"Nun mal langsam...", mischte sich ihr Begleiter, Bramo, ein. Bisher hatte er geschwiegen und auch nicht eingegriffen, als Kazel Nell an der Schulter berührte. Dass sie sich seinem Vorhaben nun aber doch zur Verfügung stellen sollte, passte ihm gar nicht. "Müssen ist ein großes Wort. Wir wollten selbst..."
"Ist es", bestätigte ihm der Mischling und kramte nach den Unterlagen aus dem Haus des Sammlers. Die Hoffnung ließ ihn nicht los. Janay hatte dran gedacht, ihm die Notizen zuzustecken und sie waren noch immer versiegelt. Seine Liebste vertraute ihm und hatte trotz möglicher Neugier keinen Blick darauf geworfen. In Kazels Herzen breitete sich eine Wärme aus, als hätte Nell erneut die Geige angestimmt. Wie oft war er in dieser Hinsicht schon getäuscht worden? Oft genug, dass auch er sich diese Verhaltensmuster unbewusst angeeignet hatte. Auch er hatte schon viele verraten. Dass ausgerechnet Janay ihm nun aufzeigte, dass es auch anders funktionierte, weckte erneut seine Liebe für diese Frau. Er lächelte und schaute auf, direkt in Bramos Gesicht. "Ich wünschte, ich müsste nicht..." Dann breitete er alles Schriftliche auf dem Tisch aus. Er zeigte Aufzeichnungen der Apparaturen mit allerlei Notizen, die viel zu stark ins technische Detail gingen, als dass ein Außenstehender die wahren Hintergründe würde verstehen können. Auch Kazel konnte sich nur ein grobes Bild machen. Angesichts seiner und Nells Beschreibungen genügten die Informationen jedoch, um zu ahnen, dass hier etwas absolut Grausiges vor sich ging.
Leider wollte Nell nach wie vor nichts mehr davon wissen. Sie hatte sich unbemerkt einen Weg in Sicherheit gebahnt und wühlte nun in Lumpen, Kisten und Schränkchen herum. Sie ging überhaupt nicht mehr auf Kazel ein, schmetterte seine Worte lapidar ab und schien sich auch nicht mehr an den Namen erinnern zu wollen, den sie im Ansatz bereits selbst und vor allem zuerst genannt hatte: Serunda Belyal Sinth. Jener Name, der als Unterschrift auf einigen der Briefe und Notizen zu finden war. Nell wusste mehr, davon war Kazel überzeugt. Dass sie und ihr Gefährte hier waren, während er und Kuralla den Sprung durch Raum und Zeit gewagt hatten, konnte kein Zufall gewesen sein! Er brauchte Antworten. Er musste sie erhalten. Er musste...
"Und ich muss baden!!!"
Kurallas Ausruf kam mit reichlich Mundgeruch, sowie an unpassender Stelle. Er lenkte zusätzlich vom Ernst der Lage ab, während der Gestank die Hoffnungsmelodie aus den Herzen jagte. Ohja, die Alte brauchte definitiv ein Bad. Man würde sie meilenweit riechen, aber ließ sich diese Schicht von ... Jahrhunderten? Wie alt mochte Kuralla sein? Ließ es sich überhaupt abwaschen? Nun, sie schien überzeugt. Außerdem nutzte sie das Offensichtliche bereits, um ihre Argumente zu festigen.
Kazel seufzte tonlos. Er stand hier auf verlorenem Posten. So beugte er sich allein über die Unterlagen, als könnte er ihnen plötzlich eine rettende Antwort entnehmen. Ich krieg das zur Not auch allein hin ... ich muss. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Er konnte nicht. Er hatte bereits zu viel geopfert. Außerdem würde er die Bilder, die er nicht sähe, weniger ertragen können, denn Vorstellung war der beste Künstler. Auf seiner Leinwand zeichneten sich größere Schrecken als es die Realität in der Lage war zu präsentieren. Fantasie war stets mächtiger. Er wollte keine Bilder von Frauen malen, die keine Hoffnung mehr hatten. Er wollte ihre Hoffnung sein, ihr Leid beenden und ihre Bilder - ihre realen Bilder - als Erinnerung mit sich tragen, wenn es nicht anders ging. Alles war besser als das Wissen, sie ihrem Schicksal zu überlassen, wo er etwas hätte unternehmen können. Nein, das ertrug seine Seele nicht. Nicht mehr. Er war längst nicht mehr der selbst ernannte graue Elfenmischling, der neutrale aus der Ferne, der Wanderer der Stillen Ebene, welcher sich aus allem heraus hielt. Selbst wenn die Statistik bewies, dass ihm jegliche Einmischung seinerseits nur Ärger eingebracht hatte ... und eine neue Liebe ... er würde sich nicht abwenden. Sein Meister ließ auch keine verlorene Seele im Stich. Selbst der Tod hatte darum gekämpft, das Gleichgewicht wieder einzubringen und dem dämonischen Wurm sein Handwerk zu legen. Nicht einmal er war unparteiisch, auch wenn er Neutralität auszustrahlen versuchte. Kazel war der beste Beweis. Er war sein Geselle, seine ... Gesellschaft!
Kazel blickte auf, als Nell einen Laut der Ablehnung ausstieß und sich dann an ihn wandte. Verwirrt betrachtete er sie. Er hatte vollkommen den Fokus des Gesprächs verloren. "Nein! Versteh mich bitte nicht falsch, Kazel ... ich ... ehm..." Weiter kam sie nicht. Kuralla riss sich Bramo unter den Nagel und zerrte ihn mit sich. Er würde die Goblin-Oma baden müssen. Er trug von ihnen nun die schwerste Bürde. Vielleicht erlöste ihn ein Gott und ließ ihn vorab erblinden, aber Seife und Lappen müsste er dennoch führen. Blind würde er herausfinden müssen, ob er nur die Schmutzkruste aus einer Hautfalte kratzte oder sich in die falschen Gefilde verirrte. Wenn Kuralla gierig stöhnte, würde er seinen Fehler erkennen ... und sich dann die Finger abtrennen müssen. Doch es war zu spät. Nicht einmal Nells Protest hielt eine stinkende Vettel wie Kuralla noch auf.
Kazel schaute ihr und ihrer Beute noch nach. Dann waren Nell und er auch schon allein. Seine blauen Augen richteten sich auf die Elfe aus.
"Himmel! DU!"
Er zuckte zusammen und erwiderte das Grinsen dann mit einem verlegenen Schmunzeln. Gleichzeitig mit Nell stieß er eine Entschuldigung aus. Ihre nahm er mit einem Nicken an. "Ich war in Gedanken. Es ... gibt viel zum Nachdenken für mich und noch mehr zu erledigen." Sein Blick wanderte wieder auf die Notizen. Das schwache Lächeln verlor sich. Wem machte er etwas vor? Er war so unvorbereitet nach Andunie gesprungen, hatte keinen wirklichen Plan gemacht, wie er es hier angehen wollte und stand nun hier vor einem Haufen an Informationen, der ihm so fremd war wie Kuralla ein Duftwässerchen. Wie sollte das hier funktionieren?!
"Verdammt ... ich komm wohl nicht drumherum, was?"
Wie schaffte es eine fremde Elfe allein, ihm derart viel Hoffnung zu schenken? Erst mit der schönen Geige und ihrer noch schöneren Melodie und nun durch eine einzige Erkenntnis. Wiederholt sah er auf, als sie sich dem Tisch näherte. "Ich wünschte, ich könnte es dir abnehmen. Aber ich will versuchen, dich nicht mehr zu belasten als notwendig. Doch ohne deine Hilfe komme ich wohl nicht weiter." Immerhin schaute sie sich die Papiere nun selbst an, kommentierte einige Bilder davon. Die Aufzeichnungen, vor allem die Bilder der Apparaturen, gingen ihr sichtlich durch Mark und Bein. Sie schüttelte sich sogar.
"Das da ... sieht ... sieht ... ähnlich aus und ... oh mann ... ich glaube, die Nüsse waren schlecht, mir ist ... ich hab Bauchschmerzen." Kazel umrundete den Tisch, wollte schon nach ihr greifen, um sie im Fall der Fälle zu stützen. Er mochte mit seinen Worten vorhin sehr direkt gewesen sein, aber er war kein Unmensch ... kein Unelf. Dass es Nell dermaßen zusetzte, sorgte ihn. Doch sie behielt den Blick noch auf dem Papier. Außerdem erklärte sie, dass sie ähnliche Apparaturen gesehen hatte, aber keine amputierten Frauen. Sie beschrieb ihre Bewegungen und Verhaltensweisen wie eine Art Trance und der Mischling erstarrte. "Haben sie sich benommen wie wandelnde Tote ohne jeglichen Lebenswillen? Wie ... Hüllen ihrer selbst?", fragte er nach und man konnte ihm anhören, dass ihm diese Umschreibung ebenso vertraut schien wie die Schreckensbilder, mit denen er offenbar ebenso wie Nell zu kämpfen hatte. Er hatte noch mehr gesehen als sie. "Nell ... gab es da irgendwo einen Kristall? Oder irgendetwas, das wie ein Behältnis für ... Sand aussah? Hast jemand von einem seltsamen Wurm gesprochen?" Kazel unterdrückte aufsteigende Panik, sandte die mögliche Information aber sofort an seinen Meister. Selbst wenn der Gevatter aufgrund seiner üblichen Pflichten nicht sofort antworten könnte, so würde er ihn hören. Er hörte immer seine Gedanken, das hatte er zuletzt bei seinem vermasselten Stelldichein mit Janay bestens bewiesen. Gibt es mehr als einen Dämonenwurm? Der Mischling weigerte sich, seinen Namen jemals wieder auch nur zu denken. Könnte noch einer in Andunie sein? Stehlen sie hier ebenfalls Zeitensand? Dann ist es auch deine Angelegenheit. Dann habe ich ein Recht darauf, deine Gaben als Hilfsmittel zu nutzen - für das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod. Nicht, dass er erpicht darauf war, die Macht des Todes einzusetzen, aber es wäre hilfreich, wenn er zwischendurch eigene Lebenszeit opfern könnte, um jene Celcias anzuhalten. Vor allem dann, wenn er erneut vierzig mal vierzig Frauen würde umbringen müssen... elf Minuten hatte es ihn gekostet. Elf Minuten seines eigenen Lebens.
Erneut lenkte Nell ihn ab, holte ihn zurück aus seinen Gedanken. Oh, er grübelte zu viel, aber die Situation war heikel und er fühlte sich von den neuen Erkenntnissen etwas in die Ecke gedrängt, fast machtlos. Das hieß nicht, dass er aufgab. Noch immer schwang ein Rest Hoffnung in seinem Geist, eine sanfte Melodie, die sich über aufkommende Ängste stülpen würde. Sie umarmte ihn und ließ ihn wissen, dass er nicht vollkommen allein war. Er hatte Hilfe.
Auch Nell wollte sich nicht alleingelassen fühlen. Sie ging mit ihrer Umwelt weitaus offener um als Kazel es tat. Sie besaß auch keinerlei Berührungsängste wie es schien. Sie brachte ihn sogar erneut knapp zum Schmunzeln, denn ihre Frage amüsierte ihn irgendwie. "Drückst du mich mal?"
"Du willst den Tod umarmen?", stellte er eine Gegenfrage. Natürlich war das viel zu hoch gestochen. Er war nicht der Gevatter - noch nicht. Noch war er nur sein Lehrling, der frisch beförderte Geselle. Aber eines Tages würde er seinen Platz einnehmen. Außerdem klang es geheimnisvoller, sich so vorzustellen als nur vom Gesellen zu sprechen. Obwohl sein Meister ihm ja geraten hatte, es besser gar nicht zu erwähnen, damit man ihn nicht für verrückt hielt. Andererseits machte Nell einen weitaus bekloppteren Eindruck als er selbst, auf eine liebenswert positive Art und Weise ... und Tods kuttenschwarzer Humor färbte offenbar langsam auf ihn ab.
Er breitete die Arme aus. Er konnte gar nicht der Tod sein. Jenen verband man immer mit Unbehagen und einer voranschreitenden Kälte. Kazel aber fühlte sich angenehm warm an. Er war nicht kräftig, nicht einmal sonderlich muskulös, aber besaß genug drahtige Muskeln, dass man ihm durchaus Geschick zusprechen könnte. Je nachdem wie Naella ihn umarmte, würde sie vielleicht die Narben auf seinem Rücken durch den edlen Stoff spüren können. Viele Narben. Sehr viele Narben. Kazel schien ein verworrenes Netz auf dem Rücken zu tragen. Glücklicherweise hatte man ihn von der Last dieses Stigmas bereits erlöst. Wo es früher bei jeder harten Konfrontation geschmerzt und ihn fast außer Gefecht gesetzt hatte, konnte er nun nur noch mit dem entstellenden Blitzgewitter leben. Der Tod hatte ihm die Schmerzen genommen. Allein deshalb stand er in dessen Schuld, aber mittlerweile diente er ihm sogar voller Eifer. Seltsam, dass er seine Empathie dadurch noch nicht verloren hatte. Der Gevatter gab sich da eher gefühllos. Kazel aber wollte das nicht verlieren. Emotionen waren gut, sie waren lebendig und Anteilnahme konnte so viel bewegen.
Sanft legte er seine Arme um Nell und schenkte ihr Brust und Schultern zum Anlehnen. "Wieder besser? Unten gab es einen Schankraum. Vielleicht finden wir Wasser oder Tee für deinen Bauch." Und sobald sie sich etwas beurhigt hätte, würde Kazel nochmal nach den Gärten fragen müssen. Dorthin führte ihn wohl sein Weg.