Madiha und Caleb hatten sich vorgenommen, ihre Schicksalwege gemeinsam zu beschreiten. Sie wollten dabei kleine Schritte tun und einen nach dem anderen. Das führte nicht nur endlich auf körperlicher Ebene zum Erfolg, sondern auch wenig später, als sie die dunklen Docks Andunies verließen und es beide in die Straßen der Innenstadt führte. Inzwischen war es tiefste Nacht. Nahezu alle Gebäude lagen im Dunkeln da, trotzdem erhellten Straßenlaternen die Umgebung. In einer Stadt wie Andunie war es üblich und in einigen Stunden würden Menschen mit seltsamen Metallglocken an langen Stangen durch die Straßen stapfen, um die Kerzen in den Laternen eine nach der anderen zum Erlöschen zu bringen. Dazu halfen ihnen besagte Stangen, mit denen sie die kleinen Feuer unter der Metallglocke ersticken würden. Bis dahin war es aber noch eine Weile hin. Vor der Dämmerung gab es keinen Anlass dazu. Denn bis dahin mussten die Lichtkreise den Weg der Nachtwandelnden erhellen. Neben Patrouillen, die größtenteils inzwischen aus Dunkelelfen, gelegentlich in Begleitung eines Orks, bestanden, waren das nur noch Madiha und Caleb, sowie einige Trunkenbolde oder Obdachlose. Letztere hielten sich allerdings bevorzugt in Gassen auf, in denen kein Licht mehr zu ihnen durchdrang. Von solchen Wegen hielt Caleb seine Wüstenrose fern. Er kannte die Stadt, wusste wohin er gehen musste und während sie beide so schlenderten, erfrischte die Nachtluft ihre erhitzten Körper.
Hier und da blieb Caleb stehen, erzählte vor einem der Schaufenster, was man tagsüber im jeweiligen Geschäft alles erstehen konnte oder hielt eine Anektdote seiner Jugendzeit zum Besten. Er hatte schon vor seiner Karriere als Wüstendieb das eine oder andere aus fremden Auslagen stibitzt. "Ich glaube, es hatte etwas mit persönlichem Nervenkitzel zu tun", versuchte er eine Erklärung für seine jugendlichen Straftaten zu finden. "Als meine Familie in den Neuadel aufstieg, kamen Vater und ich nicht mehr oft in die Werft. Er musste die Arbeiter nicht mehr beaufsichtigen. Er bezahlte andere dafür und genoss seinen Tag mit Verhandlungen oder Treffen der adligen Kaufmänner." Caleb zuckte mit den Schultern. "Mama hatte auch nicht immer Zeit für mich, also bin ich auf eigene Faust lsogezogen. Ich hab immer ein Abenteuer gefunden." Er grinste auf und führte Madiha die nächsten Straßen hinunter. Hin und wieder machte er Halt, zeigte ihr seine Lieblingsstellen der Stadt. Einige davon lagen in Trümmern da, was ihn dann verharren ließ, um das Ausmaß der feindlichen Eroberung in sich aufzunehmen. Dann wurde Calebs Miene ganz ernst. Bei einem Springbrunnen mit der Statue eines nackten Jungen, der ins Wasser pinkelte - das andunische Männlein Piss - ballte er sogar die Faust. Der steinerne, freche Bursche war zerschlagen worden. Sein gebrochenes Antlitz zierte in mehreren Bruchteilen das Pflaster. Niemand hatte sich genötigt gesehen, ihn wenigstens wegzuräumen. Der restliche Steinkörper funktionierte aber noch tadellos und so pieselte ein kopfloses Männlein das Wasser ins flache Brunnenbecken.
Caleb ließ Madihas Hand los. Er sammelte schweigend die Kopftrümmer ein und legte sie auf dem Beckenrand zu des Jungen Füßen zu seinem Gesicht zusammen, soweit es ihm noch möglich war. Danach starrte Caleb lange darauf. "Gehen wir weiter", murmelte er nach einer Weile, vergaß gänzlich, in Sendli zu sprechen. Es war eben nicht alles wie in seiner guten alten Zeit geblieben und die Eroberung Andunies durch dunkle Völker hinterließ Spuren. Nach wie vor gab es Schlechtes, selbst wenn die Andunier sich mit den Eindringlingen zu arrangieren schienen. Es würde dauern oder aber es käme zum Gegenschlag ... oder Andunie Vernichtung. Caleb sprach es nicht an. Er führte Madiha jedoch nun zügiger durch die Straßen. Keine Gespräche mehr, keine kleinen Geschichten. Er musste Abstand zum Brunnen bekommen. Seine Füße lenkten ihn wie von allein und plötzlich fand er sich in irgendeiner Straße wieder, die erfüllt war vom Duft eines saftigen...
"Apfelkuchen." Sofort entspannte sich Calebs gesamte Muskulatur. Sein Gesicht nahm weiche Züge an, wehmütig, sehnsüchtig. Er roch ein Stück Kindheit, als er es wiederholte: "Andunischer Apfelkuchen, mit einem Becher Sahne, damit er extra saftig schmeckt. Und mit geschlagenem Eiweiß, damit er fluffig bleibt. Schmale Apfelscheiben ... keine Stücke ... keine Stückchen schneiden, Caleb! Die schmiegen sich nicht gut in den Teig. Mama..." Er seufzte und wandte den Kopf. Dann zuckte er zusammen, als sein Blick auf die Fassade eines der Häuser hier fiel.
Inspiration: Haus
Es handelte sich wie seine Nachbarn um ein Fachwerkhaus, wirkte jedoch nicht so schmucklos. Man sah ihm das gewisse Etwas an. Es war reich verziert durch Blumenkästen, kleine Gartentöpfe, aus denen ebenfalls Pflanzen ihre Köpfe streckten, sowie allerlei Zierrat. Zwar besaßen auch die umliegenden Gebäude Dekorationen, aber wo es dort eine Wäscheleine, ein Putzeimer, kleine Stoffwimpel oder nur eine Holzbank vor der Tür waren, da wies dieses eine Haus mehr auf: Zum Pflasterweg, der sich zwischen den Häuserschluchten entlang schlängelte, führte eine Treppe aus breiten Steinquadern. Zu beiden Seiten wurde sie von bepflanzter Keramik gesäumt und geschwungene, hölzerne Schnitzbögen stützten das vorstehende Stück der oberen Fachwerk-Etage. Aus der Hauswand lugte die Vorrichtung für eine Wasserpumpe. Auf der Terrasse selbst fanden sich Anzeichen, dass jemand in seiner Freizeit Blumen und Kräuter pflanzte. Die Scheiben der Fenster bestanden aus eckigem Milchglas, das noch einmal dutzendfach unterteilt war, so dass es Madiha sicher schnell an die Mosaike des Badehauses erinnerte. Das Gebäude besaß neben dem Erdgeschoss mit steinernen Wänden noch zwei Etagen aus Fachwerk. Die oberen Fenster ließen sich mit Luken verschließen. Bei den unteren stand eines offen. Von dort, aus dem Inneren heraus, drang der köstliche Duft des gebackenen Apfelkuchens.
Das Haus selbst lag ansonsten im Dunkeln da, obwohl es neben der Straßenbeleuchtung noch reichlich Laternen gab, die die Terrasse und auch die Straße selbst hätten erhellen können. Im Grunde war es ein idyllischer Anblick, könnte man über die Zerstörung hinweg schauen. Sie hatte auch hier stattgefunden. Madiha fielen die zerschlagenen Blumenkübel auf, vor denen sich Erde wie blutiges Fleisch aus einer offenen Wunde ausbreitete. Die Pflanzen waren plattgetreten. Erdklumpen verteilten sich auch auf der Terrasse selbst und eines der entfernteren Fenster besaß keine Scheiben mehr. Man hatte Bretter davor genagelt, um ein Eindringen zu verhindern. Über die Eingangstür zog sich eine rot gestrichene Fledermaus, zumindest konnte man das Symbol als solches erkennen, wenn man genauer hinschaute.
Caleb sah es nicht. Er ignorierte jedes Warnsignal, sondern folgte nur dem Duft des Apfelkuchens. "Er riecht genau so wie meine Mutter ihn immer gemacht hat", murmelte er und näherte sich geduckt dem offenen Fenster. "Ich ... muss ein Stück davon haben. Ich hole uns beiden eines, Madi." Schon kletterte er behände ins Innere des Hauses. Er war wirklich flink und vor allem stieg er in das Haus ein, als wäre ihm dieser Weg schon vertraut. Er ging sehr lautlos vor, aber er hatte die Gefahrenzeichen nicht bemerkt. Nur Madiha hatte sie erkannt und nun war Caleb schon im Inneren. Zu laute Rufe könnten die Hausbewohner wecken und wenn es sich um Dunkelelfen handelte, wäre Calebs Leben in großer Gefahr.