Schweiß und Blut

In dieser zugigen, alten Kaschemme treffen sich Rumtreiber, Bettler, aber auch Händler, die auf der Durchreise sind und sich teure Zimmer nicht leisten können.
Antworten
Benutzeravatar
Liam
Gast
Gast

Schweiß und Blut

Beitrag von Liam » Samstag 31. Juli 2021, 16:03

[Einstiegspost]

Liam schmeckte Blut auf seinen Lippen.
Ein dünnes Rinnsal davon sickerte von einem Riss knapp unter der linken Braue über sein Gesicht. Es brannte in seinem Auge und ließ es leicht tränen, rann, eine rote Spur hinterlassend, an seiner Nase vorbei und tränkte die Haare seines Bartes. Von dort tropfte es in seinen Mundwinkel und verbreitete den Geschmack von Metall in seinem Mund. Es war ein Geschmack, der ihm durchaus vertraut war und einfach dazugehörte. Dazugehörte, wie das Kribbeln in seinen Waden, die sich ausbreitende Taubheit in seinen Händen, der Schweiß in seinem Nacken und der dumpfe Schmerz an jenen Stellen seines Körpers, an denen die Fäuste seines Gegenübers ihr Ziel gefunden hatten.
Auch die Szenerie um ihn herum war ihm vertraut. Die Hinterstube der Schenke zum Bettler war in das flackernde Licht des großen Kaminfeuers getaucht. Kerzen an den Wänden und einem hölzernen Luster tropften billiges Wachs auf die Köpfe der Gäste, die an den schmalen Tischen am Rande saßen oder sich in einem Halbkreis um den in Kreide gezeichneten Ring versammelt hatten. Die Luft war stickig, roch nach Pfeifenrauch und alkoholischen Getränken. Ein Chor aus lauten Rufen kommentierte jede ihrer Bewegungen, mal mit Zustimmung, mal mit Frustration, die Höhe eventueller Wettbeträge ließ sich an der Intensität der jeweiligen Stimmen erahnen. Das Klientel der Schenke war wie immer ein wilder Haufen an rauen Gesellen, finsteren Ganoven und liederlicher Männern und Frauen, die frei ihren Lastern nachgingen. Es war ein Milieu, mit dem sich Liam trotz all der ihm innewohnenden Abgründe stets verbunden fühlen würde. Die Menschen des Außenrings waren ein eigenes Volk – leidgebeutelt und doch voller Tatendrang. Man spielte bis zum letzten Hemd, trank bis zum letzten Schluck, prügelte sich, bis einem das Licht ausging. Sie alle teilten die Erfahrungen von Hunger, Kälte, Angst und Not, und waren bereit, alles dafür zu geben, sie auch nur für wenige Stunden am Tag hinter sich zu lassen.
Von seinem Gegner wusste Liam wie üblich herzlich wenig. Die Zeiten waren längst vorbei, in denen er seinen Kontrahenten Tage vor dem eigentlichen Kampf heimlich nachgestellt und nach Möglichkeit ihr Training verfolgt hatte. In Wahrheit war all diese Mühe stets umsonst gewesen. Erst im Ring lernte man seinen Gegner wirklich kennen – dies war auch heute der Fall.
Er hieß Bert und war ein glatzköpfiger Hüne mit Pausbacken, Pockennarben und einer ausgesprochen hässlichen Tätowierung am rechten Oberarm. Soviel Liam erkennen konnte, sollte es eine an einen Anker gelehnte Meerjungfrau darstellen. Stattdessen sah es aus, wie eine missgestaltete Gurke an einem Angelhaken. Er selbst hatte lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, sich eine Tätowierung stechen zu lassen, war jedoch nie dazu gekommen. Er hatte dabei an ein Motiv gedacht, das die Blicke von den Narben auf seinem Rücken ablenken, seine Gegner einschüchtern und die Weiber scharf machen sollte. Ein Drache vielleicht… ein scharfer Drache. Wie dumm diese Idee aus heutiger Sicht auch klang, so zog er sie immer noch dem grünen Flossengemüse auf Berts Oberarm vor, das gerade in die Horizontale ging, als dieser erneut zum Schlag ausholte.
Liam tänzelte zur Seite und wich somit auch den beiden folgenden schnellen Hieben von Berts Linker aus. Da sein Gegner eine Spur großgewachsener als er selbst war, hatte sich seine Reichweite schnell als Hindernis erwiesen. Schon innerhalb der ersten Minute hatte Liam drei direkte Treffer einstecken müssen, einen Hieb gegen die Stirn und zwei in die Seite. Weitere waren gefolgt. Bert war hingegen außer einigen Streiftreffern schadlos aus dem bisherigen Schlagaustausch herausgegangen. Der Glatzkopf feixte erregt, zeigte dabei eine unschöne Zahnlücke und ging erneut in den Angriff über. Liam duckte sich unter einem Hagel an Schlägen weg, einer davon streifte sein Ohr und lies es stechend sirren, ein weiterer traf ihn unschön in die Magengrube. Er steckte noch mehrere solcher Hiebe ein, während er von Bert durch den Ring getrieben wurde und nur vereinzelte Schläge zurückschickte. Am Rande hörte er dabei, wie die Stimmung der Menge zu kippen drohte. Ja, er war als Favorit in diesen Kampf gegangen, galt als lokaler Held dieser heruntergekommenen Schenke. Doch niemand konnte es sich hier erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Verlor er den Kampf, verlor er sein Gesicht – und Liam würde dies nicht zulassen.
Noch einige Sekunden ließ er die Schläge auf sich niedersausen, wich aus wo er konnte, blockierte wo es möglich war und erlitt Treffer, wo es sich nicht vermeiden ließ. Dann sah er eine Öffnung und reagierte instinktiv. Ein scharfer linken Haken in Berts Rippen gab Liam den nötigen Raum zum Atmen. Sich unter dem darauf reagierenden Rundumschlag schräg wegduckend, folgten zwei weitere gezielte Hiebe in die Seite seines Gegners, welcher erstmals einen Schritt zurücktat. Dabei ließ dieser sein Kinn ungedeckt und büßte dies prompt mit einem Aufwärtshaken ein, der seinen Kopf nach hinten schleudern und ihn zurücktaumeln ließ. Die langen Arme des Glatzkopfs verloren die Kraft, ein letzter blinder Versuch einer Gegenwehr schrammte schwach an Liams Jochbein ab. Noch einmal hob Bert die Hände, ließ die gurkengrüne Meerjungfrau ein letztes Mal emporschwimmen. Dann traf ihn Liams Faust mitten im Gesicht. Seine Augen rollten ins Kopfinnere, die stämmigen Kniee knickten ein und seine Schultern fielen nach vorne. Dann kippte er rücklings nach hinten und stürzte wie ein Sack Weizen zu Boden.
Liam schloss für einen Moment die Augen und atmete scharf aus. Dann ließ er gemeinsam mit dem um ihn ausbrechenden Jubel das Gefühl des Triumphes in sich hineinsickern. Er löste die Fäuste und spürte wie die Anspannung aus seinen Gliedern wich. An ihrer Stelle blieb der pochende Schmerz, der in den kommenden Stunden nur noch schlimmer werden würde. Doch er gehörte bekanntlich dazu. Gehörte dazu, wie die nun auf ihn gratulierend herabprasselnden Schulterklopfer der ringnahen Gäste, wie der Humpen kühlen Bieres, den man ihm in die Hand drückte und wie das ausbrechende Gedrängel um den Ecktisch, an dem die Wettgewinne verteilt wurden. Und noch etwas gehörte dazu. Noch jemand.
In der Menge tat sich ein Spalt auf, durch den sich eine adrett gekleidete Blondine drängte. Trotz ihrer zierlichen Statur schob sie dermaßen selbstsicher Gäste mit einem Vielfachen ihres eigenen Körpergewichts aus dem Weg, sodass sich nicht einmal der hartgesottenste Kerl darunter zu protestieren traute. Dabei nutzte sie das mittlerweile leere hölzerne Tablett in ihren Händen wie eine vorgehaltene Waffe. Sie arbeitete nun seit mehr als drei Jahren als Schankmaid und wusste genau, wie sie sich in diesem Etablissement zu verhalten hatte. Ihr Name war Saskia.
„Na endlich! Lass mich mal sehen, wie schlimm es diesmal ist.“
Liam drehte sich zu ihr und grinste sie durch einen Schleier aus Blut blinzelnd an. Begleitet vom Johlen der Menge beugte er sich zu der wehrhaften Blondine herunter und stahl stürmisch einen Kuss von ihren Lippen. Prompt erhielt er dafür einen Schlag mit dem Servierbrett gegen die Brust, der ihn glucksend nach hinten taumeln ließ.
„Nicht hier du Hohlkopf!“
Das leise Zucken von Saskias Mundwinkeln minderte die Intensität ihres bösen Blickes, welcher jedoch immer noch ausreichte, um Liam in seinem Siegesrausch dazu zu bewegen, ihrem ursprünglichen Befehl rasch Folge zu leisten.
„Bin ich noch hübsch genug für dich?“
Während die Schankmaid mit einem nassen Stofffetzen aus ihrer Schürzentasche das Blut von Liams Gesicht tupfte und dieser mit noch zittrigen Fingern die Bandagen um seine Knöchel löste, begann sich die Menge um sie herum allmählich zu zerstreuen. Aus den Augenwinkeln sah Liam, wie Bert von zwei Männern aus dem Schankraum geschleift wurde.
„Etwa so hübsch wie der Hackbraten von letzter Woche… Hör mal auf so blöd zu grinsen!“
Saskia tastete behutsam die wunden Stellen in seinem Gesicht ab. Sie hatte mittlerweile Übung darin. Als sie beim Riss an Liams Stirn angelangt war, wurde der Schmerz stärker. Erst wartete er auf ihr Urteil, dann packte ihn die Ungeduld.
„Nähen?“
Sie sah noch einmal prüfend über die Verletzung, dann schüttelte sie den Kopf. Sie war keine Ärztin, doch Liam vertraute ihr in dieser Hinsicht mehr als jedem beliebigen Quacksalber des Außenrings. Bisher hatte er keinen Grund gefunden, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem war er kein großer Freund der piksenden Nadel…
„Ist nicht allzu tief. Was ist mit deiner Seite?“
Ihre warmen Hände tasteten die einzelnen Rippen seines Brustkorbs ab, dann wanderten sie tiefer zu den Blutergüssen in seiner Lendengegend. Keine Berührung löste gröbere Schmerzen aus, als zu erwarten wäre. Stattdessen begann sich etwas anderes zu regen – eine ganz und gar natürliche Reaktion, die zwar nicht schmerzte, doch dringend der Behandlung bedurfte. Es war die gleiche Folge nach jedem seiner Siege. Wohin sonst sollte auch all das in Wallung geratene Blut der Kampfes hinfließen?
„Der geht es gut, aber hier unten hab ich ne ganz schlimme Schwellung. Hier, genau zwischen den…“
Diesmal schaffte er es gerade noch, ihrem Hieb auszuweichen. Als sie das Tablett wieder senkte, konnte sie das Lächeln auf ihren Lippen nicht länger verbergen. Sie sah gut aus, wenn sie lächelte, und Liam war jedes Mal stolz darauf, wenn er dafür verantwortlich war, dass sie es tat. Er nahm ihr das Tablett aus den Händen und warf es auf den Tisch neben ihnen. Dann legte er die Arme um ihre Hüfte und zog sie sanft etwas näher zu sich. Sie ließ es zu. Dass dabei etwas Blut an ihrer Schürze kam, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Kannst du dir den Rest des Abends frei nehmen?“
Saskia biss sich auf die Unterlippe. Für einen Sekundenbruchteil huschten ihre grünen Augen über seine im Licht des Feuers glänzende Brust, dann sah sie über die Schulter zum Tresen des Wirtes. Dieser stand gerade mit vier leeren Humpen am Zapfhahn und drehte ihnen den Rücken zu. Das Geschäft ging diesen Abend gut, der Faustkampf trieb die Menschen wie immer in die Schenke, selbst oder besonders in schweren Zeiten wie diesen. Aufgrund eben jenen Effekts hatten Liam und der Wirt einst ein Abkommen geschlossen. Der Grandessaner wohnte nun schon seit einigen Jahren in einem der Dachgeschosszimmer der Schenke, zahlte eine stark verminderte Miete und genoss einige Privilegien, wie das ein oder andere Freibier. Ob zu diesen Privilegien auch die regelmäßige Entführung des Dienstpersonals gehörte, war in Vergangenheit stets eine Streitfrage gewesen. Doch heute Abend war Liam abermals dazu bereit, es darauf ankommen zu lassen. Er war froh, dass Saskia es ebenfalls war. Nach einem letzten Blick in Richtung des Wirts, gab sie der anderen Schankmaid in ihrer Nähe ein kurzes Zeichen, das diese mit einem wissenden Grinsen quittierte. Dann ergriff sie Liams Hand.
„Gehen wir.“
Fast so energisch, wie sie sich zuvor durch die Menge gedrängt hatte, wand sie sich nun mit Liam im Schlepptau durch die Reihen an Tischen und Bänken, hin zu dem Treppenaufgang zum Obergeschoss der Schenke. Sie hatte es eilig, verspürte mittlerweile wohl das gleiche Brennen, das auch er verspürte. Wann immer ein Kampf bevorstand, zog er sich üblicherweise für einige Tage zurück, konzentrierte sich auf sein Training und vernachlässigte die wenigen sozialen Kontakte, die er pflegte. Er war nicht so naiv zu glauben, dass eine Frau wie Saskia in dieser Zeit stets allein ihrem Bett geschlafen hatte – nicht in ihrem Beruf und nicht mit dem Hungerlohn, mit welcher der Wirt sie abspeiste. Liam war ebenfalls kein Mann, der für seinen exklusiven Umgang mit dem anderen Geschlecht bekannt war. Doch all das spielte keine Rolle, wenn sie zusammen waren.
Vorfreudig folgte er Saskia durch den schmalen Korridor des Obergeschosses, vorbei an windschiefen Türen, durch die vereinzeltes Gestöhne sowie das Knarzen wackeliger Bettgestelle hervordrang. Liam versuchte, die pochenden Schmerzen in seinem Leib so gut wie möglich auszublenden, was ihm nicht besonders gut gelang. Nach seiner Erfahrung stand ihm heute Nacht noch ein weiterer, in vielen Runden ausgetragener Kampf bevor, für den sein Körper fit sein musste. Er war sich nicht sicher, dass er diesmal als Sieger aus ihm hervortreten würde. Ausnahmsweise kannte er seine Gegnerin – und sie war gnadenlos.
Sie bogen gerade um die Ecke des schmalen Korridors, als Saskia abrupt stehen blieb. Liam, dessen Aufmerksamkeit gänzlich von dem wallenden Rock vor sich eingenommen war, stieß gegen sie und sah erst im Aufsehen, warum sie angehalten hatte. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene. Vor seiner Tür stand ein Riegel von einem Mann. Er hatte die muskelbepackten Arme vor seiner massigen Brust verschränkt, sodass die Ärmel seines Mantels zu zerreißen drohten. An seiner Hüfte hing ein kindsgroßes Beil, in dessen Stiel mehrere Kerben eingeritzt wurden. Das Kinn des Mannes zierte ein fein säuberlich getrimmter Spitzbart, der allem Anschein nach sein ganzer Stolz war. Als er sie beide sah, nickte er ihnen mit einer trägen Kopfbewegung zu. Liam seufzte und wandte sich Saskia zu, welche die Bedeutung der Situation sofort erkannte. Wenn sie auch nicht immer volle Kenntnis davon hatte, in welchen Machenschaften er verstrickt war, so war sie nicht dumm. Sie wusste, wie Liam sein Geld verdiente und für wen er arbeitete. Und sie wusste auch, dass manche Fragen besser ungestellt blieben.
„Sieht so aus, als müssten wir die Behandlung deiner Schwellung verschieben…“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Liam einen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf Großer.“
Dann drehte sie sich mit einem Augenzwinkern um und lies ihn mit dem Duft ihrer Haare und einer sichtbaren Beule in der Hose auf dem kalten Korridor stehen. Liam sah ihr missmutig nach, bis sie um die Ecke verschwand. Er zog laut die Nase hoch und kratzte sich im Nacken – bereitete sich nun auch mental auf den restlichen Abend vor, der nun ganz anders verlaufen würde, als er sich erhofft hatte. Es half nichts. Es war nun schon mehr als drei Wochen her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mittlerweile hatte er bereits jede Nacht insgeheim darauf gewartet. Auf eine übermittelte Nachricht vom Wirten, auf ein bekanntes Gesicht im Schankraum, ja auch auf ein Klopfen an der Tür. Doch dass er in seinen eigenen vier Wänden auf ihn warten würde, hätte er nicht erwartet.
„N’Abend Hektor. Ist er schon lange hier?“
Der Riese vor seiner Tür antwortete erneut mit einem Nicken und einem Brummen, das er als Verneinung interpretierte. Hektor war nicht besonders gesprächig, damit hatte Liam sich schnell abgefunden. Wenn er sich besann, so hatte er ihn in all den Jahren nicht mehr als ein paar Sätze von sich geben hören. Doch Liam konnte ihn gut leiden. Der Hüne hatte ihn mehr als einmal aus einer brenzligen Situation herausgeholt und war grundsätzlich jemand, auf den man sich verlassen konnte. Schon allein dafür erlaubte Liams großes Ego es ihm darüber hinwegzusehen, dass Hektor ihn in seiner Anwesenheit klein und schmächtig wirken ließ. Meistens zumindest.
Hektor bückte sich und öffnete die Tür für ihn, dann nahm er wieder seine übliche Haltung ein und starrte träge den Gang entlang. Nachdem Liam mit einem möglichst beiläufigen Bewegung sichergestellt hatte, dass sich seine Erektion gelegt hatte, schob er sich an dem Leibwächter vorbei und schloss die Tür hinter sich. Er war nervös, wie jedes Mal. Es war eine andere Nervosität als jene, die er empfand, wenn er in den Ring stieg. Sie ließ ihn sich schwach und verwundbar vorkommen, nahm ihn mit einem Schlag all die in den Jahren gesammelte Selbstsicherheit. Vor dem grauhaarigen Mann, der nun vor ihm in seinem Zimmer stand, fühlte sich Liam wie ein kleiner Junge. Wie eben jener Junge, der er war, als er ihn damals zum ersten Mal gesehen hatte.
„Guten Abend Jasper.“
Liam blieb nach seinem uncharakteristisch formellen Gruß unschlüssig stehen. Der Alte hatte ihm halb den Rücken zugedreht und schien gerade den Tisch zu inspizieren, auf dem wild verstreut die wenigen Gegenstände lagen, die Liam sein Eigen nannte. Als er Liam hörte, wandte er sich kurz zu ihm um, hob schwach die Hand zum Gruß und schenkte ihm ein mildes Lächeln.
„Guten Abend mein Junge. Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich so frei war, mir Einlass zu verschaffen. Ich wollte nicht am Gang auf dich warten.“
Liam nickte und trat einen Schritt nach vorne. Er zog den unbenutzten Schlüssel aus seiner Tasche und legte ihn in den Schrank, in dem er ihn wie üblich aufbewahrte.
„Natürlich nicht.“
Er griff sich sein Hemd aus einer Lade desselben Schrankes und stülpte es sich hastig über. Während er in der Suche nach dem Kragen mit seinem Kopf gegen den rauen Stoff ankämpfte, hörte er es leise Rascheln. Als er wieder sehen konnte, hatte Jasper das einzige Buch von Liams Tisch zu sich gezogen und begonnen, darin zu blättern
„Ich sehe du liest. Gut. Bildung ist wichtig.“
Liam wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und schwieg betreten. Er hatte das Buch bei einem Einbruch vor ein paar Monaten mitgehen lassen. Es war alt und zerfledert, würde beim Hehler keinen guten Preis erzielen, wenn dieser es überhaupt nehmen würde. Doch Liam hatten die Bilder darin gefallen, Bilder von Landschaften, Burgen und Türmen, von edlen Damen und wie Gockel aufgeplusterten Herren. Er hatte sich einmal die Mühe gemacht, den Titel des Werkes zu entziffern, hatte ihn jedoch bereits wieder längst vergessen. Lesen war anstrengend und auch wenn Liam ahnte, dass selbst er vielleicht doch eines Tages daran Gefallen finden könnte, widerstrebte es ihm, allzu viel Zeit dafür aufzuwenden.
„Hattest du heute Probleme im Ring? Es sah ein paar Mal so aus, als hätte dich dieser Bert in der Zange gehabt…“
Jaspers Stimme war frei von jedem Spur des Vorwurfs und doch stach seine Bemerkung wie eine Ohrfeige. Er sah auf und begutachtete Liams angeschlagenes Gesicht mit seinen eisblauen Augen. Liam spürte Wut und Trotz in sich aufkommen, schluckte beides jedoch schnell herunter. Er hatte vor Beginn des Faustkampfes einen gründlichen Blick durch die Menge gemacht, insbesondere zu dem Tisch gespäht, den Jasper üblicherweise für sich reservierte, wenn er Liam zusah. Er hatte ihn heute Abend nicht gesehen, auch nicht Hektor, den man nun wirklich nicht übersehen konnte. Und doch wusste der Alter wieder einmal alles.
„Der Wirt hat mich gestern darum gebeten, den Kampf etwas in die Länge zu ziehen. Meinte, es wäre so interessanter. Besser fürs Geschäft.“
Seine dreiste Lüge blieb unkommentiert. Jasper nickte nur geistesabwesend, dann wandte er sich wieder Liams Tisch zu. Dieser beobachtete den Bandenchef angespannt von der Seite. Er war hager, noch hagerer, als Liam ihn in Erinnerung hatte. Seine grauen Haare waren in einem gepflegten Zopf gebunden, der über den Kragenansatz seines feinen schwarzen Mantels fiel. Falten hatten sich tief in seine Stirn und seine Wangen gegraben, wohl viele davon erst in den letzten Monaten. Der legendäre Jasper war auf dem besten Wege ein Greis zu werden. Und doch ging nach wie vor eine unleugbare Kraft von ihm aus, die Liam in jenem Moment so auch wie damals spürte. Schweigend sah er ihm dabei zu, wie er gelassen durch den Raum wanderte, anhielt, Dinge inspizierte und dann wieder behutsam an ihren Platz legte. Liam wartete eine gefühlte Ewigkeit darauf, dass Jasper wieder zu sprechen beginnen würde. Doch er tat es nicht. Also musste er es.
„Was kann ich für dich tun?“
Der Alte wandte sich ein weiteres Mal zu ihm um und lächelte. Er deutete auf den einzigen Stuhl in der kleinen Kammer.
„Darf ich mich setzen?“
Liam machte eine einladende Geste und rückte Jasper den Stuhl zurecht. Dann setzte er sich selbst schräg gegenüber auf das Bett, von dem er erst heute Nachmittag aufgestanden war. Der Höhenunterschied zwischen ihnen unterstrich perfekt die Beziehung der beiden Männer. Liam blickte auf in das Gesicht des Menschen, der ihn einst in den sicheren Tod geschickt hatte. Vor ihm saß sein Boss, sein Mentor, sein Vaterersatz. Und Liam würde tun, was er von ihm verlangte.

Benutzeravatar
Erzähler
Nicht-Spieler-Charakter
Nicht-Spieler-Charakter
Beiträge: 6930
Registriert: Montag 4. Januar 2010, 20:11
Lebensenergie:

Geld: 0D, 0L, 0F
Ausrüstung: [br][/br]
Zum Vorzeigen: [br][/br]

Re: Schweiß und Blut

Beitrag von Erzähler » Sonntag 1. August 2021, 00:53

Wer in Grandea zu dieser Stunde noch auf den Beinen war, hatte entweder den Verstand verloren, wollte die Sorgen im billigen Bier ertränken oder sein Glück im Spiel suchen. So oder so würde man früher oder später die feine Melodie des quietschenden Türschildes der Schenke ‚zum Bettler' hören und seine Schritte hierher lenken. Dieser Ort war der einzige Treffpunkt dieser Art, im Außenring von Grandea und bot all dem Gesindel eine Möglichkeit, die Misere des Lebens für einen Moment zu vergessen. Immer mal wieder kam es dazu, dass der Wirt der Spelunke, ein dicklicher, schwitzender Mann mit Augenringen und schwarzen Haaren, im Hinterzimmer seines zwielichtigen Etablissements Kämpfe austragen ließ. Er war Geschäftsmann und als solcher versprach er sich stets eine gute gefüllte Abendkasse, wenn sich zwei willige Opfer gegenseitig die Nase brachen. Heute brummte der Laden wieder mal vortrefflich, denn der Kampf schien schon im Vorfeld entschieden. Im mit Kreide gezeichneten Ring standen sich ein dunkelhaariger, breitschultriger Mann und ein glatzköpfiger mit auffälliger Zahnlücke und Pausbacken gegenüber. Letzterer hatte seine massigen Pranken erhoben und feuerte gerade eine Salve an Schlägen auf den anderen ab, der ihnen nur bedingt ausweichen konnte. Immer wieder ging ein Raunen durch die Umstehenden, wenn der Kleinere von beiden einen Treffer einzustecken hatte. Schmerzhaft waren die Schläge und würden sicherlich am nächsten Tag unschöne, blau-grüne Flecken hinterlassen. Spätestens in einer Woche, wären sie dann zu einem hässlichen Lila gewechselt. Die Bettlerkneipe hatte den Charme eines abgewrackten Ersatzteillagers. Nichts passte zusammen, bedingt durch die vielen Auseinandersetzungen, die leider des Öfteren dem Mobiliar den Garaus machten. Der Wirt hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sein Geld in etwas Einheitliches zu investieren. Zufrieden sah er kurz zu den Kontrahenten und verschränkte für einen Moment die Arme. Ein selbstgefälliges Lächeln huschte über das verschwitzte Gesicht, als er grob die zahlende Kundschaft überprüfte. Ja, Liam war ein Garant dafür , dass sich die Spieler unter seiner Kundschaft zahlreich anlocken ließen. Vielen war die rechte Hand des heimlichen Königs von Grandea's Außenrings bekannt und keinem würde es einfallen, an seinem Können zu zweifeln. Nicht wenigen hatte er bereits einen Besuch abstatten müssen und bei so manchem grölenden Zuschauer, musste der Kiefer gehörig jucken, wenn sie Liam zuschlagen sahen.
Leider lieferte Jaspers Schläger keine schöne Show ab. Immer wieder tänzelte er bloß um den Hünen herum, kam kaum zum Schlag und wurde stattdessen selber ziemlich bearbeitet. Bert, sein Kontrahent, wähnte sich bereits auf der Zielgeraden, als er seine hässliche Zahnlücke grinsend offenbarte und seine verhunzte Meeresgurke zum wiederholten Schlag tanzen ließ. Die Buh-Rufe wurden häufiger, lauter und von irgendwo kam Liam ein kleiner, klebriger Spuckefleck entgegen geflogen. Drohend wurden Fäuste gehoben, die Schimpfwörter gingen in der Masse unter, doch Liam verstand die Menge, ohne einzelne Worte zu hören. Es war nicht der erste Kampf dieser Art und würde ganz sicher nicht sein letzter sein. Während der Abschaum des Außenrings lediglich das gewettete Geld verlor, sollte er unterliegen, würde das für Liam bedeuten, dass er sein Ansehen und womöglich auch seinen Job verlor. Wer konnte schon einen Schläger gebrauchen, der keinen Respekt verdient hatte? Nein, verlieren wäre keine Option für Liam.

Immer wieder wechselten sich Bert und er ab, drehten sich mit erhobenen Fäusten umeinander wie zwei Sandkrabben um eine imaginäre Beute, bis Bert die Nase gestrichen voll hatte und eine wahre Flut an Schlägen auf den Kleineren niederregnen ließ. Liam schaffte es, sich unter einem dieser Schläge weg zu ducken und dann sah er es: Ein Sandkorn im ansonsten gut geschmierten Getriebe. Bert hatte eine Schwachstelle offenbart, die Liam instinktiv ausnutzte. Der gebürtige Grandessaner bearbeitete den Kontrahenten gezielt und effektiv. Nach nur wenigen Augenblicken, in denen das Gebrüll mehr und mehr anschwoll, schaffte er es Bert für eine längere Zeit süße Träume zu bescheren und schaute, schwer atmend, auf seinen Triumph herab. Einen Augenblick lang war es still in der Spelunke, dann brandete tosender Beifall auf, Freudenschreie, Schulterklopfen und der Gang zum Tisch mit den Wetteinsätzen. Das Bier, welches ihm schwappend in die Hand gedrückt wurde, benetzte seine zittrige Hand. Doch das war egal, der Sieg gehörte ihm, ebenso wie die singenden Gewinner. Für unglaubliche 2 Minuten war Liam der Held. Danach löste sich die Zockerrunde auf und widmete sich dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung: Saufen. Ausgelassen war die Stimmung und während gelacht und gegrölt wurde, schob sich endlich der Hauptgewinn in Liam’s Blickfeld. Saskia war auch mit seiner eingeschränkten, blutverschmierten Sicht eine Wucht und er wusste, wieso er sich immer mal wieder nach ihr die Finger leckte.
Die zierliche Blondine strahlte die Selbstsicherheit eines Berserkers aus und hatte keine Mühe, sich in der rauen Welt Gehör zu verschaffen. Mit einem vom Siegestaumel beflügelten Kuss, empfing Liam seine Bettgeschichte, was sie ihm gleich wieder abgewöhnte. Fachmännisch beäugte sie seine Blessuren, während er sich dazu hinreißen ließ, eine weitere Diskussion mit dem Wirt zu riskieren, indem er sie zu sich einlud. Die dralle Blondine zögerte nur einen Moment, erhöhte damit aber lediglich das Verlangen. Sie war kein Kind von Traurigkeit und Liam besaß kein Exklusivrecht, doch war es zu einer sich wiederholenden Geschichte geworden, dass sie miteinander den Sieg auf ihre Weise feierten. Wohlwissend, dass er durchaus damit zu kämpfen haben würde, Saskia eine unvergessliche Nacht zu bescheren, achtete er indes nur darauf wie ihre Hüften den umhüllenden Stoff zum Schwingen brachten, als sie abrupt den Weg beendete und er gegen sie stieß. Es genügte ein kurzer Blick, um zu wissen, dass der Abend völlig anders verlaufen würde, als er es sich vorgenommen hatte. Die Verabschiedung von dem angenehmen Teil dieses Abends, fiel recht zügig aus und Liam musste sich zusammenreißen. Der Türsteher, ein menschgewordener Berg mit Armen die mal hätten Beine werden sollen, nickte Liam zu und antwortete in gewohnter Sparsamkeit auf seine Frage. Nachdem er eintrat, brauchte er nicht lange, um den hohen Besuch im bescheidenen Reich zu entdecken. „Guten Abend Jasper.“, hörte Liam sich gehorsam sagen und fühlte sich in seinem eigenen kleinen Reich seltsam in die Ecke gedrängt.

Es dauerte eine kleine Verzögerung, in der sich Jasper nicht regte. Lediglich die schlanke Hand schob mit den Fingern einige Habseligkeiten hin und her, während die andere Hand locker in der Hosentasche steckte. Als hätte er eine Aufgabe beendet, wandte er sich dann zu Liam und hob minimal die Hand zum Gruß: „Guten Abend mein Junge. Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich so frei war, mir Einlass zu verschaffen. Ich wollte nicht am Gang auf dich warten.“. Auf Liam’s Antwort nickte er langsam, er hätte nichts anderes als Antwort erwartet. Liam nutzte die Gelegenheit, sich ein Hemd anzuziehen. Schweigsam blätterte Jasper in einem Buch, das Liam erst vor kurzem hatte mitgehen lassen. „Ich sehe du liest. Gut. Bildung ist wichtig.“, ließ er vernehmen und tippte kurz mit einem Finger auf den Einband. Er wirkte gedankenverloren und alt. Liam hatte seinen Boss seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen und musste feststellen, dass er schlicht und ergreifend, alt geworden war. Hattest du heute Probleme im Ring? Es sah ein paar Mal so aus, als hätte dich dieser Bert in der Zange gehabt…“. Die Bemerkung saß. Liam wünschte sich von dem Mann, zu dem er aufschaute, keine Belehrungen. Er wollte Anerkennung.
Doch Liam hatte gelernt sich in der Zeit bei Jasper und vor allem in dessen Gegenwart zu beherrschen. „Der Wirt hat mich gestern darum gebeten, den Kampf etwas in die Länge zu ziehen. Meinte, es wäre so interessanter. Besser fürs Geschäft.“ . Jasper hustete leise, als wäre es beiläufig und er zog seine Hand aus seiner Hosentasche, um sich nun gänzlich seinem Schützling zu zuwenden. Ruhig taxierten die eisblauen Augen den malträtierten Mann und musterten seine Verletzungen. Dann wandte er sich wieder ab und begann damit, durch den kleinen Raum zu wandern. Viel hatte Liam nicht an persönlicher Habe. Das meiste gehörte zum Inventar wie der einzige Holzstuhl, die kleine Anrichte mit Waschschüssel und Kanne. Liam musste sich das Wasser selber aus dem Innenhof hinter der Schenke holen, ebenso dort seine Notdurft verrichten. Ein eigenes Bad hatte sein Zimmer jedenfalls nicht. Jasper ließ Liam noch einige zähe Momente zappeln, bevor er sich nach dem Platz erkundigte. Noch bevor Liam geantwortet hatte, setzte sich der hagere Grauhaarige und schlug ein Bein über das andere. Er zupfte sich einige imaginäre Fussel vom Revers und hob dann den eisigen Blick, um Liam anzusehen. „Ich habe einen Auftrag für dich.“, fiel der Ältere gleich mit der Tür ins Haus. Er legte die Hände übereinander und hielt den Blick in dem verletzten Gesicht seines Mitarbeiters. Eine stoische Ruhe ging von Jasper aus und hatte nie an Einschüchterungspotenzial verloren. „Es gibt hier eine militante, neue Gruppe die es sich zur Aufgabe gemacht hat, unsere Lieferanten und Geschäftspartner zu drangsalieren. Ich möchte, dass du sie ausfindig und unschädlich machst.“, eröffnete er seelenruhig und blinzelte nicht mal dabei. Erneut suchten Daumen und Zeigefinger nach einem Fussel auf seiner Hose, bevor er weiter sprach.„Soweit Hector herausgefunden hat, handelt es sich um Meuchlerpack, schlampig organisiert, keine Führung und dennoch..“, er hielt inne und verlieh seinem Vortrag eine säuerliche Note. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, als würden ihm die Entwicklungen über Gebühr belasten, doch das konnte dem großen Jasper nicht passieren oder? „…haben sie es geschafft, in den letzten beiden Wochen drei unserer Geldquellen auszumerzen.“, Zorn flackerte kurz in den hellen Augen auf, als er Liam damit traf. „Ich brauche dir nicht zu sagen, dass das aufhören muss.“. Er fing sich wieder und kehrte zurück zur alten respekteinflößenden Art. Jasper lehnte sich etwas auf dem hölzernen Stuhl vor und dieser knarzte unter der Bewegung. „Mir ist im Grunde völlig egal, wie du es anstellst. Aber ich will diese Bande ausgelöscht sehen.“, gab er noch mal den Hinweis und erhob sich tatsächlich, als wäre alles gesagt. Japser richtete die Knöpfe an seinem Mantel, während er Liam die Chance gab, zu hinterfragen.„Oh und fang am Markplatz an. Sie nennen sich wohl… Leuchtende Blume oder so.. oder war es rachsüchtiger Mond? Irgendetwas Albernes halt, ich glaube nicht, dass du Mühe haben wirst, sie zu finden.“. Liam kannte Jasper jetzt bereits seit geraumer Zeit und nicht immer hatte er so viel Vertrauen zu ihm besessen, wie heute. Jasper schien nicht alles erzählt zu haben. Zumindest klang das alles doch recht dürftig für das Ausmaß, was diese ominöse Gruppe bereits erreicht hatte. Die Frage war, würde Liam losstürmen und den Befehl pflichtschuldig ausführen? Oder benötigte er noch mehr Informationen? Eines war jedenfalls klar: Sich nach diesem Kampf länger auszuruhen, würde jetzt nicht mehr in Frage kommen.
Bild

Benutzeravatar
Liam
Gast
Gast

Re: Schweiß und Blut

Beitrag von Liam » Montag 2. August 2021, 11:40

Jasper hatte ihn zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt aufgesucht. Mit brummenden Schädel lauschte Liam seinen Worten und strich zerstreut über die aufblühenden Blutergüsse an seiner Seite. Der Riss über seiner Braue schmerzte und hatte durch das geistesabwesende Runzeln seiner Stirn erneut schwach zu bluten begonnen. Als er dies bemerkte, griff er einen Zipfel der Bettdecke und wischte sich ungestüm über das Gesicht. Ein roter Fleck besudelte den weichen Stoff, gesellte sich zu den vielen anderen Flecken aus Körperflüssigkeiten, welche die Decke verunstalteten. Liam hätte sie schon längst wegwerfen sollen, besser noch verbrennen. Oder er wartete darauf, bis die in ihr hausenden Milben sie gänzlich zerfressen hatten.
Ihr Gespräch verlief, wie es zu erwarten war und folgte dem üblichen Muster: Jasper sprach und Liam hörte zu. Der Alte nannte sein Auftrag, umriss in groben Zügen das Problem, dessen sich sein Handlanger an seiner Stelle annehmen sollte. Oft waren es Geld oder besondere Wertobjekte, deren Beschaffung er Liam nahelegte. Mal war es eine Botschaft, die er nachdrücklich und unmissverständlich übermittelt wissen wollte. Und manchmal, so wie es eben an diesem Abend der Fall war, forderte er Blut.
Liams Begeisterung für letztere Art von Aufträge hielt sich in Grenzen, wofür es mehrere Gründe gab. Morde und Bandenkriege waren stets mit jenen Gefahren verbunden, welche sich bei einem gut geplanten Einbruch oder einem simplen Erpressungsversuch in der Regel vermeiden ließen. Die erbitterte Gegenwehr der Opfer sowie das gesteigerte Interesse der Wachen waren Rahmenbedingungen, die alles andere als einladend wirkten. Liam war ein harter Kerl, doch auch harte Kerle starben schnell durch eine tiefe Stichwunde oder einem Strick um den Hals. Und dann gab es da noch die moralischen Skrupel, die der Grandessaner mit sich trug, wenn es ums Töten ging: Es war das eine, einem fetten Händler aufzulauern und ihm und seiner Leibwache die Fresse zu polieren. Zähne ließen sich ersetzen, Knochen heilten und auch den Verlust des einen oder anderen Fingers konnte man gut verkraften. Aber einem Menschen das Leben zu nehmen, war irreversibel. Wann immer es geschah, belastete es Liam – deutlich mehr, als er es jemals zugeben würde. Stets versuchte er dann an sein Versprechen zu denken, an sein Mantra aus dem Kindesalter. Er würde nie mehr schwach sein. Und wenn der Weg zur Stärke über Leichen ging, so würde er diesen Zoll bezahlen.
Als Jasper mit seinen Ausführungen endete und keine Anstalten mehr machte, sie weiter zu ergänzen, fasste Liam die erhaltenen Informationen in seinem Kopf zusammen. Sie waren äußerst mager, doch er musste sich wie immer mit dem begnügen, was der Alte wusste oder ihm mitzuteilen bereit war. Er würde der Sache schon irgendwie Herr werden – jedoch nicht allein. Eine Bande an Meuchelmördern ausfindig zu machen und dann auszuschalten, klang beim besten Willen nicht nach einem Ein-Mann-Job.
„Ich gehe davon aus, dass ich mir für diesen Auftrag ein paar der Jungs holen kann? Dexter, Arran und Levi zum Beispiel…“
Er nannte die Namen jener Männer, mit denen er bereits in Vergangenheit mehrmals zusammengearbeitet hatte. Es waren gute, talentierte Männer, denen er vertraute und die er voraussichtlich binnen einer Stunde zusammentrommeln konnte. Einen davon meinte er gar kürzlich unter den Gästen im Schankraum gesehen zu haben. Liam hoffte, dass er noch nicht allzu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte.
„Dann würde es sicher auch nicht schaden, wenn ich einen von Hectors Informanten sprechen könnte.“
Liam hatte bereits eine gewisse Vorstellung, wie er vorzugehen hatte, doch er war sich nicht zu schade, jede Hilfestellung anzunehmen, die er kriegen konnte. Er wusste nicht, wie lange ihn Jaspers Auftrag diesmal beschäftigen würde – nur eine Nacht, eher eine Woche oder vielleicht sogar ein ganzes Monat? Er wusste nur, dass der Alte früher als später Resultate sehen wollte. Und je eher Liam wieder Zeit für sich hatte, umso besser.

Benutzeravatar
Erzähler
Nicht-Spieler-Charakter
Nicht-Spieler-Charakter
Beiträge: 6930
Registriert: Montag 4. Januar 2010, 20:11
Lebensenergie:

Geld: 0D, 0L, 0F
Ausrüstung: [br][/br]
Zum Vorzeigen: [br][/br]

Re: Schweiß und Blut

Beitrag von Erzähler » Montag 2. August 2021, 16:05

Liam durfte sicher sein, dass Jasper ihn genauestens beobachtet hatte. Dass der Grauhaarige genau wusste, dass sein Goldjunge nicht in der besten Verfassung war, um gerade einen Auftrag in diesem Ausmaß auszuführen. Und trotzdem stand er vor ihm, ungerührt ob seiner Blutungen, und betraute ihn mit dieser Aufgabe. Was war zeitlich so wichtig, als dass er ihn nicht auch hätte später aufsuchen können? Jasper war selten bei Liam zu Gast. Zumeist schickte er Kuriere, die dem Grandessaner eine Botschaft überbrachten mit genauen Instruktionen, wo er sich wann einzufinden hatte. Jetzt jedoch, stand er in seinem mehr als bescheidenen, wenn nicht sogar heruntergekommenen, Heim und schickte ihn auf Mission.
Die eisblauen Augen ruhten gelassen auf Liam, während er darüber nachdachte, welche Informationen er erhalten hatte und wie er damit einen erfolgreichen Plan schmieden konnte. Liam war inzwischen ein Könner auf seinem Gebiet und selbst mit wenigen Informationen, reihten sich Optionen und Ideen hinter seiner Stirn aneinander, die ihm verschiedenste Ansätze boten, um der Aufgabe gerecht zu werden. Er fragte nach Hilfe und in den Augen des Alten flackerte kurz etwas. Für einen Bruchteil einer Sekunde schien es fast so, als wolle er ablehnen, bevor er die Fingerspitzen aneinander legte und nachdachte. „Du kannst Dexter um Hilfe bitten, Arran und Levi sind anderweitig beschäftigt.“, teilte er kühl mit und musterte den befleckten Bezug, neben Liam. Er rümpfte die Nase, ließ seinen Schützling teilhaben an seinen Empfindungen und schaute sich noch mal in dem kleinen Drecksloch, das Liam sein Zuhause nannte, um. „Weißt du, Liam… ich hätte eine andere Immobilie für dich, sollten dich mal.. die Flöhe beißen.“, , offerierte er und schnalzte kurz die Zunge. "Wie willst du unter solchen Umständen jemals etwas aus dir machen? Dein Heim spiegelt dein Gemüt wider.“, philosophierte er ungefragt und es war ihm anzumerken, dass er es missbilligte, dass sein bester Mann hier residierte, während er selber deutlich mehr Komfort zu bieten hätte. Das Angebot war sicher in der Vergangenheit häufiger gemacht worden, doch es würde eben auch bedeuten, dass Liam ständig unter den bestechenden Augen Jaspers lebte und agierte. Ob das etwas für ihn wäre?

Jetzt aber erhob sein Boss die Stimme minimal: „Hector!“, kam es harsch und binnen Sekunden senkte sich die Klinke der Tür und der massige Brecher kam, den Kopf etwas eingezogen, herein. „Schließ die Tür. Hier haben nicht nur die Wände Ohren", hüstelte Jasper und warf einen vielsagenden Blick auf das Bett, welches Liam als Sitzgelegenheit auserkoren hatte. Hector gehorchte aufs Wort und schloss die Tür etwas grob, sodass die Wand darum erzitterte und Jasper eine Augenbraue heben ließ, da das ganz und gar nicht unauffällig war. Doch er kannte seinen Klotz an Wachhund und es reichte ein tadelnder Blick, um Hector ein tief-grollendes „‘tschuldige Boss", zu entlocken. Unkommentiert beließ der Alte es dabei und nickte zu Liam. „Liam wird sich der Sache am Markt annehmen. Vereinbare ein Treffen mit deiner Quelle und schick ihn hin.“, dann drehte er sich nochmal zu seinem Schützling. „Dexter ist unten, wenn du dich beeilst, wird er noch in der Lage sein, sich wie ein Mensch zu artikulieren.“, sagte er und machte wieder mal deutlich, dass er genau Bescheid wusste, über die Umstände in und um Liams Leben und das der anderen sogenannten Mitarbeiter.
Auch wenn er alt war, war er verschlagen und gut informiert. Jasper zu unterschätzen, wäre ein Fehler, den niemand zweimal machen könnte. Liam wusste das besser, als sonst jemand. "Ach und Liam? Diskretion. Ich kann es nicht gebrauchen, dass jemand dahinter kommt, dass ich etwas mit dieser Sache zu tun habe.“, warnte er ihn und unterstrich das Ganze mit einem intensiven Blick, der keinen Spielraum für Fehler bot.
Danach überbrückte der Alte etwas die Distanz zu seinem Schützling auf dem Bett und fasste unter sein Kinn, drehte leicht den Kopf von Liam und besah sich die blutende Blessur. „Kaum der Rede wert. Sieh zu, dass du dein Gesicht säuberst und etwas vorzeigbarer aussiehst.“, meinte er etwas unpassend und dennoch unterstrich es eine latente Sorge, die er für Liam empfinden konnte. Seit er ihn unter seine Fittiche genommen hatte, kümmerte er sich insbesondere um den Braunhaarigen. Auf seine Weise und doch unverkennbar.

Danach wischte er sich jedoch die Finger in einem Stofftuch aus seinem Ärmel ab und ließ es auf dem Tisch liegen. „Hector wird das Treffen mit dem Kontakt anberaumen“, er sah zum Großen und dieser nickte, „in einer Stunde. Sei pünktlich."Gab er als letzten Hinweis von sich und verließ danach das Zimmer mit seinem Brecher im Rücken. Liam hatte also eine Stunde Zeit, bis er in der Nähe vom Markt den Informanten von Hector treffen würde. Zuvor musste er sich noch halbwegs fit kriegen, um nicht bereits beim Marsch aus den Schuhen zu kippen und er musste Dexter den Auftrag unterbreiten und ihn instruieren. Und davon abhalten, sich völlig abzuschießen. Ganz egal wie Liam die nächsten Minuten seiner freien Zeit nutzte, der Weg würde ihn aus seinem Zimmer wieder hinunter in den Schankraum führen. Hier war es deutlich leerer geworden, auch wenn der Rest der Gäste sich noch immer feucht fröhlich betranken. Saskia war nirgendwo zu sehen und vermutlich hatte sie andere Pläne für diesen Abend abgemacht. Irgendwo weiter hinten im Raum, donnerte die unverkennbare kratzige und hohe Stimme von Dexter. Der Mann war eher schmächtig und flink, im Prinzip das Gegenteil von Liam. Doch er hatte einen entscheidenden Vorteil: Dexter war hervorragend darin, einem Schatten zu gleichen. Wenn es darum ging jemandem aufzulauern, ihn zu erschrecken oder auszurauben, ohne dass dieser es bemerkte, selbst wenn er dem Flinken direkt ins Gesicht schaute, dann war Dexter der Mann. Er war der Mann für die Rückendeckung -sofern man ihm vertraute. Seine höhere Stimme hatte er einem kleinen Zwischenfall mit einem Messer und einer geprellten Hure zu verdanken, die ihm für seinen Versuch, das Geld einzustreichen, kurzum entmannt hatte. Jedenfalls erzählte man sich das. Was wirklich geschehen war, wusste niemand so genau und Dexter schwieg sich darüber aus. So oder so würde Liam den Gauner gut gebrauchen können und fand ihn, wie eh und je umringt von armen Tropfen, die nicht merkten, wie er ihnen das Geld aus der Tasche zog, während er mit ihnen das beliebte Hütchenspiel mit ihnen spielte. Hierbei musste jemand Geld darauf setzen, dass er seinen Augen soweit traute und genau wusste, wohin Dexter die kleine Kugel, versteckt unter drei Bechern, schob. Der dürre Mensch mit den schwarzen Haaren, beschiss jeden der es versuchte und sackte Kohle für Kohle ein. Irgendwann, denn das passierte mit Gaunern, wurde ein Zuschauer so zornig, dass er den Tisch um- und sich brüllend auf den Schelm warf, um ihm das süffisante Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Dexter befand sich immer in Schwierigkeiten, egal wann Liam ihm begegnete oder aufsuchte.
Bild

Antworten

Zurück zu „Die Schenke "Zum Bettler"“