Das innere der Taverne war geräumig und von einem rustikalen Charme geprägt. Fast alles hier war aus Holz, dass zwar schlicht, aber dafür gut gepflegt war. Tische, Stühle, der lange Tresen, alles war aus dunklem, fast schwarzen Holz gefertigt, was in Zusammenspiel mit den dunklen Steinwänden anfangs einen etwas düsteren Eindruck vermitteln mochte. Auch die Tiertrophäen, die als Dekoration an den Wänden angebracht waren, trugen einen Teil dazu bei, denn die Bären-, Hirsch und Wolfsschädel sahen verblüffend lebendig aus. Immerhin war der gesamte Schanksaal hell beleuchtet, auf jedem Tisch stand eine kleine Öllampe und im Kamin brannte ein munter prasselndes Feuer. Doch da war noch etwas, dass diesem Raum einfach etwas freundliches und einladendes verlieh und das war die ältere Frau, die freundlich lächelnd einen der runden Tische polierte. Zwar hatte sie graues Haar, dass sie zu einem strengen Knoten gebunden hatte und ihre Haut war faltig, doch sie stand noch immer aufrecht und wirkte munter wie ein junges Mädchen. In ihrem dunkelbraunen Kleid und der weißen Schürze hatte sie zweifelsohne etwas großmütterliches an sich. Aber da war noch etwas, irgendetwas an ihren Zügen, die seltsam vertraut schienen. Als Dormian eintrat, hatte sie ihm noch den Rücken zugewandt. Grade steckte sie den Lappen in die Tasche ihrer Schürze und räumte die leeren Humpen auf ein Tablett, als die Glocke über der Tür läutete. „Ich wünsche einen schönen Abend,“ begrüßte sie den neuen Gast mit einer warmen, einladenden Stimme. Dann drehte sie sich zu Nihil um. „Was kann ich für euch ...“ Mitten im Satz brach sie ab. Es war dieses Gesicht, dass ihr entgegen blickte geläufig wie kaum ein anderes war. Ihre Augen weiteten sich und das Tablett mit den Kelchen fiel klirrend zu Boden. Langsam ging die Wirtin rückwärts, bis sie den Tresen im Rücken hatte. Dabei schüttelte sie kaum merklich und dennoch unaufhörlich den Kopf. Ihre Lippen zitterten. „Nein., Nein du bist nicht real. Verschwinde wieder, elendes Gespinst! Verschwinde und Quäle mich nicht weiter, in Lysanthors Namen!“ Durch das Scheppern der fallenden Humpen war ein Mann angelockt worden, der ebenso alt schien, wie die Frau, wenn nicht noch älter. Sein schütteres, braunes Haar war von vielen grauen Strähnen durchzogen und er war ähnlich gekleidet wie die Wirtin. „Was ist hier los, Nathalia?“, fragte er aufgebracht und besorgt zugleich. Dann sah auch er den jungen Mann an der Tür. Im ersten Moment schien er ebenso zu reagieren wie seine Frau, doch noch einem kurzen Augenblick blinzelte er mehrmals schnell hintereinander und trat auf Nihil zu. Die Brust des Alten war fast doppelt so breit wie die des Lichtmagiers, aber dass war kein Fett, sondern die Muskeln eines harten Lebens! „Wer bist du?“ fragte er langsam und deutlich, als spreche er mit jemanden, der seine Sprache nicht gut kannte. „Und wieso siehst du aus wie unser verstorbener Sohn!?“
Von dem, was sich in dem Gasthaus abspielte, bekam Naya natürlich nicht mit. Sie war da praktischer veranlagt und interessierte sich mehr dafür, was in dieser Siedlung los war. Dass etwas nicht stimmte, konnte jeder sehen, der nicht blind war. Doch auch wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte spätestens Albans nervöses Verhalten sie sicher stutzig gemacht. Es war nur das naheliegendste, sich deshalb bei einer der Patrouillen zu informieren, die grade die Hauptstraße entlang kam. Bereits als Naya die beiden Soldaten, die in einfache Kettenhemden, mit einem dunkelroten Überwurf gekleidet waren und lange Piken in den Händen hielten, in der Sprache der Wolkenstadt ansprach, wurde sie erkannt. In so einer stillen Straße, in der die eigenen Schritte erstaunlich laut wiederhallten, zog man unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich, wenn man rief, da brauchte man nicht verstanden zu werden. Doch trotzdem liefen sie Stur weiter, als wären sie zu einem stummen Einverständnis gekommen, die Fremde zu ignorieren. Daran änderte sich auch nicht viel, als die Himmelsreiterin es in der Gemeinsprache versuchte. Erst beim dritten versuch drehte sich endlich der kleinere der beiden herum. Der Mann hatte einen ungepflegte, kurzen Stoppelbart und dunkle Ringe um die Augen. Wie er so unter seinem Bügelhelm hervor lugte, sah er ganz und gar nicht gesund, geschweige denn glücklich aus. Trotzdem bemühte er sich, das höfliche Kopfnicken seitens der Hymlianerin zu erwidern, auch wenn es recht steif wirkte. Inzwischen hatte auch der andere Soldat sich umgedreht, der ähnlich mies aussah. Doch wenn sie vorher blass gewesen waren, so verstärkte sich dass noch, als sie Nayas Frage vernahmen. Sie tauschten einen Blick aus, ehe der kleinere sich zu einer Antwort zwang. „Ihr seid nicht von hier, oder?“, stellte er die überflüssige Frage, denn bereits der schwarze Pegasus war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die blonde Dame eine Ausländerin war. Solche Tiere gab es in Jorsan einfach nicht. „Ihr solltet von hier verschwinden, werte Dame. Der Graf Morcerf ist mit einem Teil des Heeres zurückgekehrt und hat böse Geister mitgebracht.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach Norden, wo sich auf einem Hügel eine kleine Burg befand, die selbst von diesem Punkt aus zu sehen war. Dann mischte sich auch die andere Wache ein, die zu den Worten ihres Kameraden nur den Kopf schüttelte. „Es ist die Tochter des Grafen! Sie ist verflucht. Seit sie laufen kann treiben sich böse Geister in der Stadt herum!“ Sofort hatte der erste den Finger vor die Lippen gehoben, um den anderen zum schweigen zu bringen. „Wie auch immer, derzeit ist es besonders schlimm. Verschwindet einfach und meidet die Toten. Ich wünsche euch Glück, Herrin.“ Mit einem weiteren Kopfnicken verabschiedete sich der Soldat und die beiden setzten ihre Patrouille fort.