"Pass auf dich auf. Ich liebe dich, Darak!" Liliths Worte hallten noch in Daraks Ohr nach, das keine Taubheitsprobleme hatte. Sie waren das letzte, was er aus Sarma mit sich nahm, als er die silbrige Oberfläche des verzauberten Spiegels durchtrat. Alles verschwamm ihm sofort vor den Augen. Er konnte Rhiven nur noch als schattenhafte Gestalt mit verwaschenen Konturen ausmachen. Ringsum zeigte sich nichts als silbernes Licht. Sollte dies so sein? Ging etwas schief? Es gab keinem Weg, dem man folgen konnte, aber auch kein Zurück mehr. Hinter ihm prasselten plötzlich unzählige Splitter zu Boden. Der Durchgang, der rettende Weg zurück nach Sarma, zerfiel, als hätte jemand den Spiegel zerbrochen. Die Splitter wurden vom silbrigen Licht aufgenommen, verschmolzen damit und blieben verschwunden. Ebenso stand es um Daraks Füße und die Enden seiner Krücken. Wenn er zu Boden sah, war da nur dieses silbrige Licht.
Wie ein Echo aus weiter Ferne drangen Rhivens Worte an sein Ohr: "Das war eine Falle!" Im ersten Augenblick hatte es auch den Anschein. Selbst im zweiten, als das Licht endlich nachließ und weitere Konturen der Umgebung sichtbar wurden. Wo bis eben noch Silber vorherrschte, da fanden sich Darak und Rhiven auf einer Art schwebendem Plateau aus schwarzem Gestein wieder. Kein Himmel zeigte sich über ihnen, kein Boden unter ihnen. Sie schwebten in einem Raum aus schwarzen Wolken, die mit roten Blitzen gefüllt waren und die Umgebung in stetiges Donnergrollen hüllten. Jedes Mal, wenn ein Blitz im Inneren der Wolken aufkrachte und sich seinen Weg als zackiger Lichtzweig nach außen bahnte, so erhellte sich auch die Umgebung kurzzeitig. Alles glühte wie unter einem rötlichen Filter und in der Ferne zwischen den Wolken ließen sich weitere steinerne Plattformen ausmachen. Sie alle schwebten, trieben einfach im Gewitternichts vor sich hin.
Wo hinter ihnen noch die andere Seite des Spiegels hätte sein müssen, da fand sich nichts außer sich empor reckenden Gesteinsbögen. Wie zwei Krallen aus schwarzem, scharfkantigem Fels reckten sie sich am Rand der Plattform in die Höhe, berührten einander nur an den "Fingerspitzen" und hinterließen den Eindruck eines Torbogens ins Verderben. Aber von ihnen ging nicht wirklich Gefahr aus. Da war das Wesen, das sich mit Elf und Mensch auf dem Plateau befand, weitaus furchterregender. Etwa auf halber Strecke zum anderen Ende der Plattform befand sich ein gewaltiges Geschöpf und obwohl es hockte, überragte es Darak und Rhiven doch um mehrere Köpfe. Mindestens zwei einhalb Meter musste es groß sein, ein muskelbepackter Berg aus grauer Haut, der sich so nur mäßig vom steinernen Untergrund abhob. Auf den ersten Blick war dieses Wesen nackt, doch zierten schwarze Schuppen aus demselben Stein wie jene Plattform seinen Körper im Lendenbereich und auch an den Ellenbogen. Zwei armlange Hörner wuchsen in geschwungener Form aus der Stirn der Bestie, weitere vier kleine Zacken reihten sich bis zu den mehrfach gelappten Ohren. Jene erinnerten an Fauchs Drachenflügel und auch diese Bestie besaß derlei Schwingen. Sie hatte sie angezogen, dass es an zusammengeklappte Fächer erinnerte. Ein langer, glatter Schwanz peitschte unruhig über den steinernen Untergrund und stellte sofort ein Hindernis zum anderen Ende dieser kleinen schwebenden Welt dar. Warum aber sollte man ausgerechnet die Gefahr auf sich nehmen, von diesem Ungeheuer entdeckt zu werden, nur um auf die andere Seite zu gelangen?
Rhiven zeigte es Darak, als er mit ausgestrecktem Finger jenseits des Monsters deutete. "Schau", machte er den Helmlosen auf sich aufmerksam. "Ob wir dort hindurch müssen?" Am anderen Ende der Plattform war ein steinerner Bogen zu sehen, gleich dem hinter Darak und Rhiven. Der Unterschied bestand darin, dass die Fläche, die beide Felssäulen einrahmten, vom schimmernden Silber durchzogen war. Die Oberfläche schillerte immer wieder in allen Regenbogenfarben, wenn die Blitze der Umgebung den merkwürdigen Himmel erhellten. Mehr als diesen kuriosen Durchgang gab es auf der Plattform nicht, abgesehen von dem Onster, das den beiden Männern glücklicherweise noch immer den Rücken zukehrte und ins Nichts starrte.
"Uns bleibt keine Wahl", raunte Rhiven in Flüsterstimme. "Das muss der Spiegel sein, durch den wir ans Ziel kommen. Ich bezweifle, dass wir uns mit dieser Bestie anlegen sollen, um nach Morgeria zu kommen." Es schien wirklich besser, des Drachenartigen Aufmerksamkeit nicht zu wecken. Doch Rhiven setzte sich noch nicht in Bewegung. Tatsächlich unterstellte er sich still schweigend Daraks Führung. Darak, dem Krüppel. Darak, der gewiss Schwierigkeiten haben dürfte, über den ledrigen Schwanz des Dämonenviechs zu gelangen.