Schon Caleb Tjenninger war ein kleiner Freigeist gewesen. Damals hatte er das auch noch sein können. Damals, als Gregor Tjenninger noch nichts weiter war als ein Schiffsbauer, der seine erste große Werft eröffnete und seine Fähigkeiten all jenen Händlern anbot, die ihre Geschäfte auf Städte jenseits des Meeres ausweiten wollten. Damals hatte der kleine Caleb die Docks erkundet, die Schiffe erklommen, welche noch im Gerüst standen, um gefertigt zu werden. Er war im Dachgebälk der Werft umher geklettert, hatte sich mit den Katzen am Hafen gebalgt, mit den Fischern gescherzt und den Geschichten der Matrosen gelauscht. Er hatte Träume gehabt, Träume von Freiheit.
All das war ihm mit dem Erfolg des Vaters genommen worden. Aus Caleb Tjenninger wurde Caleb van Tjenn und schon bald erklomm er nur noch die Tonleitern bei einem Gesangslehrer, der es lieber früher als später mit ihm aufgab. Er erkundete nicht länger die Gassen und Nischen Andunies, sondern nur noch die staubigen Seiten zwischen dicken Wälzern. Er hangelte sich an den Stammbäumen adliger Familien Andunies entlang, während seine Eltern schon Ausschau nach den jüngsten Töchtern dieser Familien hielten. Caleb van Tjenn hörte auf, sich zu balgen, denn das schickte sich nicht und er ruinierte damit nur seine noble Kleidung. Er scherzte weder mit jungen Mädchen oder feinen Damen, noch spielte er die männliche Konkurrenz aus. Er lauschte mit Desinteresse den trockenen Erzählungen betagter Männer bei adligen Festivitäten. Seine Träume starben und er langsam mit ihnen. Bevor sein Ende allerdings eintrat, hatte er sich lieber davongestohlen. Er nahm Schimpf und Schande in Kauf, solange er frei sein konnte. Und schließlich hatte er sich von allem befreit, das ihn in eine Zwangsjacke edlen Geblüts stecken wollte, in die er niemals würde hineinpassen können.
Madiha sah es in dem Moment, da sie mit Caleb in der Gasse nahe des Faelyn'schen Anwesens hockte. Sie sah es während seines geduckten Spurts über das Pflaster und als er erst sie, dann sich selbst die Mauer empor hievte. Sie sah es, während sie gemeinsam von Hecke zu Hecke sprangen und ihr Dieb nicht aufhören konnte zu grinsen. Sie sah es selbst dann, als Gretha, die dicke Köchin des Hauses, nach dem Apfelkuchen griff und ihn beinahe entdeckt hätte. Ihre Herzen schlugen gleichermaßen laut und verräterisch, aber in Calebs Blick lag ein Funkeln, als beherrschte er selbst Feuermagie und versuchte gerade, eine Flammenexplosion zu unterdrücken. Er liebte dieses Leben. Er liebte die wiedergewonnene Freiheit, die er sich schwer hatte erkaufen müssen. Er liebte beides so sehr wie er Madiha liebte und er würde sich niemals wieder davon trennen wollen. Tatsächlich hatte Madiha ihn nie glücklicher gesehen als über ihr, wenn er sie nahm und in eben diesem Augenblick, da das Adrenalin ebenso in seinen Ohren rauschen musste wie in den ihren. Er brauchte keinen Reichtum, kein Ansehen. Er brauchte nur das hier, um glücklich zu sein. Das und sie. Seine Augen suchten gezielt nach ihrem Blick.
Madiha aber wich seinem Blick rasch aus, denn über ihr sprach Gretha von den Aromen, die bei körperlichen Untrieben entstanden und die offensichtlich nicht einmal der Regen von ihrer Haut hatte waschen können. Madiha wusste sehr gut, wie Caleb duftete, wenn er dich bei ihr lag. Sie kannte sein vertrautes Aroma, das stets etwas Kerniges besaß, aber nicht zu viel, so dass es nicht unangenehm in der Nase kitzelte. Es war genau richtig. Er war genau richtig!
Madiha erwischte sich dabei, unvorsichtig gewesen zu sein. Ihre Gedanken drifteten ab, wenn sie Caleb zu lange anschaute. Das war zwar schön, für einen geplanten Einbruch aber gefährlicher denn je. Sie musste konzentriert bleiben, also sondierte sie die Umgebung. Ohnehin schaute sie sich nun um, weil ihr ein Eindringen durch das offene Fenster Unbehagen bereitete. Calebs Planung sähe in dem Fall vor, die Küchengehilfin - Kepi - zu überwältigen und das gleiche notfalls auch mit der Köchin anzustellen, sollte sie zu schnell zurück sein. Auch wenn Madiha Caleb anders einschätzte und davon ausging, dass er niemals Gewalt anwenden oder gar jemanden verletzen würde - nicht so! - klangen seine Worte dennoch irgendwie ... kalt. Sein Blick hingegen war warm, angeheizt von der Aufregung der Situation. Sie musste ihn bremsen, sonst würde er erneut kopflos vorgehen und das könnte für ihn böse enden.
Die Sarmaerin hatte in diesem Moment einen Geistesblitz. Da sie von all der Schönheit des Gartens so überwältigt war, hatte sie jedes noch so kleine Detail wie ein Schwamm aufgesogen. So war ihr auch der Seiteneingang nicht entgangen. Vielleicht konnte man von dort aus ins Haus gelangen. Es wäre sicherer als nun Kepi mit zwei Einbrechern zu konfrontieren, ob man sie dabei außer Gefecht setzen könnte oder nicht.
"Komm mit, ich habe da eine andere Möglichkeit gesehen!", lockte sie ihren Dieb, bevor dieser handeln konnte. Und er folgte ihr. Es ging hier nicht allein um Fähigkeiten. Es ging nicht darum, wer erfahrener war, in anderer Leute Häuser einzusteigen. Es ging um Vertrauen. Caleb stellte keine Fragen. Vielmehr musste er ein Jauchzen unterdrücken, als er die kleine Terrasse entdeckte. Eilig schob er Madiha von hinten an, bis sie beide hinter den hölzernen Querstreben des Geländers halb verborgen waren. Der Regen half dabei, die Sicht auf sie von außen etwas verschwimmen zu lassen. Madihas Sorge war jedoch vollkommen unbegründet. Die faelyn'schen Wachen marschierten nur außerhalb der Mauern. Hier im Garten war ihnen nicht eine Patrouille begegnet. Man wähnte sich entweder in Sicherheit oder war nicht so reich mit Wächtern besetzt wie man versuchte, vorzugeben. Jedenfalls gab es niemanden, der sie nun bemerken könnte, solange sich nicht plötzlich die Tür öffnete.
Der Geruch von pflanzlichen Abfällen drang vom Kompost aus zu ihnen herüber. Einige zu Kringeln geschnittene Kartoffelschalen hatten es nicht ganz hinein geschafft. Sie lagen davor. Caleb hob eine auf und warf sie in den Kompost. Dann wiederholte er den Vorgang, bis alles sauber war. Er hob die Schultern.
"Wenn wir uns schon umsehen, können wir den Bediensteten auch ein wenig unter die Arme greifen." Schief grinste er auf. Dann deutete er gen Tür.
"Lass mich nachschauen, ob verschlossen ist. Ich würde die rostigen Dietriche nur ungern verwenden." Geduckt schlich er sich an seiner Liebsten vorbei bis zum Eingang. Er legte seine Hand um die Klinke und drückte diese wie in Zeitlupe herunter. Es klickte nur einmal leise, dass das Regenprasseln das Geräusch nahezu vollständig verschluckte. Calebs Mundwinkel hoben sich. Dann schob er die Tür ins Innere und sich selbst kurz darauf hinein. Er winkte Madiha mit sich und Wärme empfing sie, als sie ins Haus gelangte.
Die Luft wirkte etwas abgestanden. Der Gang, in dem sie sich befanden, war schmucklos und nur von zwei Deckenlaternen erleuchtet. Die Wände bestanden aus Holz, der Boden war mit eckigen Steinfliesen gekachelt. Linkerseits befand sich eine Tür, die wesentlich breiter als die beiden gegenüber waren. Licht drang unter der Ritze hindurch und man konnte leises Summen hören. Madiha und Caleb erkannten sofort Kepis Stimme. Die Tür nach links musste demnach in die Küche führen.
"Schätze, wir sind im Gesindebereich", wisperte Caleb. Er hockte noch immer halb im Schatten und lauschte immer wieder nach dem Summen. Ansonsten lag alles relativ still da.
"Vermutlich befinden sich hinter den beiden anderen Türen entweder eine Waschkammer und ein Schlafraum für die Dienerschaft oder Abstellkammern. Nichts Interessantes für uns, sage ich. Lass uns den Gang entlang schleichen. Mit etwas Glück finden wir einen Weg zu den Reichtümern und ... äh ..." Er grinste wieder, rieb sich den Nacken.
"Zum Umsehen. Wir wollen ja wissen, ob Corax gut versorgt wäre hier. Ein bisschen Reichtum für ihn muss schon sein!" Und für Caleb selbst. Er hatte nach wie vor die halbe Drachme im Kopf, die er Harm noch schuldete.
Langsam und auf leisen Sohlen schlich er voran. Sowohl Caleb als auch Madiha hinterließen leider zahlreiche kleine Pfützen am Boden. Das ließ sich nicht verhindern, solange sie ihre feuchte Kleidung nicht ablegten. Am Ende des Ganges aber waren sie soweit abgetropft, dass sie keine solchen Spuren mehr hinterlassen würden. Auch hier fand sich eine Tür. Gerade als Caleb nach der Klinke greifen wollte, erstarrte er. Schritte näherten sich und Stimmen drangen gedämpft durch das Holz.
"... habe es langsam satt, ständig nach ihm suchen zu müssen. Warum auch? Er ist doch kein Kind mehr!"
"Aber er ist der einzige Erbe des Herrn. Da ist doch klar, dass er ein Auge auf ihm haben will."
"Kein Wunder, dass er ständig stiften geht. Ich kann's ja nachvollziehen. Ich würde auch nur noch mehr versuchen, dem zu entkommen, wenn Papilein mich dermaßen kontrolliert."
"Trotzdem müssen wir ihn suchen."
"Mhrm ... und zurückbringen. Bei Faldor, ich hab diese Ammentätigkeit wirklich satt! Ich bin Wächter, verdammt!"
"Stell das fluchen ein und komm mit! Bringen wir's hinter uns."
"Mhrm..."
Niemand öffnete die Tür. Die Schritte zogen weiter, wurden leiser und wenig später hörte man eine große Tür ins Schloss fallen. Anschließend war es erneut ruhig. Caleb atmete aus.
"Ich hab zwar kein Wort verstanden, aber das war knapp. Wir sollten versu-" Erneut brach er ab. Dieses Mal war jedoch nichts jenseits der Tür zu hören. Caleb hielt auch nicht still. Er schaute in Madihas Richtung und doch an ihr vorbei. Seine Augen wurden groß.
"Na, da schau einer an. Könnte es sein...?" Er huschte zu ihr, berührte ihre Schulter, um sie ein wenig beiseite zu schieben. Auf Kopfhöhe, halb hinter Madiha fand sich ein gerahmter Schalter in der Wand. Er war durch das dunkle Holz kaum aufgefallen, wenn man auf das Ende des Ganges zuhielt. Nun erkannte man ihn aber deutlich. Außerdem waren sanfte Fugen neben dem Schalter in der Wand zu sehen, als verbärge sich dort eine Geheimtür. Caleb schaute zu Madiha, anschließend den Gang hinunter. Von der Küchentür aus gab es keine Anzeichen, dass jemand den Gesindetrakt gleich betreten würde.
"Ich glaube, dieser Schalter öffnet einen Weg in die Dienergänge."
Caleb musste die Funktion nicht erklären. Madiha wusste nur zu gut, was Dienergänge waren. Sie existierten auch in Sarmas Anwesen. Khasib hatte stets großen Wert darauf gelegt, dass man lästige Sklaven nicht sah, wenn sie ihre Arbeit taten. Schließlich wollte niemand ein schlechtes Gewissen oder gar Mitleid mit den geschundenen, dürren Gestalten bekommen. Er war nicht der einzige Adlige, der so vorging. Beim Bau des Eigenheims, des Palastes oder einem Anwesen wie hier in Andunie, nutzte man hohle Zwischenräume der Wände aus. Sie waren schmal und dunkel, gerade breit genug für eine Einzelperson, solange es sich nicht um einen Ork handelte. Sklaven und Diener konnten diese "Geheimgänge" zwischen den Räumen und teils auch Etagen nutzen, um ungesehen zu ihren Zielen zu gelangen. Viele Schlaf- und Esszimmer, sowie einige Salons besaßen Geheimtüren, die Zugang zu den Dienergängen gewährten. So konnten Sklaven hinter den Herrschaften saubermachen, ohne sich in den offenen und prunkvollen Korridoren zeigen zu müssen. So ließen sich Lustsklavinnen ungesehen fortschaffen, wenn Gäste mit ihnen fertig waren. So tropften entjungferte Mädchen in Sarma nicht die teuren Marmorböden voll, wenn man sie auf wackligen Beinen und vollkommen aufgelöst zu ihren Sklavenunterkünften brachte, um sie dort von der Brutalität ihres neuen Herrn verarzten zu lassen. Es blieb zu hoffen, dass Andunie und gerade dieses Haus Dienergänge nicht für derlei Situationen nutzte.
"Riskieren wir es", meinte Caleb. Er ließ Madiha keine Gelegenheit, dagegen zu stimmen. Schon legte er den Schalter um. Erneut klickte es und eine Tür drückte sich dort, wo man die Fugen gesehen hatte, etwas nach innen, ehe sie sich zur Seite schob. Sie gab den Blick auf einen mehr als düsteren Gang frei. Die Luft dort roch kalt, feucht und muffig. Spinnweben hingen von den Wänden und der Decke. Einige Asseln retteten sich ins tiefere Schwarz des Geheimgangs. Caleb spähte in den Tunnel, fand aber keine Lampe.
Er schaute über die Schulter zurück und wisperte:
"Jetzt brauchen wir deine Fähigkeiten, Feuermagierin." Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen.
"Kriegst du das hin, damit wir nicht im Dunkeln tappen müssen? Du wirst aber vorgehen müssen und mir den Weg weisen."
Gewiss würde Madiha es fertig bekommen, eine Flamme zu entfachen. Ob sie sich jedoch in den sehr schmalen Gang wagen wollte, blieb noch abzuwarten. Falls sie den Mut und möglicherweise auch Erinnerungen ihrer eigenen Vergangenheit überwinden könnte, stünden ihr und Caleb wahrlich Wege zu allen möglichen Räumlichkeiten offen. Zumindest hätten sie freien Zugang zu sämtlichen Schlafzimmern des Hauses, dem Speisesaal im Erdgeschoss und zahlreichen kleinen Salons, einem Musikzimmer, einem Wintergarten wie er auch in Calebs Heim vorhanden war und noch einigen ganz besonderen Räumen, wenn die Neugier lockte. Zunächst einmal musste aber der Gang überwunden werden.
Hinweis: Bitte in deinem Post angeben, in welche Richtung Madiha und Caleb sich wenden wollen, sofern sie den Dienergang betreten. Sprich, welche Räume möchtest du zuerst erkunden? Zur Auswahl stehen:
- Diverse Schlafzimmer
- Badezimmer
- ein Speisesaal
- verschiedene Gästezimmer und Salons
- ein Musikzimmer
- ein Wintergarten
- einige, geheimnisvolle Kellerräume
- Zugänge zu den Wachräumen und Vorratskammern