Auf Kazel wartete hingegen eine unendliche Karriere als Mitarbeiter des Todes persönlich, bis er eines Tages einen ebenbürtigen Platz an dessen Seite einnehmen würde. Ob er ihn auf Celcia ersetzte? Schwand der Gevatter dann? Darüber hatte Kazel sich noch keinerlei Gedanken gemacht und nun war auch nicht die Zeit. Er wusste, dass er sich auf Janay konzentrieren musste und im Grunde auf so viele Dinge, sie am Leben zu halten. Doch seine Seele hatte viel mitgemacht. Das Leben selbst personifiziert vor sich zu sehen, hinterließ einen tieferen Eindruck als es die Götter könnten und wer konnte schon von sich behaupten, mit jenen einen Blickaustausch oder einen Wortwechsel geführt zu haben? Allein auf seinen Schultern aber wog die Bürde, Schüler eines höheren Wesens zu sein, mit einer Göttin einen Pakt geschlossen zu haben und überhaupt irgendwie in der Gunst sämtlicher Gottwesen Celcias zu stehen. Darüber hinaus aber hatte er das Leben gesehen, leider nicht in all ihrer Schönheit. Er hatte grausame Wahrheiten erblicken müssen. Zu viel für seine Seele und so klaubte sie die Scherben auf, die Angst hatten, überhaupt jemals wieder Lebendiges sehen zu wollen. Trotzdem klammete sie sich an ihnen fest. Er klammerte an Janay.
"Bleib am Leben..."
"..."
Hatte er ihr es gesagt? Sein Geist war vollkommen benebelt. Zugleich war sein Sichtfeld auf einen dunklen Tunnel beschränkt, in dem er nur noch Janay sah. Er hörte dumpf Geräusche um sich herum, aber konnte sie nicht einordnen. Das Leben ... zog an ihm vorbei. Kazel konnte es nicht halten und so quetschte er Janays Hand nur noch fester, bis seine Muskeln zitterten. Es war das einzige, zu dem er in der Lage schien. Hopp hatte die Bestätigung irgendeiner Gerätschaft neben ihm übernommen und er bekam es nicht einmal mit. Er sah am dunklen Rand des Tunnels immer wieder Oriel und Orima werkeln. Er sah Blut. Nichts davon erreichte sein Denken. Sein Verstand arbeitete sich durch alles, was er Janay sagen wollte. Sie musste schon reichlich genervt sein, weil er sie mit so vielen Worten überhäufte.
"..."
Er gestand ihr immer wieder seine Liebe und dass sie auch nicht abnahm, nur weil Janay sie nicht erwidern konnte. Er wollte nicht, dass sie sich deshalb unter Druck setzte, sondern nur, dass sie wusste, nicht allein zu sein. Er würde für sie da sein und für die Kinder, für ihre Schwester. Er wollte ihnen ein besseres Leben ermöglichen, weil sie das seine ebenfalls besser gemacht hatte. Er erinnerte sie daran, wie er nicht ein Gefühl hatte zulassen können und durch den Verlust seiner eigenen Seele und Raxtian Tausendtod samt seiner Taten nur noch schrecklicher geworden war. Das dunkelelfische Monstrum hatte ihn zum Werkzeug gemacht, hatte ihn verändert. Kazel trug doch heute noch ... Was? Raxtian hatte irgendetwas Schlimmes mit ihm angestellt und dafür hatte er dessen Gehilfin Juduka ermordet. An seinen Händen klebte so viel Blut, weil er nicht besser war als all die Dunkelelfen, die nun versuchten, aus Celcia einen Albtraum zu formen! Nur Janay hatte mehr in ihm gesehen. Genug, dass sie ihm schwanger nachgereist war, um ihn nicht in einen Krieg ziehen zu lassen, der nicht seiner war. Sie sah weder sein Blut, noch sein morgerianisches Erbe. Sie hatte immer nur ihn gesehen und ihn verzaubert, verführt mit ihrer eigenen Schönheit.
Kazel erzählte ihr von ihrer gemeinsamen Zeit. Sie musste ihn doch hören!
"..."
Er hörte etwas. Er hörte ein leises Flüstern und eine Geschichte. Janays siebter Geburtstag. Eine Geschichte über exotische Früchte in einem Kuchen, zusammen mit Nüssen. Warum erzählte er das, wenn er sich nicht erinnerte? Er kannte Janay noch nicht so lange und bestimmt nicht, als sie beide sieben waren. Da war er ein Kind gewesen, lange bevor sein Schicksal düstere Pfade eingeschlagen hatte. Wie konnte er ihr das erzählen? Er hatte es nie mit ihr erlebt! Aber die Geschichte klang wundervoll, tief aus dem Herzen und so war. Jetzt wünschte er sich, es wäre seine eigene, mit ihr geteilte Erinnerung.
"... leb ... du musst ... wach werden ... Damit ich dir einen Kuchen backen kann."
Jemand umfasste seine andere Hand. Die Berührung war kaum wahrnehmbar und doch flutete sie Kazel wie nichts Anderes in dem Raum. Hielt Janay seine andere Hand? Sie war warm und weich, mit filigranen Fingern.
Kazel erwiderte Arinas Blick nicht. Er wirkte teilnahmslos und abwesend wie ein Geist, der das Geschehen im Reich der Lebenden beobachtete. Wie der Gevatter, der am Rand der Zeit stand und darauf wartete, seine Pflicht zu tun. Er beobachtete das Leben, sehnte sich danach und fürchtete es zugleich. Er ... vermisste es in all ihrer Skrupellosigkeit und Grausamkeit ihrer selbst gegenüber. Er vermisste ihre Schönheit und was sie spendete, damit Dinge ... lebten.
Kazels Finger schlossen sich um die der Maclyn-Schwester. Sein Griff war nicht fest, aber er erwiderte ihn wenigstens. Darüber hinaus konnte ihr Liebster leider nur wenig dazu beitragen, Janay am Leben zu halten. Wo Arina wenigstens mit ihr sprach, brachte er mit Mühe und Not lediglich noch einmal seine Bitte an sie heraus: Leb. Sie sollte bitte leben. Was sich in seinem Geist abspielte, bekam nicht einmal er selbst noch wirklich mit. Dort wirbelten die Gedanken und Erinnerungen umher, aber es gelang ihm nicht, sie in Worte zu fassen und mit seinen Lippen und der Zunge zu formen. Beides fühlte sich schwer, taub und fremd an. Dass überhaupt Zeit verging, bemerkte er selbst nur daran, dass seine Kräfte schwanden und Erschöpfung zunahm. Irgendwann schnappte er einige Wortfetzen davon auf, in der Ferne Erholung zu suchen und auch, dass niemand in Morgeria leben wollte. Das war das erste Mal seit langem, dass Kazel zusammenzuckte und auf eine Umwelt einging: "Aber sie muss leben! Ich will sie nicht holen!", keuchte er und lenkte den Blick mit flackernder Wut auf Oriel. Dann huschten die Pupillen aber fahrig an dem Heilkundigen vorbei, als suchten sie in der Anwesenheit des Gevatters die düstere Gewissheit, dass Kazels nächste Pflichterfüllung seiner Liebsten gelten könnte.
Janay wurde gedreht, Kazel umher bewegt. Er taumelte, stolperte durch das Leben und blickte dann in die schwarzblaue Nacht, deren Sterne sich verborgen hielten. Wie oft hatte er sie im weichen Gras der Stillen Ebene beobachtet. Er fand Frieden darin. Arinas Finger angelten erneut zögernd nach seinen und dieses Mal griff er von sich aus zu. Sie musste ihre Hand nicht erst in seine legen. Er hielt sich nicht nur an Janay fest, sondern auch an ihrer Schwester.
Zeit setzte sich fort. Niemand kam. Der Gevatter hielt sich zurück. Kazel hielt sich auf den Beinen und er und Arina hofften, dass Janay sich am Leben festhielt. Der Mischling fühlte sich wie ein einziger Muskelkrampf an. Alles an ihm war angespannt, aber er wagte nicht, sich selbst ein wenig Ruhe zu gestatten. Er war unendlich müde, doch größer noch war seine Besorgnis. Janay hatte sich immer noch nicht gerührt. Er harrte aus. Er ließ ihre Hand nicht los. In Gedanken wiederholte er ständig das Erlebte mit ihr, das sich in seine Erinnerungen genistet hatte. Seine Worte jedoch waren seit einiger Zeit gänzlich verstummt. Dafür verfeinerte sich endlich wieder seien Wahrnehmung. Er hörte.
"Sie ist ... wieder ... ganz gesund. Ich ..." Kazel wandte den Kopf um. Er sah Orima, die die fromme Nachricht verkündete. Er sah sie von der Bare fort und in die Arme ihres Bruders taumeln. Jener führte sie zu einer Matratze, wo er sie ablegte. Liegen. Sie durfte sich ausruhen.
"... Danke...", wisperte er und wollte ihr am liebsten folgen. Dass Manthala ihn früher oder später holen würde, hatte er für den Moment vergessen. Hoffentlich dachte Hopp daran, denn jetzt begann die Zeit der Nachbehandlung und jemand müsste über Stunden hinweg für ihn einspringen. Wer könnte das sein? Während Kazel noch darüber nachdachte, begleitete er Janay in teilnahmslosem Zustand. Er nahm nicht wahr, dass Arina einen anderen Weg ging. Er konnte nicht verarbeiten, wohin man ihn und seine Liebste führte.
Irgendwann fand er sich sitzend wieder. Seine Finger hielten weiterhin an Janays Hand fest oder war es längst seine eigene geworden? Waren sie miteinander verschmolzen? Das müsste bald geschehen, sobald sie sich regte. Etwas klopfte in Kazels Hinterkopf. Er hob den Blick leicht an, um die Quelle auszumachen, denn das Geräusch drang von außen an seine Ohren und nicht von innen in seinen Geist. Holz knarrte, dann nahm er Schritte war, zusammen mit der Frage, ob Janay sich schon geregt hätte.
Kazels Schweigen war dem Fragenden wohl Antwort genug. Der Mischling hörte ers Schritte auf sich zukommen, dann erkannte er schlanke, fast schon galante und dennoch kräftige Füße, die die Gestalt auf dein Beinen hielten, wo er nur noch sitzen konnte. Aber er würde nicht loslassen. Er würde Janays Hand - seine Hand - weiter halten. Sie war sein Leben. Sie - er - musste doch leben...
Kazel kehrte zurück und das erste, was ihn in seiner Wahrnehmung begrüßte, waren die dunklen Konturen des Pfauenelfen. Zissus kniete vor ihm, zog ihn alsbald in seine Arme. Angenehme Wärme, aber nicht nur von einer Hand ausgehend. Sie verteilte sich auf seinen gesamten Leib und lockerte die Anspannung seiner Muskeln, dass alles in ihm brannte. Kazel keuchte unter dem Schmerz auf, den eine Rückkehr ins Leben verursachte. Zissus kühlte den Schmerz ab, als er Kazels Gesicht mit beiden Händen umfasste. Die meerblauen Augen des Mischlings fanden wieder einen Fokus. Er erwiderte Zissus' Blick. Dann schloss er die Lider auf den Kuss des anderen gegen seine Stirn hin, ganz so als wüsste er, dass im Anschluss die Augen folgten. Ehe der andere seinen Mund erreichte, gelang es ihm endlich seit langem, die Lippen bewusst zu formen. Ein Kuss folgte, flüchtig und sanft. Er leitete Kazel an, zeigte ihm wie man Worte bildete."Ich liebe dich..." Er öffnete seine Augen, betrachtete seinen Freund, aber er hielt weiterhin die Hand der Schlafenden. "Janay..."
Zissus nickte und löste sich. Kazels Blick weitete sich kurz und er verfolgte die Bewegungen des Dunkelelfen, aber jener ließ sich nur auf der anderen Seite des Bettes nieder. Das Bett, in dem seine Liebste noch immer schlief. Seine Liebste, deren Hand er hielt. "Janay ... lebst du noch?" Zissus legte seine Finger auf ihren Bauch. Kazel ahmte die Bewegung nach. So verflocht er erneut seine freie Hand mit der einer anderen, aber Janay ließ er nicht los. "Ich werde dich nie wieder loslassen. Du ... hast mich auf ewig an den Hacken." Seine Mundwinkel zuckten, für ein Schmunzeln reichte es aber nicht. Noch nicht. Doch es war ein großer Schritt. Ein Schritt zurück ins Leben. Kazel fühlte sich, als hätte er eine Barriere eingerissen, die mit Dornen und allerlei Angst einfloßenden Schrecken gespickt gewesen war. Er hatte den Schmerz gefühlt, der ihn hatte ausbluten und taub werden lassen, aber von jenseits der Mauer hatte Janay ihm stets eine Hand gereicht. Und dann war Zissus aufgetaucht, um seinen Körper über den Rand zu ziehen. Jetzt war diese Barriere eingestürzt. Kazel blieb davon nicht unverschont. Seine Seele hatte gelitten, er war verwundet worden, aber ... er lebte. Wieder. Immer noch.