Sarin stand an ihrem großen Zeichenpult und schaute nachdenklich auf ihre Notiz, die sie sich vor einigen Monaten dort angeheftet hatte. Manche der Kunden formulierten ihre Wünsche in unterschiedlichen Maßen, benutzen unterschiedliche Worte und so war es hilfreich geworden so viel wie möglich darüber heraus zu bekommen. Der kleine Zettel wies folgende Information aus:
1/2 Kilogramm = 1 Pfund 100 Pfund = 1 Zentner 2 Zentner = 1 Doppelzentner 4 Gerstenkörner = 1 Querfinger 30 Finger = 1 Fuß 2 Fuß = 1 Elle 4 Fuß = 1 Aune |
Sarin schob eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr.
Das kleine Fräulein Imelin wünscht sich eine zwei Aunen lange Schleppe an ihrem Kleid. Eben genau so wie ihre Oma eine hatte! ... Hm ...Ich brauche also vier Ellen Seide und bestimmt ein Pfund von den kleinen Perlen, die sie so liebt. Die Spitze muss ja verziert werden, genauso wie der Halsausschnitt...
Das Kind, für das sie im Moment ein neues Kleid nähen sollte, war milde gesagt, ein kleiner Despot. Ihre Amme hatte Sarins vollstes Mitgefühl und auch die Eltern schienen mit dem verwöhnten Mädchen etwas überfordert.
Eine Schleppe für ein so kleines Mädchen... sie wird drüber fallen und dann ist das Geschrei groß. Ich muss mir was einfallen lassen, damit sie ihren Willen bekommt, aber das Kleid so schneidern, dass ...ja, das man die Schleppe hoch binden kann... Ich glaube, hab da auch schon eine Idee...
Und damit griff sie nach einem Stift und skizzierte die nötigen Raffungen, die die viel zu lange Schleppe auf ein gesundes Maß reduzieren ließ. Versteckt auf der Innenseite des Kleides würde sie Schlaufen anbringen, die man dann im Abstand von einem halben Fuß zusammen ziehen konnte. Wie bei einer gerafften Gardine ließe sich dann die Schleppe zusammen ziehen, der Stoff würde hübsche Wellen werfen und alle waren hoffentlich zufrieden. Die teuren Perlen machten Sarin noch etwas Bauchschmerzen und von ihren Kunden einen Vorschuss zu verlangen, widerstrebte ihr schon ein wenig. Doch Imelin war schwierig. Wenn sie heute Perlen wollte, dann könnten es morgen auch Schleifen oder Diamanten sein – nicht, dass die Familie es sich nicht leisten konnte, aber ein Kind mit Edelsteinen zu behängen, bedeutete auch oftmals den Verlust eben jener Kostbarkeiten.
Wenigstens wusste Sarin inzwischen mit dem kleinen Wirbelwind umzugehen. Wenn sie merkte, dass man etwas vor ihr versteckte, dann wollte sie es um so mehr. Also hatte Sarin schon des öfteren zu kleinen Trick gegriffen um das Mädchen bei Laune zu halten. Sie hatte die hellblaue Seide ganz „zufällig“ an ihr vorbei getragen und gemeint, dass sie schon für eine andere Dame zurück gelegt worden sei. Prompt wollte Imelin unbedingt alles in hellblauer Seide, statt in Scharlach Rot, wie es erst ihre Idee gewesen war. Ihr nächstes Treffen drehte sich dann um die Applikationen und da konnte Sarin ihr mit einer Geschichte über sagenumwobene Meerwesen die günstigeren kleinen Perlen schmackhaft machen, statt der deutlich teureren Saphire. Imelin war nicht einfach, aber wenigstens auch nicht bösartig. Da hatte Sarin schon ganz andere Kundschaft gehabt. Selbst ihre eigene Cousine konnte zuweilen ein kleines Biest sein. Einmal war sie mit ihren Freundinnen bei Sarin erschienen und sie hatten sie im Wechsel fast zwei Tage am Stück wach gehalten. Als sie dann unaufmerksam wurde, hatte Lucil dann regelrecht vorgeführt. Sie erinnerte sich an den herablassenden Ton:
„Ich will den Ballen da oben mir mal ansehen!“
Sarin kletterte müde wie sie war auf die Leiter und zog an dem schweren Ballen.
„Nu mach schon! Wir haben ja nicht die ganze Nacht Zeit! Aaaah, pass doch auf du Tölpel!“
Sarin war der Ballen entglitten und ihrer Cousine vor die Füße gefallen.
„Hier wird man ja vom Personal erschlagen! Kommt! Lasst uns gehen! Das wird hier heute ohnehin nichts mehr!“
Lucil war gegangen und ein paar Stunden später wieder gekommen um nach ihr zu sehen. Wenn sie alleine waren, dann war sie viel netter und redetet ihr gut zu, brachte ihr auch mal Kleinigkeiten zu essen mit. Dieses Mal entschuldigte sie sich sogar dafür, dass sie in Anwesenheit ihrer Freundinnen so eine Nervensäge gewesen war.
„...aber du willst es ja so.“
Ja, sie wollte es so und Lucil war Sarins Meinung nach auch eigentlich eine ganz liebe Person. Manchmal schlug sie über die Stränge und konnte auch unhöflich sein, aber das gehörte schließlich zu ihrem Stand, dass verstand auch Sarin. Jeder musste seine Rolle spielen. Ihr eigenes Leben war ohne den hohen Stand viel einfacher geworden. Die Spiele des Adels streiften sie nur am Rande und darüber war sie auch glücklich.
Sarin schüttelte die düsteren Gedanken ab, konzentrierte sich noch einmal auf die Raffung und betrachtete dann wohlwollend ihr Werk. Der Plan stand und musste nur noch umgesetzt werden. Das beste war, dass sie dieses Mal nicht einmal Imelin mit einbeziehen musste. Die „Notfalllösung“ für das Kind war gut zu verstecken. Sie musste sie nur der Amme mitteilen und einmal zeigen, wie es ging. Lächelnd betrachtete sie die Skizze, dann ging sie zu ihrem Sofa hinüber und setze sich einen Moment. Auf dem kleinen Beistelltisch stand eine Karaffe mit Wasser, in der ein paar Blätter Höhlenminze schwammen. Sie trank ein paar Schlucke und betrachtete sich dabei selbst in dem großen Spiegel, den ihr der Palast für die Anproben gestiftet hatte.
Die Frau im Spiegel sah sie aufmerksam, mit einem feinen Lächeln um die sanft geschwungenen Lippen an. Die mandelförmigen Augen lächelten und eigentlich fand sie sich ganz ansehnlich. Die Haare waren streng nach hinten gekämmt, bis eben auf diese eine Strähne, die sie mal wieder einbinden sollte. Sarin stand auf und trat näher an den Spiegel. Sie löste ihr Haar, dass ihr dann lang und weich bis kurz über den unteren Rückens fiel.
Einen Moment betrachtete sie ihre wallende Mähne und fühlte sich an zärtliche Stunden erinnert, in denen eine männliche Hand die offenen Längen berührt hatten. Stunden die so lange her waren, dass die sanften Berührungen schon fast wieder ganz vergessen waren. An IHN wollte sie sich nun wirklich nicht erinnern! Abermals schüttelte sie leicht den Kopf und steckte dann ordentlich wieder jedes Haar dort hin zurück, wo es hin gehörte. Kunstvolle Frisuren zogen zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Person und gehörten sich auch nicht als einfache Schneiderin. Sarin strich ihr schlicht, aber elegant geschnittenes silbergraues Kleid glatt. Die Runen Fehu (Bedeutung: Besitz
Wirkung: hilft bei Geschäften, Verhandlungen) und Ansuz (Bedeutung: Inspiration
Wirkung: hilft bei mangelnder Inspiration) begleiteten sie schon seit langem und die Stickereien, aus denen sie gefertigt waren, zierten den gleichfarbig den Rand ihres Gürtels. So waren sie kaum zu sehen, aber doch fein vorhanden.
Sarin ging zurück zum Pult und widmete sie sich wieder ganz ihren Skizzen. Solange sie daran arbeitete, solange war die dicke Deckplatte zurück geschlagen, die mit zwei Vorrichtungen sogar verschlossen werden konnte. Solange sie nicht im Anwesen der Stadtherrin war, so musste sie schließlich dafür sorgen, dass niemand an ihre Entwürfe heran kam, selbst wenn es nur Rohskizzen waren. Sie hatte schon oft die neugierigen Blicke abwehren müssen, die manche der Kunden an den Tag legten um ihre Freunde und Feinde auszuspionieren. Es gab einen Schlüssel für den Deckel, einen versteckten Hebel, den man tätigen musste und natürlich hatte Sarin einen Schlüssel für diesen Raum. Doch sie wusste auch, dass Schlösser zu knacken waren, also hatte sie sich noch eine vierte Sache ausgedacht, damit sie wenigstens merkte, wenn jemand an ihren Sachen gewesen war. Sie legte jedes Mal einen kleinen dünnen Seidenfaden zwischen Deckel und Platte und das jedes Mal an eine andere Stelle. Beim öffnen fiel er heraus, wenn man nicht wusste, wo er steckte. Sie hatte auch schon darüber nachgedacht, ob sie einen noch unbehandelten Seidenfaden dafür von den spinnen nehmen könnte, denn diese waren fast durchsichtig und noch leicht klebrig. Wer sich dann an ihren Sachen zu schaffen machte, den könnte sie so überführen... Aber bisher war das nur ein Gedanke geblieben. Heute drängten sich wieder andere Aufgaben auf. Weitere Aufträge standen nun an, kleine Reparaturen und wer wusste schon, wer als nächstes durch die Tür kommen würde.