Liam schmeckte Blut auf seinen Lippen.
Ein dünnes Rinnsal davon sickerte von einem Riss knapp unter der linken Braue über sein Gesicht. Es brannte in seinem Auge und ließ es leicht tränen, rann, eine rote Spur hinterlassend, an seiner Nase vorbei und tränkte die Haare seines Bartes. Von dort tropfte es in seinen Mundwinkel und verbreitete den Geschmack von Metall in seinem Mund. Es war ein Geschmack, der ihm durchaus vertraut war und einfach dazugehörte. Dazugehörte, wie das Kribbeln in seinen Waden, die sich ausbreitende Taubheit in seinen Händen, der Schweiß in seinem Nacken und der dumpfe Schmerz an jenen Stellen seines Körpers, an denen die Fäuste seines Gegenübers ihr Ziel gefunden hatten.
Auch die Szenerie um ihn herum war ihm vertraut. Die Hinterstube der Schenke zum Bettler war in das flackernde Licht des großen Kaminfeuers getaucht. Kerzen an den Wänden und einem hölzernen Luster tropften billiges Wachs auf die Köpfe der Gäste, die an den schmalen Tischen am Rande saßen oder sich in einem Halbkreis um den in Kreide gezeichneten Ring versammelt hatten. Die Luft war stickig, roch nach Pfeifenrauch und alkoholischen Getränken. Ein Chor aus lauten Rufen kommentierte jede ihrer Bewegungen, mal mit Zustimmung, mal mit Frustration, die Höhe eventueller Wettbeträge ließ sich an der Intensität der jeweiligen Stimmen erahnen. Das Klientel der Schenke war wie immer ein wilder Haufen an rauen Gesellen, finsteren Ganoven und liederlicher Männern und Frauen, die frei ihren Lastern nachgingen. Es war ein Milieu, mit dem sich Liam trotz all der ihm innewohnenden Abgründe stets verbunden fühlen würde. Die Menschen des Außenrings waren ein eigenes Volk – leidgebeutelt und doch voller Tatendrang. Man spielte bis zum letzten Hemd, trank bis zum letzten Schluck, prügelte sich, bis einem das Licht ausging. Sie alle teilten die Erfahrungen von Hunger, Kälte, Angst und Not, und waren bereit, alles dafür zu geben, sie auch nur für wenige Stunden am Tag hinter sich zu lassen.
Von seinem Gegner wusste Liam wie üblich herzlich wenig. Die Zeiten waren längst vorbei, in denen er seinen Kontrahenten Tage vor dem eigentlichen Kampf heimlich nachgestellt und nach Möglichkeit ihr Training verfolgt hatte. In Wahrheit war all diese Mühe stets umsonst gewesen. Erst im Ring lernte man seinen Gegner wirklich kennen – dies war auch heute der Fall.
Er hieß Bert und war ein glatzköpfiger Hüne mit Pausbacken, Pockennarben und einer ausgesprochen hässlichen Tätowierung am rechten Oberarm. Soviel Liam erkennen konnte, sollte es eine an einen Anker gelehnte Meerjungfrau darstellen. Stattdessen sah es aus, wie eine missgestaltete Gurke an einem Angelhaken. Er selbst hatte lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, sich eine Tätowierung stechen zu lassen, war jedoch nie dazu gekommen. Er hatte dabei an ein Motiv gedacht, das die Blicke von den Narben auf seinem Rücken ablenken, seine Gegner einschüchtern und die Weiber scharf machen sollte. Ein Drache vielleicht… ein scharfer Drache. Wie dumm diese Idee aus heutiger Sicht auch klang, so zog er sie immer noch dem grünen Flossengemüse auf Berts Oberarm vor, das gerade in die Horizontale ging, als dieser erneut zum Schlag ausholte.
Liam tänzelte zur Seite und wich somit auch den beiden folgenden schnellen Hieben von Berts Linker aus. Da sein Gegner eine Spur großgewachsener als er selbst war, hatte sich seine Reichweite schnell als Hindernis erwiesen. Schon innerhalb der ersten Minute hatte Liam drei direkte Treffer einstecken müssen, einen Hieb gegen die Stirn und zwei in die Seite. Weitere waren gefolgt. Bert war hingegen außer einigen Streiftreffern schadlos aus dem bisherigen Schlagaustausch herausgegangen. Der Glatzkopf feixte erregt, zeigte dabei eine unschöne Zahnlücke und ging erneut in den Angriff über. Liam duckte sich unter einem Hagel an Schlägen weg, einer davon streifte sein Ohr und lies es stechend sirren, ein weiterer traf ihn unschön in die Magengrube. Er steckte noch mehrere solcher Hiebe ein, während er von Bert durch den Ring getrieben wurde und nur vereinzelte Schläge zurückschickte. Am Rande hörte er dabei, wie die Stimmung der Menge zu kippen drohte. Ja, er war als Favorit in diesen Kampf gegangen, galt als lokaler Held dieser heruntergekommenen Schenke. Doch niemand konnte es sich hier erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Verlor er den Kampf, verlor er sein Gesicht – und Liam würde dies nicht zulassen.
Noch einige Sekunden ließ er die Schläge auf sich niedersausen, wich aus wo er konnte, blockierte wo es möglich war und erlitt Treffer, wo es sich nicht vermeiden ließ. Dann sah er eine Öffnung und reagierte instinktiv. Ein scharfer linken Haken in Berts Rippen gab Liam den nötigen Raum zum Atmen. Sich unter dem darauf reagierenden Rundumschlag schräg wegduckend, folgten zwei weitere gezielte Hiebe in die Seite seines Gegners, welcher erstmals einen Schritt zurücktat. Dabei ließ dieser sein Kinn ungedeckt und büßte dies prompt mit einem Aufwärtshaken ein, der seinen Kopf nach hinten schleudern und ihn zurücktaumeln ließ. Die langen Arme des Glatzkopfs verloren die Kraft, ein letzter blinder Versuch einer Gegenwehr schrammte schwach an Liams Jochbein ab. Noch einmal hob Bert die Hände, ließ die gurkengrüne Meerjungfrau ein letztes Mal emporschwimmen. Dann traf ihn Liams Faust mitten im Gesicht. Seine Augen rollten ins Kopfinnere, die stämmigen Kniee knickten ein und seine Schultern fielen nach vorne. Dann kippte er rücklings nach hinten und stürzte wie ein Sack Weizen zu Boden.
Liam schloss für einen Moment die Augen und atmete scharf aus. Dann ließ er gemeinsam mit dem um ihn ausbrechenden Jubel das Gefühl des Triumphes in sich hineinsickern. Er löste die Fäuste und spürte wie die Anspannung aus seinen Gliedern wich. An ihrer Stelle blieb der pochende Schmerz, der in den kommenden Stunden nur noch schlimmer werden würde. Doch er gehörte bekanntlich dazu. Gehörte dazu, wie die nun auf ihn gratulierend herabprasselnden Schulterklopfer der ringnahen Gäste, wie der Humpen kühlen Bieres, den man ihm in die Hand drückte und wie das ausbrechende Gedrängel um den Ecktisch, an dem die Wettgewinne verteilt wurden. Und noch etwas gehörte dazu. Noch jemand.
In der Menge tat sich ein Spalt auf, durch den sich eine adrett gekleidete Blondine drängte. Trotz ihrer zierlichen Statur schob sie dermaßen selbstsicher Gäste mit einem Vielfachen ihres eigenen Körpergewichts aus dem Weg, sodass sich nicht einmal der hartgesottenste Kerl darunter zu protestieren traute. Dabei nutzte sie das mittlerweile leere hölzerne Tablett in ihren Händen wie eine vorgehaltene Waffe. Sie arbeitete nun seit mehr als drei Jahren als Schankmaid und wusste genau, wie sie sich in diesem Etablissement zu verhalten hatte. Ihr Name war Saskia.
„Na endlich! Lass mich mal sehen, wie schlimm es diesmal ist.“
Liam drehte sich zu ihr und grinste sie durch einen Schleier aus Blut blinzelnd an. Begleitet vom Johlen der Menge beugte er sich zu der wehrhaften Blondine herunter und stahl stürmisch einen Kuss von ihren Lippen. Prompt erhielt er dafür einen Schlag mit dem Servierbrett gegen die Brust, der ihn glucksend nach hinten taumeln ließ.
„Nicht hier du Hohlkopf!“
Das leise Zucken von Saskias Mundwinkeln minderte die Intensität ihres bösen Blickes, welcher jedoch immer noch ausreichte, um Liam in seinem Siegesrausch dazu zu bewegen, ihrem ursprünglichen Befehl rasch Folge zu leisten.
„Bin ich noch hübsch genug für dich?“
Während die Schankmaid mit einem nassen Stofffetzen aus ihrer Schürzentasche das Blut von Liams Gesicht tupfte und dieser mit noch zittrigen Fingern die Bandagen um seine Knöchel löste, begann sich die Menge um sie herum allmählich zu zerstreuen. Aus den Augenwinkeln sah Liam, wie Bert von zwei Männern aus dem Schankraum geschleift wurde.
„Etwa so hübsch wie der Hackbraten von letzter Woche… Hör mal auf so blöd zu grinsen!“
Saskia tastete behutsam die wunden Stellen in seinem Gesicht ab. Sie hatte mittlerweile Übung darin. Als sie beim Riss an Liams Stirn angelangt war, wurde der Schmerz stärker. Erst wartete er auf ihr Urteil, dann packte ihn die Ungeduld.
„Nähen?“
Sie sah noch einmal prüfend über die Verletzung, dann schüttelte sie den Kopf. Sie war keine Ärztin, doch Liam vertraute ihr in dieser Hinsicht mehr als jedem beliebigen Quacksalber des Außenrings. Bisher hatte er keinen Grund gefunden, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem war er kein großer Freund der piksenden Nadel…
„Ist nicht allzu tief. Was ist mit deiner Seite?“
Ihre warmen Hände tasteten die einzelnen Rippen seines Brustkorbs ab, dann wanderten sie tiefer zu den Blutergüssen in seiner Lendengegend. Keine Berührung löste gröbere Schmerzen aus, als zu erwarten wäre. Stattdessen begann sich etwas anderes zu regen – eine ganz und gar natürliche Reaktion, die zwar nicht schmerzte, doch dringend der Behandlung bedurfte. Es war die gleiche Folge nach jedem seiner Siege. Wohin sonst sollte auch all das in Wallung geratene Blut der Kampfes hinfließen?
„Der geht es gut, aber hier unten hab ich ne ganz schlimme Schwellung. Hier, genau zwischen den…“
Diesmal schaffte er es gerade noch, ihrem Hieb auszuweichen. Als sie das Tablett wieder senkte, konnte sie das Lächeln auf ihren Lippen nicht länger verbergen. Sie sah gut aus, wenn sie lächelte, und Liam war jedes Mal stolz darauf, wenn er dafür verantwortlich war, dass sie es tat. Er nahm ihr das Tablett aus den Händen und warf es auf den Tisch neben ihnen. Dann legte er die Arme um ihre Hüfte und zog sie sanft etwas näher zu sich. Sie ließ es zu. Dass dabei etwas Blut an ihrer Schürze kam, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Kannst du dir den Rest des Abends frei nehmen?“
Saskia biss sich auf die Unterlippe. Für einen Sekundenbruchteil huschten ihre grünen Augen über seine im Licht des Feuers glänzende Brust, dann sah sie über die Schulter zum Tresen des Wirtes. Dieser stand gerade mit vier leeren Humpen am Zapfhahn und drehte ihnen den Rücken zu. Das Geschäft ging diesen Abend gut, der Faustkampf trieb die Menschen wie immer in die Schenke, selbst oder besonders in schweren Zeiten wie diesen. Aufgrund eben jenen Effekts hatten Liam und der Wirt einst ein Abkommen geschlossen. Der Grandessaner wohnte nun schon seit einigen Jahren in einem der Dachgeschosszimmer der Schenke, zahlte eine stark verminderte Miete und genoss einige Privilegien, wie das ein oder andere Freibier. Ob zu diesen Privilegien auch die regelmäßige Entführung des Dienstpersonals gehörte, war in Vergangenheit stets eine Streitfrage gewesen. Doch heute Abend war Liam abermals dazu bereit, es darauf ankommen zu lassen. Er war froh, dass Saskia es ebenfalls war. Nach einem letzten Blick in Richtung des Wirts, gab sie der anderen Schankmaid in ihrer Nähe ein kurzes Zeichen, das diese mit einem wissenden Grinsen quittierte. Dann ergriff sie Liams Hand.
„Gehen wir.“
Fast so energisch, wie sie sich zuvor durch die Menge gedrängt hatte, wand sie sich nun mit Liam im Schlepptau durch die Reihen an Tischen und Bänken, hin zu dem Treppenaufgang zum Obergeschoss der Schenke. Sie hatte es eilig, verspürte mittlerweile wohl das gleiche Brennen, das auch er verspürte. Wann immer ein Kampf bevorstand, zog er sich üblicherweise für einige Tage zurück, konzentrierte sich auf sein Training und vernachlässigte die wenigen sozialen Kontakte, die er pflegte. Er war nicht so naiv zu glauben, dass eine Frau wie Saskia in dieser Zeit stets allein ihrem Bett geschlafen hatte – nicht in ihrem Beruf und nicht mit dem Hungerlohn, mit welcher der Wirt sie abspeiste. Liam war ebenfalls kein Mann, der für seinen exklusiven Umgang mit dem anderen Geschlecht bekannt war. Doch all das spielte keine Rolle, wenn sie zusammen waren.
Vorfreudig folgte er Saskia durch den schmalen Korridor des Obergeschosses, vorbei an windschiefen Türen, durch die vereinzeltes Gestöhne sowie das Knarzen wackeliger Bettgestelle hervordrang. Liam versuchte, die pochenden Schmerzen in seinem Leib so gut wie möglich auszublenden, was ihm nicht besonders gut gelang. Nach seiner Erfahrung stand ihm heute Nacht noch ein weiterer, in vielen Runden ausgetragener Kampf bevor, für den sein Körper fit sein musste. Er war sich nicht sicher, dass er diesmal als Sieger aus ihm hervortreten würde. Ausnahmsweise kannte er seine Gegnerin – und sie war gnadenlos.
Sie bogen gerade um die Ecke des schmalen Korridors, als Saskia abrupt stehen blieb. Liam, dessen Aufmerksamkeit gänzlich von dem wallenden Rock vor sich eingenommen war, stieß gegen sie und sah erst im Aufsehen, warum sie angehalten hatte. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene. Vor seiner Tür stand ein Riegel von einem Mann. Er hatte die muskelbepackten Arme vor seiner massigen Brust verschränkt, sodass die Ärmel seines Mantels zu zerreißen drohten. An seiner Hüfte hing ein kindsgroßes Beil, in dessen Stiel mehrere Kerben eingeritzt wurden. Das Kinn des Mannes zierte ein fein säuberlich getrimmter Spitzbart, der allem Anschein nach sein ganzer Stolz war. Als er sie beide sah, nickte er ihnen mit einer trägen Kopfbewegung zu. Liam seufzte und wandte sich Saskia zu, welche die Bedeutung der Situation sofort erkannte. Wenn sie auch nicht immer volle Kenntnis davon hatte, in welchen Machenschaften er verstrickt war, so war sie nicht dumm. Sie wusste, wie Liam sein Geld verdiente und für wen er arbeitete. Und sie wusste auch, dass manche Fragen besser ungestellt blieben.
„Sieht so aus, als müssten wir die Behandlung deiner Schwellung verschieben…“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Liam einen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf Großer.“
Dann drehte sie sich mit einem Augenzwinkern um und lies ihn mit dem Duft ihrer Haare und einer sichtbaren Beule in der Hose auf dem kalten Korridor stehen. Liam sah ihr missmutig nach, bis sie um die Ecke verschwand. Er zog laut die Nase hoch und kratzte sich im Nacken – bereitete sich nun auch mental auf den restlichen Abend vor, der nun ganz anders verlaufen würde, als er sich erhofft hatte. Es half nichts. Es war nun schon mehr als drei Wochen her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mittlerweile hatte er bereits jede Nacht insgeheim darauf gewartet. Auf eine übermittelte Nachricht vom Wirten, auf ein bekanntes Gesicht im Schankraum, ja auch auf ein Klopfen an der Tür. Doch dass er in seinen eigenen vier Wänden auf ihn warten würde, hätte er nicht erwartet.
„N’Abend Hektor. Ist er schon lange hier?“
Der Riese vor seiner Tür antwortete erneut mit einem Nicken und einem Brummen, das er als Verneinung interpretierte. Hektor war nicht besonders gesprächig, damit hatte Liam sich schnell abgefunden. Wenn er sich besann, so hatte er ihn in all den Jahren nicht mehr als ein paar Sätze von sich geben hören. Doch Liam konnte ihn gut leiden. Der Hüne hatte ihn mehr als einmal aus einer brenzligen Situation herausgeholt und war grundsätzlich jemand, auf den man sich verlassen konnte. Schon allein dafür erlaubte Liams großes Ego es ihm darüber hinwegzusehen, dass Hektor ihn in seiner Anwesenheit klein und schmächtig wirken ließ. Meistens zumindest.
Hektor bückte sich und öffnete die Tür für ihn, dann nahm er wieder seine übliche Haltung ein und starrte träge den Gang entlang. Nachdem Liam mit einem möglichst beiläufigen Bewegung sichergestellt hatte, dass sich seine Erektion gelegt hatte, schob er sich an dem Leibwächter vorbei und schloss die Tür hinter sich. Er war nervös, wie jedes Mal. Es war eine andere Nervosität als jene, die er empfand, wenn er in den Ring stieg. Sie ließ ihn sich schwach und verwundbar vorkommen, nahm ihn mit einem Schlag all die in den Jahren gesammelte Selbstsicherheit. Vor dem grauhaarigen Mann, der nun vor ihm in seinem Zimmer stand, fühlte sich Liam wie ein kleiner Junge. Wie eben jener Junge, der er war, als er ihn damals zum ersten Mal gesehen hatte.
„Guten Abend Jasper.“
Liam blieb nach seinem uncharakteristisch formellen Gruß unschlüssig stehen. Der Alte hatte ihm halb den Rücken zugedreht und schien gerade den Tisch zu inspizieren, auf dem wild verstreut die wenigen Gegenstände lagen, die Liam sein Eigen nannte. Als er Liam hörte, wandte er sich kurz zu ihm um, hob schwach die Hand zum Gruß und schenkte ihm ein mildes Lächeln.
„Guten Abend mein Junge. Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich so frei war, mir Einlass zu verschaffen. Ich wollte nicht am Gang auf dich warten.“
Liam nickte und trat einen Schritt nach vorne. Er zog den unbenutzten Schlüssel aus seiner Tasche und legte ihn in den Schrank, in dem er ihn wie üblich aufbewahrte.
„Natürlich nicht.“
Er griff sich sein Hemd aus einer Lade desselben Schrankes und stülpte es sich hastig über. Während er in der Suche nach dem Kragen mit seinem Kopf gegen den rauen Stoff ankämpfte, hörte er es leise Rascheln. Als er wieder sehen konnte, hatte Jasper das einzige Buch von Liams Tisch zu sich gezogen und begonnen, darin zu blättern
„Ich sehe du liest. Gut. Bildung ist wichtig.“
Liam wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und schwieg betreten. Er hatte das Buch bei einem Einbruch vor ein paar Monaten mitgehen lassen. Es war alt und zerfledert, würde beim Hehler keinen guten Preis erzielen, wenn dieser es überhaupt nehmen würde. Doch Liam hatten die Bilder darin gefallen, Bilder von Landschaften, Burgen und Türmen, von edlen Damen und wie Gockel aufgeplusterten Herren. Er hatte sich einmal die Mühe gemacht, den Titel des Werkes zu entziffern, hatte ihn jedoch bereits wieder längst vergessen. Lesen war anstrengend und auch wenn Liam ahnte, dass selbst er vielleicht doch eines Tages daran Gefallen finden könnte, widerstrebte es ihm, allzu viel Zeit dafür aufzuwenden.
„Hattest du heute Probleme im Ring? Es sah ein paar Mal so aus, als hätte dich dieser Bert in der Zange gehabt…“
Jaspers Stimme war frei von jedem Spur des Vorwurfs und doch stach seine Bemerkung wie eine Ohrfeige. Er sah auf und begutachtete Liams angeschlagenes Gesicht mit seinen eisblauen Augen. Liam spürte Wut und Trotz in sich aufkommen, schluckte beides jedoch schnell herunter. Er hatte vor Beginn des Faustkampfes einen gründlichen Blick durch die Menge gemacht, insbesondere zu dem Tisch gespäht, den Jasper üblicherweise für sich reservierte, wenn er Liam zusah. Er hatte ihn heute Abend nicht gesehen, auch nicht Hektor, den man nun wirklich nicht übersehen konnte. Und doch wusste der Alter wieder einmal alles.
„Der Wirt hat mich gestern darum gebeten, den Kampf etwas in die Länge zu ziehen. Meinte, es wäre so interessanter. Besser fürs Geschäft.“
Seine dreiste Lüge blieb unkommentiert. Jasper nickte nur geistesabwesend, dann wandte er sich wieder Liams Tisch zu. Dieser beobachtete den Bandenchef angespannt von der Seite. Er war hager, noch hagerer, als Liam ihn in Erinnerung hatte. Seine grauen Haare waren in einem gepflegten Zopf gebunden, der über den Kragenansatz seines feinen schwarzen Mantels fiel. Falten hatten sich tief in seine Stirn und seine Wangen gegraben, wohl viele davon erst in den letzten Monaten. Der legendäre Jasper war auf dem besten Wege ein Greis zu werden. Und doch ging nach wie vor eine unleugbare Kraft von ihm aus, die Liam in jenem Moment so auch wie damals spürte. Schweigend sah er ihm dabei zu, wie er gelassen durch den Raum wanderte, anhielt, Dinge inspizierte und dann wieder behutsam an ihren Platz legte. Liam wartete eine gefühlte Ewigkeit darauf, dass Jasper wieder zu sprechen beginnen würde. Doch er tat es nicht. Also musste er es.
„Was kann ich für dich tun?“
Der Alte wandte sich ein weiteres Mal zu ihm um und lächelte. Er deutete auf den einzigen Stuhl in der kleinen Kammer.
„Darf ich mich setzen?“
Liam machte eine einladende Geste und rückte Jasper den Stuhl zurecht. Dann setzte er sich selbst schräg gegenüber auf das Bett, von dem er erst heute Nachmittag aufgestanden war. Der Höhenunterschied zwischen ihnen unterstrich perfekt die Beziehung der beiden Männer. Liam blickte auf in das Gesicht des Menschen, der ihn einst in den sicheren Tod geschickt hatte. Vor ihm saß sein Boss, sein Mentor, sein Vaterersatz. Und Liam würde tun, was er von ihm verlangte.
Ein dünnes Rinnsal davon sickerte von einem Riss knapp unter der linken Braue über sein Gesicht. Es brannte in seinem Auge und ließ es leicht tränen, rann, eine rote Spur hinterlassend, an seiner Nase vorbei und tränkte die Haare seines Bartes. Von dort tropfte es in seinen Mundwinkel und verbreitete den Geschmack von Metall in seinem Mund. Es war ein Geschmack, der ihm durchaus vertraut war und einfach dazugehörte. Dazugehörte, wie das Kribbeln in seinen Waden, die sich ausbreitende Taubheit in seinen Händen, der Schweiß in seinem Nacken und der dumpfe Schmerz an jenen Stellen seines Körpers, an denen die Fäuste seines Gegenübers ihr Ziel gefunden hatten.
Auch die Szenerie um ihn herum war ihm vertraut. Die Hinterstube der Schenke zum Bettler war in das flackernde Licht des großen Kaminfeuers getaucht. Kerzen an den Wänden und einem hölzernen Luster tropften billiges Wachs auf die Köpfe der Gäste, die an den schmalen Tischen am Rande saßen oder sich in einem Halbkreis um den in Kreide gezeichneten Ring versammelt hatten. Die Luft war stickig, roch nach Pfeifenrauch und alkoholischen Getränken. Ein Chor aus lauten Rufen kommentierte jede ihrer Bewegungen, mal mit Zustimmung, mal mit Frustration, die Höhe eventueller Wettbeträge ließ sich an der Intensität der jeweiligen Stimmen erahnen. Das Klientel der Schenke war wie immer ein wilder Haufen an rauen Gesellen, finsteren Ganoven und liederlicher Männern und Frauen, die frei ihren Lastern nachgingen. Es war ein Milieu, mit dem sich Liam trotz all der ihm innewohnenden Abgründe stets verbunden fühlen würde. Die Menschen des Außenrings waren ein eigenes Volk – leidgebeutelt und doch voller Tatendrang. Man spielte bis zum letzten Hemd, trank bis zum letzten Schluck, prügelte sich, bis einem das Licht ausging. Sie alle teilten die Erfahrungen von Hunger, Kälte, Angst und Not, und waren bereit, alles dafür zu geben, sie auch nur für wenige Stunden am Tag hinter sich zu lassen.
Von seinem Gegner wusste Liam wie üblich herzlich wenig. Die Zeiten waren längst vorbei, in denen er seinen Kontrahenten Tage vor dem eigentlichen Kampf heimlich nachgestellt und nach Möglichkeit ihr Training verfolgt hatte. In Wahrheit war all diese Mühe stets umsonst gewesen. Erst im Ring lernte man seinen Gegner wirklich kennen – dies war auch heute der Fall.
Er hieß Bert und war ein glatzköpfiger Hüne mit Pausbacken, Pockennarben und einer ausgesprochen hässlichen Tätowierung am rechten Oberarm. Soviel Liam erkennen konnte, sollte es eine an einen Anker gelehnte Meerjungfrau darstellen. Stattdessen sah es aus, wie eine missgestaltete Gurke an einem Angelhaken. Er selbst hatte lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, sich eine Tätowierung stechen zu lassen, war jedoch nie dazu gekommen. Er hatte dabei an ein Motiv gedacht, das die Blicke von den Narben auf seinem Rücken ablenken, seine Gegner einschüchtern und die Weiber scharf machen sollte. Ein Drache vielleicht… ein scharfer Drache. Wie dumm diese Idee aus heutiger Sicht auch klang, so zog er sie immer noch dem grünen Flossengemüse auf Berts Oberarm vor, das gerade in die Horizontale ging, als dieser erneut zum Schlag ausholte.
Liam tänzelte zur Seite und wich somit auch den beiden folgenden schnellen Hieben von Berts Linker aus. Da sein Gegner eine Spur großgewachsener als er selbst war, hatte sich seine Reichweite schnell als Hindernis erwiesen. Schon innerhalb der ersten Minute hatte Liam drei direkte Treffer einstecken müssen, einen Hieb gegen die Stirn und zwei in die Seite. Weitere waren gefolgt. Bert war hingegen außer einigen Streiftreffern schadlos aus dem bisherigen Schlagaustausch herausgegangen. Der Glatzkopf feixte erregt, zeigte dabei eine unschöne Zahnlücke und ging erneut in den Angriff über. Liam duckte sich unter einem Hagel an Schlägen weg, einer davon streifte sein Ohr und lies es stechend sirren, ein weiterer traf ihn unschön in die Magengrube. Er steckte noch mehrere solcher Hiebe ein, während er von Bert durch den Ring getrieben wurde und nur vereinzelte Schläge zurückschickte. Am Rande hörte er dabei, wie die Stimmung der Menge zu kippen drohte. Ja, er war als Favorit in diesen Kampf gegangen, galt als lokaler Held dieser heruntergekommenen Schenke. Doch niemand konnte es sich hier erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Verlor er den Kampf, verlor er sein Gesicht – und Liam würde dies nicht zulassen.
Noch einige Sekunden ließ er die Schläge auf sich niedersausen, wich aus wo er konnte, blockierte wo es möglich war und erlitt Treffer, wo es sich nicht vermeiden ließ. Dann sah er eine Öffnung und reagierte instinktiv. Ein scharfer linken Haken in Berts Rippen gab Liam den nötigen Raum zum Atmen. Sich unter dem darauf reagierenden Rundumschlag schräg wegduckend, folgten zwei weitere gezielte Hiebe in die Seite seines Gegners, welcher erstmals einen Schritt zurücktat. Dabei ließ dieser sein Kinn ungedeckt und büßte dies prompt mit einem Aufwärtshaken ein, der seinen Kopf nach hinten schleudern und ihn zurücktaumeln ließ. Die langen Arme des Glatzkopfs verloren die Kraft, ein letzter blinder Versuch einer Gegenwehr schrammte schwach an Liams Jochbein ab. Noch einmal hob Bert die Hände, ließ die gurkengrüne Meerjungfrau ein letztes Mal emporschwimmen. Dann traf ihn Liams Faust mitten im Gesicht. Seine Augen rollten ins Kopfinnere, die stämmigen Kniee knickten ein und seine Schultern fielen nach vorne. Dann kippte er rücklings nach hinten und stürzte wie ein Sack Weizen zu Boden.
Liam schloss für einen Moment die Augen und atmete scharf aus. Dann ließ er gemeinsam mit dem um ihn ausbrechenden Jubel das Gefühl des Triumphes in sich hineinsickern. Er löste die Fäuste und spürte wie die Anspannung aus seinen Gliedern wich. An ihrer Stelle blieb der pochende Schmerz, der in den kommenden Stunden nur noch schlimmer werden würde. Doch er gehörte bekanntlich dazu. Gehörte dazu, wie die nun auf ihn gratulierend herabprasselnden Schulterklopfer der ringnahen Gäste, wie der Humpen kühlen Bieres, den man ihm in die Hand drückte und wie das ausbrechende Gedrängel um den Ecktisch, an dem die Wettgewinne verteilt wurden. Und noch etwas gehörte dazu. Noch jemand.
In der Menge tat sich ein Spalt auf, durch den sich eine adrett gekleidete Blondine drängte. Trotz ihrer zierlichen Statur schob sie dermaßen selbstsicher Gäste mit einem Vielfachen ihres eigenen Körpergewichts aus dem Weg, sodass sich nicht einmal der hartgesottenste Kerl darunter zu protestieren traute. Dabei nutzte sie das mittlerweile leere hölzerne Tablett in ihren Händen wie eine vorgehaltene Waffe. Sie arbeitete nun seit mehr als drei Jahren als Schankmaid und wusste genau, wie sie sich in diesem Etablissement zu verhalten hatte. Ihr Name war Saskia.
„Na endlich! Lass mich mal sehen, wie schlimm es diesmal ist.“
Liam drehte sich zu ihr und grinste sie durch einen Schleier aus Blut blinzelnd an. Begleitet vom Johlen der Menge beugte er sich zu der wehrhaften Blondine herunter und stahl stürmisch einen Kuss von ihren Lippen. Prompt erhielt er dafür einen Schlag mit dem Servierbrett gegen die Brust, der ihn glucksend nach hinten taumeln ließ.
„Nicht hier du Hohlkopf!“
Das leise Zucken von Saskias Mundwinkeln minderte die Intensität ihres bösen Blickes, welcher jedoch immer noch ausreichte, um Liam in seinem Siegesrausch dazu zu bewegen, ihrem ursprünglichen Befehl rasch Folge zu leisten.
„Bin ich noch hübsch genug für dich?“
Während die Schankmaid mit einem nassen Stofffetzen aus ihrer Schürzentasche das Blut von Liams Gesicht tupfte und dieser mit noch zittrigen Fingern die Bandagen um seine Knöchel löste, begann sich die Menge um sie herum allmählich zu zerstreuen. Aus den Augenwinkeln sah Liam, wie Bert von zwei Männern aus dem Schankraum geschleift wurde.
„Etwa so hübsch wie der Hackbraten von letzter Woche… Hör mal auf so blöd zu grinsen!“
Saskia tastete behutsam die wunden Stellen in seinem Gesicht ab. Sie hatte mittlerweile Übung darin. Als sie beim Riss an Liams Stirn angelangt war, wurde der Schmerz stärker. Erst wartete er auf ihr Urteil, dann packte ihn die Ungeduld.
„Nähen?“
Sie sah noch einmal prüfend über die Verletzung, dann schüttelte sie den Kopf. Sie war keine Ärztin, doch Liam vertraute ihr in dieser Hinsicht mehr als jedem beliebigen Quacksalber des Außenrings. Bisher hatte er keinen Grund gefunden, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem war er kein großer Freund der piksenden Nadel…
„Ist nicht allzu tief. Was ist mit deiner Seite?“
Ihre warmen Hände tasteten die einzelnen Rippen seines Brustkorbs ab, dann wanderten sie tiefer zu den Blutergüssen in seiner Lendengegend. Keine Berührung löste gröbere Schmerzen aus, als zu erwarten wäre. Stattdessen begann sich etwas anderes zu regen – eine ganz und gar natürliche Reaktion, die zwar nicht schmerzte, doch dringend der Behandlung bedurfte. Es war die gleiche Folge nach jedem seiner Siege. Wohin sonst sollte auch all das in Wallung geratene Blut der Kampfes hinfließen?
„Der geht es gut, aber hier unten hab ich ne ganz schlimme Schwellung. Hier, genau zwischen den…“
Diesmal schaffte er es gerade noch, ihrem Hieb auszuweichen. Als sie das Tablett wieder senkte, konnte sie das Lächeln auf ihren Lippen nicht länger verbergen. Sie sah gut aus, wenn sie lächelte, und Liam war jedes Mal stolz darauf, wenn er dafür verantwortlich war, dass sie es tat. Er nahm ihr das Tablett aus den Händen und warf es auf den Tisch neben ihnen. Dann legte er die Arme um ihre Hüfte und zog sie sanft etwas näher zu sich. Sie ließ es zu. Dass dabei etwas Blut an ihrer Schürze kam, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Kannst du dir den Rest des Abends frei nehmen?“
Saskia biss sich auf die Unterlippe. Für einen Sekundenbruchteil huschten ihre grünen Augen über seine im Licht des Feuers glänzende Brust, dann sah sie über die Schulter zum Tresen des Wirtes. Dieser stand gerade mit vier leeren Humpen am Zapfhahn und drehte ihnen den Rücken zu. Das Geschäft ging diesen Abend gut, der Faustkampf trieb die Menschen wie immer in die Schenke, selbst oder besonders in schweren Zeiten wie diesen. Aufgrund eben jenen Effekts hatten Liam und der Wirt einst ein Abkommen geschlossen. Der Grandessaner wohnte nun schon seit einigen Jahren in einem der Dachgeschosszimmer der Schenke, zahlte eine stark verminderte Miete und genoss einige Privilegien, wie das ein oder andere Freibier. Ob zu diesen Privilegien auch die regelmäßige Entführung des Dienstpersonals gehörte, war in Vergangenheit stets eine Streitfrage gewesen. Doch heute Abend war Liam abermals dazu bereit, es darauf ankommen zu lassen. Er war froh, dass Saskia es ebenfalls war. Nach einem letzten Blick in Richtung des Wirts, gab sie der anderen Schankmaid in ihrer Nähe ein kurzes Zeichen, das diese mit einem wissenden Grinsen quittierte. Dann ergriff sie Liams Hand.
„Gehen wir.“
Fast so energisch, wie sie sich zuvor durch die Menge gedrängt hatte, wand sie sich nun mit Liam im Schlepptau durch die Reihen an Tischen und Bänken, hin zu dem Treppenaufgang zum Obergeschoss der Schenke. Sie hatte es eilig, verspürte mittlerweile wohl das gleiche Brennen, das auch er verspürte. Wann immer ein Kampf bevorstand, zog er sich üblicherweise für einige Tage zurück, konzentrierte sich auf sein Training und vernachlässigte die wenigen sozialen Kontakte, die er pflegte. Er war nicht so naiv zu glauben, dass eine Frau wie Saskia in dieser Zeit stets allein ihrem Bett geschlafen hatte – nicht in ihrem Beruf und nicht mit dem Hungerlohn, mit welcher der Wirt sie abspeiste. Liam war ebenfalls kein Mann, der für seinen exklusiven Umgang mit dem anderen Geschlecht bekannt war. Doch all das spielte keine Rolle, wenn sie zusammen waren.
Vorfreudig folgte er Saskia durch den schmalen Korridor des Obergeschosses, vorbei an windschiefen Türen, durch die vereinzeltes Gestöhne sowie das Knarzen wackeliger Bettgestelle hervordrang. Liam versuchte, die pochenden Schmerzen in seinem Leib so gut wie möglich auszublenden, was ihm nicht besonders gut gelang. Nach seiner Erfahrung stand ihm heute Nacht noch ein weiterer, in vielen Runden ausgetragener Kampf bevor, für den sein Körper fit sein musste. Er war sich nicht sicher, dass er diesmal als Sieger aus ihm hervortreten würde. Ausnahmsweise kannte er seine Gegnerin – und sie war gnadenlos.
Sie bogen gerade um die Ecke des schmalen Korridors, als Saskia abrupt stehen blieb. Liam, dessen Aufmerksamkeit gänzlich von dem wallenden Rock vor sich eingenommen war, stieß gegen sie und sah erst im Aufsehen, warum sie angehalten hatte. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene. Vor seiner Tür stand ein Riegel von einem Mann. Er hatte die muskelbepackten Arme vor seiner massigen Brust verschränkt, sodass die Ärmel seines Mantels zu zerreißen drohten. An seiner Hüfte hing ein kindsgroßes Beil, in dessen Stiel mehrere Kerben eingeritzt wurden. Das Kinn des Mannes zierte ein fein säuberlich getrimmter Spitzbart, der allem Anschein nach sein ganzer Stolz war. Als er sie beide sah, nickte er ihnen mit einer trägen Kopfbewegung zu. Liam seufzte und wandte sich Saskia zu, welche die Bedeutung der Situation sofort erkannte. Wenn sie auch nicht immer volle Kenntnis davon hatte, in welchen Machenschaften er verstrickt war, so war sie nicht dumm. Sie wusste, wie Liam sein Geld verdiente und für wen er arbeitete. Und sie wusste auch, dass manche Fragen besser ungestellt blieben.
„Sieht so aus, als müssten wir die Behandlung deiner Schwellung verschieben…“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Liam einen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf Großer.“
Dann drehte sie sich mit einem Augenzwinkern um und lies ihn mit dem Duft ihrer Haare und einer sichtbaren Beule in der Hose auf dem kalten Korridor stehen. Liam sah ihr missmutig nach, bis sie um die Ecke verschwand. Er zog laut die Nase hoch und kratzte sich im Nacken – bereitete sich nun auch mental auf den restlichen Abend vor, der nun ganz anders verlaufen würde, als er sich erhofft hatte. Es half nichts. Es war nun schon mehr als drei Wochen her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mittlerweile hatte er bereits jede Nacht insgeheim darauf gewartet. Auf eine übermittelte Nachricht vom Wirten, auf ein bekanntes Gesicht im Schankraum, ja auch auf ein Klopfen an der Tür. Doch dass er in seinen eigenen vier Wänden auf ihn warten würde, hätte er nicht erwartet.
„N’Abend Hektor. Ist er schon lange hier?“
Der Riese vor seiner Tür antwortete erneut mit einem Nicken und einem Brummen, das er als Verneinung interpretierte. Hektor war nicht besonders gesprächig, damit hatte Liam sich schnell abgefunden. Wenn er sich besann, so hatte er ihn in all den Jahren nicht mehr als ein paar Sätze von sich geben hören. Doch Liam konnte ihn gut leiden. Der Hüne hatte ihn mehr als einmal aus einer brenzligen Situation herausgeholt und war grundsätzlich jemand, auf den man sich verlassen konnte. Schon allein dafür erlaubte Liams großes Ego es ihm darüber hinwegzusehen, dass Hektor ihn in seiner Anwesenheit klein und schmächtig wirken ließ. Meistens zumindest.
Hektor bückte sich und öffnete die Tür für ihn, dann nahm er wieder seine übliche Haltung ein und starrte träge den Gang entlang. Nachdem Liam mit einem möglichst beiläufigen Bewegung sichergestellt hatte, dass sich seine Erektion gelegt hatte, schob er sich an dem Leibwächter vorbei und schloss die Tür hinter sich. Er war nervös, wie jedes Mal. Es war eine andere Nervosität als jene, die er empfand, wenn er in den Ring stieg. Sie ließ ihn sich schwach und verwundbar vorkommen, nahm ihn mit einem Schlag all die in den Jahren gesammelte Selbstsicherheit. Vor dem grauhaarigen Mann, der nun vor ihm in seinem Zimmer stand, fühlte sich Liam wie ein kleiner Junge. Wie eben jener Junge, der er war, als er ihn damals zum ersten Mal gesehen hatte.
„Guten Abend Jasper.“
Liam blieb nach seinem uncharakteristisch formellen Gruß unschlüssig stehen. Der Alte hatte ihm halb den Rücken zugedreht und schien gerade den Tisch zu inspizieren, auf dem wild verstreut die wenigen Gegenstände lagen, die Liam sein Eigen nannte. Als er Liam hörte, wandte er sich kurz zu ihm um, hob schwach die Hand zum Gruß und schenkte ihm ein mildes Lächeln.
„Guten Abend mein Junge. Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich so frei war, mir Einlass zu verschaffen. Ich wollte nicht am Gang auf dich warten.“
Liam nickte und trat einen Schritt nach vorne. Er zog den unbenutzten Schlüssel aus seiner Tasche und legte ihn in den Schrank, in dem er ihn wie üblich aufbewahrte.
„Natürlich nicht.“
Er griff sich sein Hemd aus einer Lade desselben Schrankes und stülpte es sich hastig über. Während er in der Suche nach dem Kragen mit seinem Kopf gegen den rauen Stoff ankämpfte, hörte er es leise Rascheln. Als er wieder sehen konnte, hatte Jasper das einzige Buch von Liams Tisch zu sich gezogen und begonnen, darin zu blättern
„Ich sehe du liest. Gut. Bildung ist wichtig.“
Liam wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und schwieg betreten. Er hatte das Buch bei einem Einbruch vor ein paar Monaten mitgehen lassen. Es war alt und zerfledert, würde beim Hehler keinen guten Preis erzielen, wenn dieser es überhaupt nehmen würde. Doch Liam hatten die Bilder darin gefallen, Bilder von Landschaften, Burgen und Türmen, von edlen Damen und wie Gockel aufgeplusterten Herren. Er hatte sich einmal die Mühe gemacht, den Titel des Werkes zu entziffern, hatte ihn jedoch bereits wieder längst vergessen. Lesen war anstrengend und auch wenn Liam ahnte, dass selbst er vielleicht doch eines Tages daran Gefallen finden könnte, widerstrebte es ihm, allzu viel Zeit dafür aufzuwenden.
„Hattest du heute Probleme im Ring? Es sah ein paar Mal so aus, als hätte dich dieser Bert in der Zange gehabt…“
Jaspers Stimme war frei von jedem Spur des Vorwurfs und doch stach seine Bemerkung wie eine Ohrfeige. Er sah auf und begutachtete Liams angeschlagenes Gesicht mit seinen eisblauen Augen. Liam spürte Wut und Trotz in sich aufkommen, schluckte beides jedoch schnell herunter. Er hatte vor Beginn des Faustkampfes einen gründlichen Blick durch die Menge gemacht, insbesondere zu dem Tisch gespäht, den Jasper üblicherweise für sich reservierte, wenn er Liam zusah. Er hatte ihn heute Abend nicht gesehen, auch nicht Hektor, den man nun wirklich nicht übersehen konnte. Und doch wusste der Alter wieder einmal alles.
„Der Wirt hat mich gestern darum gebeten, den Kampf etwas in die Länge zu ziehen. Meinte, es wäre so interessanter. Besser fürs Geschäft.“
Seine dreiste Lüge blieb unkommentiert. Jasper nickte nur geistesabwesend, dann wandte er sich wieder Liams Tisch zu. Dieser beobachtete den Bandenchef angespannt von der Seite. Er war hager, noch hagerer, als Liam ihn in Erinnerung hatte. Seine grauen Haare waren in einem gepflegten Zopf gebunden, der über den Kragenansatz seines feinen schwarzen Mantels fiel. Falten hatten sich tief in seine Stirn und seine Wangen gegraben, wohl viele davon erst in den letzten Monaten. Der legendäre Jasper war auf dem besten Wege ein Greis zu werden. Und doch ging nach wie vor eine unleugbare Kraft von ihm aus, die Liam in jenem Moment so auch wie damals spürte. Schweigend sah er ihm dabei zu, wie er gelassen durch den Raum wanderte, anhielt, Dinge inspizierte und dann wieder behutsam an ihren Platz legte. Liam wartete eine gefühlte Ewigkeit darauf, dass Jasper wieder zu sprechen beginnen würde. Doch er tat es nicht. Also musste er es.
„Was kann ich für dich tun?“
Der Alte wandte sich ein weiteres Mal zu ihm um und lächelte. Er deutete auf den einzigen Stuhl in der kleinen Kammer.
„Darf ich mich setzen?“
Liam machte eine einladende Geste und rückte Jasper den Stuhl zurecht. Dann setzte er sich selbst schräg gegenüber auf das Bett, von dem er erst heute Nachmittag aufgestanden war. Der Höhenunterschied zwischen ihnen unterstrich perfekt die Beziehung der beiden Männer. Liam blickte auf in das Gesicht des Menschen, der ihn einst in den sicheren Tod geschickt hatte. Vor ihm saß sein Boss, sein Mentor, sein Vaterersatz. Und Liam würde tun, was er von ihm verlangte.