Die Aufforderung Hectors, ihn Meister statt Hauptmann zu nennen, kam für den Katzenjungen recht unerwartet. Vor allem, da er den Gedankengang dahinter nicht nachvollziehen konnte. Für ihn war Hector auch jetzt noch ein Mann, der sich den Titel des Hauptmanns verdient hatte. Nur, weil er von Grandessanern nicht als solcher angesehen wurde, änderte das nichts an jener Tatsache. Caleb hätte Hector weiter Hauptmann genannt, ohne sich das geringste dabei zu denken, was vielleicht auch seine Naivität gegenüber dem Krieg zeigte - oder, wie vorurteilslos er allem gegenüber stand. Bisher hatte Hector ihm keinen Grund gegeben, ihm den Titel Hauptmann abzuerkennen. Aber dem Wunsch seines Mentors konnte er natürlich nicht widersprechen.
"Wie ihr wünscht, Meister.", antwortete er dienerhaft mit einem Kopfnicken und konzentrierte sich wieder auf den Weg nach vorn.
Von Rist bekam er Madleens Medizin überreicht, ebenfalls eine unerwartete Tatsache. Wozu hatte Rist noch einmal beim Lazarett vorbei geschaut, wenn er nicht mit Aleksander zum Tor gegangen war? Anstatt sich weiter darüber Gedanken zu machen, öffnete Caleb lieber den Zettel und schloss ihn gleich danach wieder. Die wenigen Zeilen hatte er in einem Augenaufschlag überflogen und sich gemerkt, weshalb die Frage Rists, ob er denn lesen konnte, nicht überraschend hätte kommen sollen.
"Oh, nein. Ich hab's schon gelesen. Wundsalbe für Aleks. Aus Beinwell und Johanniskraut. Und ich soll keine Heilungen ausprobieren, die ich nicht kann!", fasste Caleb grob zusammen, was er gelesen hatte, um Rist zu überzeugen, dass er auch wirklich lesen konnte. Hätte er so tun sollen, als würde er genauso lange wie die meisten brauchen, um so einen Abschnitt zu lesen? Normalerweise war es ihm unangenehm, wenn andere etwas merkwürdiges an ihm erkannten - oder wenn er jemandem erklären musste, wieso er so schnell lesen konnte. Er kam sich dabei immer angeberisch vor.
Vorsichtig hob Caleb das Tongefäß an seine Nase und schnupperte daran. Selbst mit Deckel konnte man das Johanniskraut darunter riechen. Er wollte sich den Geruch einprägen, um im Notfall Nachschub zu finden und zweifelsfrei identifizieren zu können. Dann verstaute er den Behälter in einer der Satteltaschen, zusammen mit dem Zettel. Er würde nicht vergessen, was darin stand, aber behalten wollte er ihn trotzdem.
"Alle Mann auf die Pferde!", schallte der Ruf zu ihm herüber, und sofort konnte Caleb spüren, wie Bewegung nicht nur in den Trupp, sondern auch in Felix fuhr. Er hatte den Ruf anscheinend richtig gedeutet. Aufmunternd tätschelte Caleb ihm den Hals, bevor er sich daran erinnerte, was ihm der Stallwart in Grandea für Tipps beim Aufsteigen gegeben hatte. Beim ersten Mal hatte er noch einen Schemel gehabt, auf den er sich stellen konnte, der ihm nun fehlte. Der Katzenjunge war jedoch nicht unsportlich und so traute er sich dieses Mal den Sprung zu. Es sah nicht halb so elegant wie bei Theben aus, aber wenigstens kam er heil auf dem Rücken an. Selbst Aleks, der auf Rists Hilfe verzichtete und sich nur mit einer Hand am Sattel festhielt und hinaufschwang, machte mit seiner Verletzung eine bessere Figur.
Zögerlich die Zügel in Händen halten, wartete Caleb darauf, dass es losging. Zwar hatte er keine Angst davor, dass ihm Felix durchgehen würde, aber das Gefühl alleine und ohne Verbindung zu jemand anderem auf einem Pferd zu sitzen, dem er im Notfall keine wirklichen Befehle erteilen konnte, machte ihn mehr als nervös. Zum Glück konnte er sich jetzt noch hinter Hector einreihen und so musste er sich nicht groß um das Lenken kümmern. Stattdessen beäugte ihn sein Meister kritisch und gab ihm Ratschläge, wie er sich zu halten hatte, dass er die Zügel weiter gefasst halten musste, und vor allem erinnerte er ihn weiter daran, sich dem Rhythmus des Pferdes anzugleichen, weil es sonst nur eine Tortur für beide wurde. Die restliche Zeit hatte Caleb also damit zu tun, diese Reise für sich und Felix so angenehm wie möglich zu gestalten.
Egal wie sich Caleb das überqueren der Grenze vorgestellt hatte, so 'normal' war es in seinem Kopf nie von Statten gegangen. Genauso verhielt es sich mit seiner Erwartung von Jorsan. Wenn er nicht gewusst hätte, dass sie sich nun in Feindesland bewegten, hätte er geglaubt sie wären immer noch in Grandessa. Aber was hatte er sich auch gedacht? Das die Grenze Tag und Nacht gleich wie eine Narbe durchs Land zog und irgendwo ein großes Schild stand auf dem freundlich darauf hingewiesen wurde, dass man von hier an getötet werden konnte?
So war es ihm natürlich lieber, auch wenn der Hintergedanke blieb. Mehr Probleme bereitete ihm im Augenblick sein Gesäß und seine Schenkel, von denen er nun merkte, dass es nicht gut war sie konstant anzuspannen. Die Zeit verrann viel langsamer, obwohl Caleb keine Möglichkeit hatte, auf eine Uhr oder ähnliches zu schauen. Alles was er sah war wie sich die Sonne langsam nach unter bewegte und als sie nur eine Daumenlänge von den fernen Hügeln entfernt war, flehte er sie praktisch an sich zu beeilen.
Das Absteigen, als sie endlich ihre Raststätte erreicht hatten, erinnerte ihn sehr an den Ritt von Grandea nach Troman. Seine Beine fühlten sich so wabbelig an, dass er sich erst einmal kurz an Felix anlehnen musste. Wenigstens bekam er von der neuen Umgebung keine Kopfschmerzen, da alles was er in seinem nicht verschwommenen Blickfeld gehabt hatte nur Gras gewesen war. Nun allerdings sah er sich um und erkannte, dass er keine Ahnung hatte, was gerade geschah.
Die ausgebildeten Soldaten stiegen ab und widmeten sich sofort der nächsten Aufgabe, während Caleb einfach nur dastand, und sich nicht sicher war, was er nun tun sollte. Das einzig nützliche was er tat war, wie die anderen seine Schlafmatte von Felix abzunehmen und gerade als er sich ratlos umsah und sein Kopf beginnen wollte sich Gedanken darüber zu machen wo er sich hinlegen sollte und wie weit entfernt von den anderen wohl angemessen war, rief ihm Hector einen Befehl zu und Caleb war mehr als erleichtert darüber, eine richtige Aufgabe zu bekommen. Seine Matte legte er einfach in der Nähe der ausgewählten Feuerstelle ab und machte sich auf den Weg.
Es war ein gutes Gefühl, sich wieder mit Boden unter den eigenen Füßen zu bewegen und die Taubheit in seinen Beinen verschwand langsam. Mit einem leichten Trab holte er Aleks ein, der sich schon auf den Weg zum Gestrüpp gemacht hatte.
"Ich helf dir.", war seine schlichte Erklärung. Die Katzenohren zuckten nervös, als Aleks sofort antwortete und eine Unterhaltung begann, um ihn besser kennen zu lernen. Langsam sollte sich Caleb an so etwas gewöhnen. Es war allerdings wirklich neu für ihn, dass man sich für seine Person interessierte.
"Niemand kennt mich sonderlich gut, bin auch erst seit ein, zwei Tagen hier.", war seine erste Antwort, bei Caleb sich verhalten am Hinterkopf kratzte. Eigentlich hatte er sagen wollen, dass er die Mitglieder der Hand der Prinzenkrone noch nicht so gut kannte. Sein Unterbewusstsein formte dies jedoch in eine etwas ehrlichere Antwort, die er gar nicht vorgesehen hatte.
Er war ein Diener gewesen. Niemand hatte ihn gefragt, was er gerne tat. Wer er eigentlich war. Bedauerlicherweise war dies auch genau der Grund, warum es darauf keine wirkliche Antwort gab. Der stete Vergleich mit Marlin tat dadurch nur umso mehr weh.
"Bei unserer ersten Begegnung hast du mich ja auch für Marlin gehalten.", versuchte er ein wenig zu scherzen, während er kleine Stöcke aus dem Gebüsch brach. Wenn man es genau nahm, war dies nicht ihre erste Begegnung gewesen, sondern in der Nacht davor, als Caleb durch den Vorhang gesehen und Aleksander mitten während seiner Operation erlebt hatte. Keine guten Erinnerungen für beide. Am Tag darauf, nachdem Caleb Hector hatte verhören müssen, war Aleks an ihn herangetreten und die beiden hatte sich zum ersten Mal unterhalten.
Wenn Caleb sich recht erinnerte - und das tat er immer - war Aleksander der erste Mensch gewesen, dem er freiwillig erzählt hatte, dass er nie etwas vergaß. Nicht einmal der Prinz wusste davon und Aleks hatte daraufhin vorgehabt dem Prinzen vorzuschlagen, ihn als Botschafter mit der Prinzessin zurück nach Jorsan zu schicken und als Spion agieren zu lassen.
Zum Glück war dies nicht geschehen. Alleine unter Feinden. Calebs zweitgrößter Alptraum.
"Natürlich verbinde ich ihn dir. Erneut. Aber als Lehrling von einem Tag wird es wohl noch vier, fünf Jährchen dauern, bis ich auch nur halb so gut wie Marlin bin."
Immerhin hatte er bereits damit gerechnet, dass ihm diese Aufgabe zugewiesen wurde. Das Wappen der Feldärzte auf seiner Brust weckte zwar etwas falsche Hoffnungen, vielleicht hätte er um einen 'Anfänger' Flicken oder so etwas bitten sollen, aber einen neuen Verband anlegen konnte er bereits. Es war ihm allerdings äußerst unangenehm, wenn Leute höhere Erwartungen an ihn stellten, die er nicht erfüllen konnte. Deshalb versuchte er auch stets nie den Eindruck zu erwecken, etwas gut zu können.
"Und ja, Garmisch kannst du mit mir auch reden.", fügte Caleb noch an, wenn auch etwas zögerlich. Am Hof hatte er die eigentliche Muttersprache eher zweitrangig gelernt und er musste sich immer wieder anhören, dass ihm der Akzent eines wahren Grandessaners fehlte, es sich zu 'rein' anhörte.
"Wirklich gewöhnt bin ich es allerdings nicht.", warnte er gleich, um sich im Vorraus zu entschuldigen.
Eine kühle Abendbrise wehte über sie beiden hinweg, wiegte die Büsche sanft im Wind und Calebs Katzenohren stellten sich auf. Der Schrei eines Raubvogels war über ihnen Erklungen und er hatte für einen Moment das Gefühl gehabt, er könnte das Rascheln der Schwingen hören. Mit dem kleine Haufen Zweige in den Armen, richtete sich der kleine Diener auf und sah gen Himmel. Alles, was er sehen konnte, war ein kleiner, dunkler und sehr verschwommener Fleck, aber das musste der Vogel sein. Unweigerlich trat er einige Schritt von den Büschen weg und an eine kleine Anhöhe, von der aus man die Landschaft überblicken konnte.
Bis auf die wenigen Schritte vor ihm breite sich ein Bild von verwischten Farben vor ihm aus, zusammen mit der untergehenden Sonne. Es erinnert an ein Gemälde von Wasserfarben, dass er im Schloss in einem der Flure gesehen hatte. Sein Katzenschweif begann aufgeregt zu schwingen, nur so knapp über dem Boden, dass die längsten Härchen die Grashalme streifen konnten.
Er hatte nur selten das Schloss Grandea verlassen und selbst dann war er nie in der Lage gewesen, sich von seinem Herrn zu trennen, oder den freien Willen besessen, einmal selbst loszugehen und die verschwommene Umgebung zu erforschen. Ein beinahe animalischer Drang, den er nun umso mehr verspürte.
Eine weitere Brise fuhr ihm ins Gesicht, seine Augen verengten sich, die Katzenpupillen formten sich zu Schlitzen, was die Ähnlichkeit mit einem Dämon noch verstärkte und für einen Moment legte er die Ohren an und war drauf und dran, einfach loszurennen. Die Stöcke zur Seite zu schmeißen und einfach nur zu laufen, zu springen. Den Hügel hinter dem nächsten Hügel zu sehen.
Aber er tat es nicht. Drehte sich wieder um, ignorierte das seltsame Stechen in seiner Brust und machte sich wieder an die Arbeit, wobei er kurz angebunden ein "Wie viel brauchen wir eigentlich?", murmelte.