missgeschick mit Elodi zu vergessen. Dass sie sich bereits zurückgezogen hatte, bekam er nicht einmal mit. Zu sehr wurde er inzwischen von Hendrig, Miro und den anderen Versammelten vereinnahmt.
"Ihr seid kein Narr", begann Kazel viel zu förmlich und ohne sich dessen bewusst zu sein. Seine Erinnerung stammte aus einer Zeit in Morgeria, bei der jede zu vertraute Anrede ein schnelles Ende hätte bedeuten können. Eigentlich war er doch nur Tod gegenüber per Du gewesen oder hatte es mehr Kontakte gegeben? "Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen." Er schaute nun auch in die Runde, denn es wäre einfacher, je mehr seinen Namen nun aufschnappten. Dann blieb es bei dieser einen Vorstellung und er musste nicht nochmal unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen. "Ich heiße Kazel. Ich bin ... ein Freund von Elodi aus Kindertagen. Die Siedlung hab ich selbst noch nicht richtig begutachten können, weil ... ich meine eigene Ankunft verpasst habe. Ich glaube, Elodi hat mich irgendwo aufgesammelt. Ich bin als ihr Patient hier aufgewacht. Es war nur das Mindeste, dass ich nun ebenfalls aushalf." Er zuckte einmal mit den Schultern, um zu signalisieren, dass es für ihn im Grunde selbstverständlich gewesen war. Nun fühlte wohl Hendrig sich in der Schuld und schob den Jungen mit ein wenig Druck nach vorn.
"Los, Miro! Bedanke dich bei ihm."
"Danke ... Onkel...! Danke, dass du Tarek gerettet hast! U-und dass du mich gerettet hast!"
"Ich bin nur froh, dass es euch gut geht", erwiderte Kazel. Er schenkte Miro ein scheues, aber aufrichtiges Lächeln. Plötzlich wurde seine Hand ergriffen. Auch Hendrig dankte ihm noch einmal. Zugleich hieß er ihn nun offiziell in der Graslandsiedlung Willkommen und als er seine Freude darüber ausdrückte, konnte der Mischling Zustimmung in den Blicken der Umstehenden sehen. Sogar die beiden Dunkelelfen nickten. Kazel kam aus der Verlegenheit überhaupt nicht mehr heraus. Seine Wangen glühten, aber er versuchte auch nicht, es zu verbergen. Vielmehr wirkte er etwas unbeholfen, so im Mittelpunkt zu stehen. Wenigstens hatte sich sein flauer Magen dadurch inzwischen beruhigen können. "Danke", murmelte er, Miro nicht unähnlich. "Ich würde gern Teil der Gemeinschaft werden und möchte mir hier auch eine Bleibe bauen. Bis dahin lässt Elodi mich bei sich wohnen, ich werde also niemandem eine Last sein, außer ihr." Er stutzte im Geist und fügte rasch an: "Aber das kennt sie schon." Dann gluckste er gespielt. So klang es besser. Das würde sein Verhältnis einer jahrelangen Freundschaft zu ihr untermalen und glaubwürdiger machen.
"Sind denn alle in Sicherheit? Was ist mit Barrett? Ich ... ich helfe auch gern beim Wiederaufbau des eingestürzten Hauses. Ihr müsst nur etwas sagen. Handwerklich bin ich zwar nicht allzu begabt, aber ... ich möchte meinen Beitrag leisten, wenn ich mich schon hier einniste. Wenigstens, bis ich etwas gefunden habe, um dem Dorf nützlich sein zu können."