Ihr Leben galt als beendet. Fort waren der Kapitän, der in einer anderen Welt und zu einer anderen Zeit vielleicht doch zu einem der Tanzbälle gekommen wäre, ihr den Hof gemacht und sie in eine Ehe geführt hätte, die erfüllt gewesen wäre von Kindern mit seinen blaugrünen Augen, seinem unbändigen Haar und seinem verschmitzten Lächeln.
Fort war der Gevatter, welche die Seelen in ihr persönliches Paradies führte. Er hatte ihnen besondere Aufwartung gemacht, indem er ein Spiel auf Leben und Tod angeboten hatte, jedoch nicht für die, die zurückgeblieben war. Allein, in ihrem persönlichen Paradies. Es war so still, obgleich sie das Summen der Insekten in den Gärten und das Plätschern des Springbrunnens noch immer hören konnte. Aber wie war gerade Letzteres möglich, wo sie doch auch von Ventha, ihrer Göttin, verlassen worden war? Auch sie hatte sich einfach wortlos davongemacht, hatte ihrem Element alle Ehre gemacht, indem sie sich einfach verflüssigte. Sie hatte sich wie alle anderen aufgelöst, Nebel gleich wenn die Sonne endlich den Morgen durchbrach.
Aber Ventha war gnädig, wenigstens zu ihren Kindern. Denn auch wenn sie erzürnt schien, dass Azura ihren Leib in die See gegeben hatte, so hinterließ sie ihr nun einen Funken Hoffnung. Denn just als die Andunierin erkennen musste, dass der Spiegel zum Leben einfach ebenfalls verschwunden war, fand sie wenig später das handlichere Geschenk ihrer Göttin. Wie schön es war und wie niedlich die winzige Statue in den Teich selbst blickte! Oh, unter besseren Umständen hätte die junge Frau gewusst, es richtig wertzuschätzen. Nun aber obsiegte die Hoffnung, die hinter der Entdeckung des Geschenkes stand.
Azura kehrte in die Gärten zurück. Die Sonne wärmte ihren Körper, der nicht länger geisterhaft erschien, wenngleich etwas blasser als sie es gewohnt war. Mit Hoffnung im Herzen erschien ihr auch das Wasserspiel des Brunnens lebendiger, lauter und erfrischender. Sie ließ sich bequem auf die Bank nieder, wechselte alsbald aber in das weiche, knöchelhohe Gras, denn sie wollte einen erneuten Versuch wagen, Corax eine Nachricht zukommen zu lassen. Anders ertrug sie seinen Anblick kaum. Auf der einen Seite erfüllte es ihr Herz mit Freude, dass sie ihn weiter beobachten konnte, auf der anderen Seite erschütterte es sie wie sehr er doch unter ihrem Verlust litt. Eingesperrt - so schien es - hinter einer Steinwand, die die Kapitänskajüte aufteilte, kauerte er am Boden, ohne Azuras tote Hand loszulassen. Er wimmerte und zitterte, dass einem das Herz zerspringen wollte. Wieviel Leid ertrug eine Seele?
Azuras Entschluss stand fest. Was nützte ihr das Paradies, wenn sie es vollkommen allein und bis in alle Ewigkeit würde bewohnen müssen, während sie zuschaute, wie ihr widerlicher Schuft von einem Begleiter durch all die Gefahren und Schrecken so sehr litt? Dann gab sie lieber nach und nach alles von sich auf, damit er zu sich zurückfände und wieder nach vorn blicken könnte - ohne sie.
Azura versuchte, sich seine Haltung so gut es ihr möglich war einzuprägen. Dann schloss sie die Augen, konzentrierte sich ganz auf ihn. Sie stellte sich vor, wie ihre Finger sanft auf Corax' Schulter Platz fänden und ihre Lippen seine Wange berührten. Beinahe glaubte sie, das Salz all seiner Tränen zu schmecken, die Wärme seiner Haut zu spüren. Sein Duft erreichte sie, dass sich die Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten. Schmerz empfand sie nicht. Azura befiel lediglich ein Gefühl der Anstrengung, ohne dass sie dadurch erschöpft wurde. Es war bizarr, aber sie wusste, dass sich erneut ein Teil von ihr löste, ebenso winzig wie der erste und doch hinterließ er etwas. Der Palast, in den Tod sie geführt hatte, fühlte sich um ein Quantum stiller an. Das Ergebnis sah sie nicht einmal, da sie weiterhin ihre Augen geschlossen hielt.
Corax erfuhr es. Er kauerte in der Welt der Lebenden vor dem klobigen Holztisch. Die Illusion brach, ebenso wie sich jene der Schutzmauer gerade auflöste. Er konnte beides nicht halten. Nicht, wenn das Leid ihn zu zerfressen drohte. Kein Albtraum der Schlange aus Nadeln, die die Männchen ihm regelmäßig zum Einschlafen geschickt hatten, zehrte so sehr an ihm wie der Verlust seiner Liebsten. Er klammerte sich an ihre Hand, die den Druck nicht erwiderte. Stattdessen fühlte sie sich kalt an und bald würde sie so steif und unbeweglich werden wie der Rest ihres Körpers, bis die Totenstarre nachließ und der Verwesungsprozess einsetzte.
Der Dunkelelf rührte sich nicht, von seinem Zittern abgesehen. Er schluchzte erstickt, denn auch ihm fehlten weitere Tränen, um die Trauer aus ihm heraus zu spülen. Es war schon wieder passiert. Schon wieder hatte er jemanden verloren, den er liebte. Dieses Mal war es aber um Längen schlimmer als sonst, denn dieses Mal hatte er es nicht herbeigeführt. Nicht bewusst. Er ahnte nicht, dass auch er seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass Azura in einer Kurzschlussreaktion das Ende in Venthas Fluten gesucht hatte. Wäre ihm das nun bewusst, er hätte sie losgelassen, um sofort von Bord zu springen! Andererseits konnte er das auch nicht einfach tun, denn er war an eine Herrin gebunden, die ihren Liebsten wieder in den Arm nehmen könnte und diese Geste erwidert bekäme. Der Gedanke schüttelte Corax und ließ ihn winseln.
Da fühlte er Gewicht auf seiner Schulter. Schon wollte er herumfahren und den Störenfried bedrohlich ankrächzen, als ihm auffiel, dass dort niemand war. Es fühlte sich lediglich warm an. Er berührte seine Schulter. Nichts, was er greifen konnte, außer sich selbst. Dann fühlte er diese Wärme an seiner Wange. Sie brach seine Tränenbahn, verwischte diese und hinterließ den Schein eines Lippenabdrucks auf seiner Haut. Corax berührte die Stelle. Nichts hatte sich jemals so warm und liebevoll angefühlt. Es ließ ihn erneut erbeben. Dann legte er seine gesamte Hand um die Wange, als wollte er das Gefühl dort beschützen und verwahren. Aber es verflüchtigte sich viel zu schnell. Betrübt ließ er die Hand sinken, bis ihm etwas auffiel. Er starrte auf seine Handinnenfläche. Dann ließ er erstmals Azuras tote Finger los, um sich unter das Hemd zu greifen. Das Säcklein aus dem Stoff ihres Ärmels hing noch immer dort, sicher verschnürt durch das geflochtene band ihrer Haarsträhne. Er tastete den Stoff ab und erfühlte dort die kleine Tränenperle, die sie für ihn geweint hatte, bevor alles zu Ende gegangen war.
Erneut blickte Corax auf seinen anderen Handteller. Wenn die Tränenperle noch an Ort und Stelle war, wo kam diese zweite her? Sie besaß dieselbe Farbe, wirkte gläsern mit einer winzig milchigen Spur, als bestünde sie aus Geisterlicht. Corax hob sie mit zwei Fingern an, führte sie zu seinen Lippen und küsste sie. Dann machte er sich daran, sie zu ihrer Schwester in das selbstgebastelte Säcklein zu geben.
Azura öffnete zwangsläufig die Augen, als ein vertrauter Druck gegen ihre Lippen ausgeübt wurde. Kurz nur und sie musste sich konzentrieren, um den Geschmack des Rabenelfen wahrzunehmen, doch er war für einen knappen Zeitraum vorhanden. Er hing an ihren Lippen. Nichts im Paradies ihres Palastes konnte so schmecken!
"Das riecht nach Liebe." Eine Stimme. Sie kam von der Steinbank hinter Azura. Das sanfte Greinen eines Säuglings gesellte sich hinzu und schon hörte sie die Stimme beruigend auf das Kind einreden. Eine Frau, eine Mutter. Sobald Azura hinsah, erkannte sie jedoch ein Wesen, an dessen Anblick man sich erst gewöhnen musste. Teile von ihr waren sehr wohl weiblich. Ihr nackter Schoß, der Bauch und die entblößten, vollen Brüste, an denen der Säugling hing und kräftig trank, stammten eindeutig von einer Menschenfrau. Auch der Kopf ließ darauf schließen, wenngleich sie keine Haare besaß ... und keine Augen. Darüber zog sich nur eine lange Metallplatte mit einem eingearbeiteten Symbol: eine Feder. Ob sie einem Raben gehörte, konnte man allerdings nicht sagen, wenn man selbst kein ausgebildeter Vogelkundler wäre. Einem Jadgfalken gehörte das Bildnis nicht, so viel erkannte Azura. Wie die Metallplatte über ihren Augen hielt, war ebenfalls nicht zu erkennen. Sie hinderte die Mutter lediglich am Sehen, sofern sie darunter entsprechende Organe besäße. Erschreckend war darüber hinaus noch der Anblick ihres Mundes. Die Lippen besaßen eine blutige Kruste, welche sich als weite Risse bis zu ihren Wangen empor zog. Aber sie lächelte selig auf ihr Kind herab, das sie nicht mit natürlichen Armen hielt. Die Frau besaß keine Gliedmaßen. Stattdessen wurde das Kindlein von Armen aus Metall gehalten, deren Verarbeitung zwar filigran und präzise war, aber eben nicht menschlich. Und auch die Beine waren eher metallische Imitate. Sie glänzten silbern in der Sonne.
"Du musst keine Angst haben. Der Erlöser Yrrn sagte, wir könnten hier bleiben und dir Gesellschaft leisten. Aber wir werden gehen, wenn du lieber allein in der Ewigkeit wärst. Dann sage ich es auch den anderen Frauen." Andere Frauen? Tatsächlich... Sobald Azura den Blick schweifen ließ, erkannte sie weitere Gestalten, die ebenso aussahen wie das Wesen auf der Bank. Der Unterschied war, dass sie in verschiedenen Stadien einer Schwangerschaft zu sein schienen. Manchen sah man die leichte Wölbung ihres Bauches gerade erst so an. Andere schlenderten mit einer prallen Kugel durch die Gärten, aber allesamt schämten sie sich weder ob ihrer Blöße noch wirkten sie bedrohlich trotz ihrer metallenen Ersatzteile. Und sie alle waren blind, trugen die Metallplatte mit der Feder als Sichtschutz über den Augen.