Der Weg zum Hafen
Verfasst: Mittwoch 26. Dezember 2012, 10:10
Einstiegspost
Gemessenen Schrittes zog er den Weg von der Stadt zum Hafen entlang. Der Schnee auf der Straße war niedergetrampelt und zu einer dicken Schicht aus Eis geworden. Andere Völker hätten womöglich Schwierigkeiten gehabt, auf dieser spiegelglatten Oberfläche sicher von A nach B zu kommen. Die Mantroner aber waren es gewohnt hier zu marschieren. Und jene Mantroner, die im Hafen arbeiteten oder als Ruderer oder Krieger zur See fuhren, noch viel mehr. Zwei volle Tage hatte Kjartan nun auf der Insel verbracht. Als sein Schiff, die Drachenodem, nach einer einwöchigen und vor allem ereignislosen Patrouillenfahrt wieder im Hafen Mantrons anlegte, war Kjartans erster Weg nach Hause zu seiner Familie. Nachdem der Tapfere kurz die wichtigsten Neuigkeiten mit seiner Familie ausgetauscht hatte, ging es weiter in die Taverne. Schließlich wärmt einen Mann nichts mehr auf als der süße Met des Wirtes. Außerdem musste Kjartan auch sicher gehen, wirklich ALLE Neuigkeiten zu hören. Und welcher Ort war dazu besser geeignet als die Taverne? Und so verbrachte der Krieger eine Nacht, wie er sie liebte: mit Met, Geschichten und derben Späßen.
Die beiden darauffolgenden Tage nutzte der Tapfere, um Zeit mit seinen Geschwistern, den beiden abgerichteten Wölfen und natürlich seinen Freunden zu verbringen. Seine Stimmung trübte nur, dass sein Bruder nicht anwesend war. Der Junge diente wie Kjartan auf einem Eissegler als Krieger zur See. So war es nicht selten, dass Kjartan und sein Bruder nicht zur selben Zeit auf Landgang in der Heimat waren. Damit mussten sie sich abfinden, auch wenn es die beiden etwas wurmte.
Wenn wir das nächste Mal beide in Mantron sind, müssen wir mit Thure reden, damit wir gemeinsam auf die Drachenodem kommen, überlegte Kjartan und marschierte weiter gen Hafen. Er freute sich bereits auf die Ausfahrt. Sicher war er gerne in Mantron bei seiner Familie und den Verwandten und Bekannten. Aber ebensosehr liebte der Krieger die See. Ohne eines der beiden – Land und See – wäre er wohl auf Dauer nicht glücklich geworden. Nach jeder Patrouillenfahrt freute sich der Mantroner auf die Heimkehr, und nach jeder Heimkehr freute sich der Mantroner auf die Zeit am Schiff.
Unterbewusst wanderte Kjartans Hand an den Knauf seiner Axt, als wolle er sich vergewissern, dass er alles dabei hatte. Selbstverständlich hatte er alle seine Sachen dabei. Zwei ganze Stunden lang hatte er seine Ausrüstung überprüft, die Axt und die Speerspitze geschärft und den Trinkschlauch befüllt. Hiermit war nicht zu spaßen: ein Krieger zur See brauchte all seine Utensilien, denn fehlte auch nur ein Teil, könnte es seinen Tod bedeuten. Eine schartige Axt besiegte keine Feinde, eine ungeölte Axt war vor Wind und Wetter auf See nicht gefeit, ein stumpfer Speer prallte vom Gegner ab wie ein gewöhnlicher Holzstock.
Vor sich sah Kjartan bereits die Dächer der Hafengebäude und so er sich darauf konzentrierte einige der Schiffsmasten. Der Tapfere blickte nicht zurück. Er blickte nie zurück, wenn er sich zum Hafen aufmachte. Ebensowenig blickte er auf den Hafen zurück, wenn er unterwegs in die Stadt war. Auf diesem Weg ließ er das Vergangene vergangen sein und richtete seine Augen stets auf die Zukunft. Es war zu einer Art Marotte für ihn geworden.
Einige Schlitten, angezogen von abgerichteten Wölfe, schossen an Kjartan vorbei. Jedes Mal ging ein Ruf des Fahrers damit einher und jedes Mal hob der Tapfere seinen Arm und rief ebenfalls etwas zum Gruße. Viele Mantroner kannten Kjartan, Sohn des Baldors aus der Sippe Thorgert Auerkrafts bereits. Es waren große Fußstapfen, in die er zu treten hatte und der Krieger hoffte inständig, den Erwartungen die alle – und vor allem er selbst – an sich stellte, erfüllen würde können. Wieder wanderte seine behandschuhte Hand zur Axt, die im Gürtel hing. Vorsichtig strich der mit dem Daumen über die Schneide. „Für Mantron“, flüsterte der Krieger und marschierte zielgerichtet weiter.
Vor Kjartan offenbarte sich schließlich der Hafen Mantrons. Nicht wenige Häuser standen hier, von denen die meisten als Lager dienten. Waren, die vom großen Lagerhaus in der Mitte der Stadt hierher gebracht wurden, damit sie später als Proviant auf den Schiffen dienten, wurden hier verwahrt. Aber ebenso wurden Waren, die von den Handelsschiffen mit den Santronern, Eiselfen oder Dessariern getauscht werden sollten, hier zwischengelagert. Andere Häuser dienten als Schlafunterkunft für die Verladearbeiter und Wachleute.
Neben den schmalen Eisseglern, mit denen die Krieger zur See auf Patrouille gingen und die Küste der Eisinsel gegen Piraten, Sklavenhändler und andere Feinde sicherten, lagen auch einige der breiten Handelsschiffe im Hafen vor Anker. Mit ihnen fuhren mantronischer Händler zu verbündeten und befreundeten Städten und tauschten Felle, Bären- und Robbenfleisch und andere Waren gegen Stein und Eisen, Obst und Gemüse und andere Dinge, die auf der Eisinsel nur schwer zu erhalten sind.
Gerade lief ein weiterer Eissegler ein. Die „Drachenschwinge“. Es war nicht das Schiff seines Bruders. Ein kurzer Blick zur Drachenodem zeigte Kjartan, dass noch Zeit hatte. Gerade erst wurden die Fässer und Truhen mit Proviant für eine Woche verladen. Er könnte also noch kurz mit den Männern der Drachenschwinge sprechen. Zielstrebig trottete der Tapfere zum neu angekommenen Schiff, das bereits von den ersten Kriegern über die Planke verlassen wurde. Freundlich hob Kjartan seine Hand und grüßte die Heimkehrer, Ausschau haltend nach ihm vertrauten Gesichtern.