Prinz Vincent riss den Schild nicht hoch, noch zog er das Schwert, das fast bis zum Heft im Körper der jorsanischen Prinzessin steckte. Sein Blick galt weder den eigenen Männern noch dem Feind, der Wut schnaubend hinter ihm los stürmte, einige sogar auf den Prinzen selbst los. Er stand einfach nur da und sein Blick fixierte auffordernd Caleb. Komm her und hilf ihr, das ist ein Befehl! Seine Augen schrien es in die Welt, als wäre da seine Verlobte verwundet worden. Er machte alles andere als einen Eindruck, erfreut über Bodvicas Zustand zu sein. Obgleich Jorsan der Feind war, sie lag hier verletzt durch seine Hand. Eine Verletzung die weit über das erste Blut eines Duellkampfes hinaus ging. Hatte er Schuldgefühle? Ob er wusste, dass es besser war, das Schwert nun nicht zu ziehen? Solange sich Bodvica nicht bewegte, damit die Klinge nicht noch mehr Fleisch schneiden konnte, würde sie zumindest das Blut etwas am Austreten hindern. Aber heraus musste die Waffe früher oder später, sonst würde eintreten, was sich als erster Gedanke in Calebs Kopf angebahnt hatte: sie würde sterben.
Daher rief er, so laut er konnte. Es brauchten keine Soldaten in den Tod zu laufen, weder auf seiner noch auf gegnerischer Seite. Bodvica lebte, sie würde durchhalten, wenn man ihr jetzt half. Das hatte Caleb wohl instinktiv im Gefühl oder er witterte es in der Luft. Wie auch immer, sein Versuch, beide Parteien aufzuhalten, ging im Kampflärm unter. Über seinen Kopf flogen Bolzen hinweg. Jorsanische Soldaten gingen getroffen zu Boden. Sofort wurden Befehle geschrien, den Feind zu attackieren, aber außer Reichweite der gegnerischen Schützen zu bleiben. Diese mussten sich auf den Wehrgängen inzwischen aber auch vorsehen. Zu viele von Vincents Männern hatten sich längst in einen Kampf gestürzt und man sollte doch vermeiden, die eigenen Leute umzubringen. So stellten die Schützen das Feuer dort ein, wo der Kampf zu einem dichten Handgemenge geworden war und zielen nur auf Feinde am Rand - was gar nicht so leicht war. Auch Theben, der mit seiner Armbrust am Rand der Scharmützel entlang lief, feuerte nur ab, wenn er sich absolut sicher war. Dafür rettete er Vincent vermutlich gerade das Leben. Ein Jorsaner, mit breiten Schultern wie Rist, hob seine Klinge und zielte auf den Hals des Prinzen. Vincent trug keinen dieser eisernen Bärte, die Schutz boten. Er brauchte am Hals Bewegungsfreiheit, darauf hatte er immer Wert gelegt und es riskiert, den Schutz einzubüßen. Jetzt wäre es sein Tod gewesen, wenn er sich nicht auf Menschen wie Theben hätte verlassen können. Dessen Bolzen schwirrte zielsicher durch die Luft, traf voll ins Schwarze. Der jorsanische Soldat kippte neben dem Prinzen in den Dreck. Doch der stand immer noch nahezu reglos mitten im Getümmel, hatte seinen Blick nur einmal abgewandt, um Bodvica anzusehen. Dann suchte er wiederholt nach Caleb. "HIERHER!", brüllte er ihn jetzt an und klang überraschend aufgebracht. Wohin war die Ruhe, die er sonst ausstrahlte? Wohin sein Führungstalent? Er war doch als Soldat ausgebildet worden, hatte bereits an größeren Schlachten teilgenommen! Warum reagierte er jetzt so kopflos?
Auch Caleb reagierte wohl anders als er es je von sich gedacht hätte. Etwas in seinem Inneren schien ihn anzutreiben, so dass er fauchend und mit blitzenden Augen sich einen Weg durch die Kämpfenden, bis hin zum Prinzen und der Prinzessin bahnte. Geschickt wich er dabei den Angriffen aus, noch ehe er sie richtig kommen sah. Er besaß einen katzenhaften, sechsten Sinn. Und so erreichte er vollkommen unversehrt, die Heilertasche dabei, die in ihrem eigenen Blut liegende Bodvica von Jorsan. Sie war blass, keuchte, ihre Lider flimmerten. Auch Vincent kniete sich hin. Sie bildeten eine Kuppel aus Sorge mitten im Kampfgetümmel. "Kannst du etwas tun?", musste Vincent, der doch direkt neben ihm kniete, seinem Diener und Waffenbruder zurufen, um das Getöse zu übertönen. Er half ihm, die Prinzessin aufzurichten. Dass Caleb es war, der ihm Befehle erteilte, störte ihn nicht. Hier ging es um Leben und Tod.
Dann packte der Thronfolger ihn an der Schulter - jene Stelle, an die zuvor noch eine unsichtbare Hand mit eiserner Stärke gegriffen hatte, dass es schmerzte. "Hör zu, Caleb. Es ist sehr wichtig, dass du sie ins Lazarett bringst. Hörst du?! Ihr darf nichts passieren, auch dort nicht. Ich gebe ihr Überleben in deine Verantwortung. Hilf ihr, egal wie, aber sie muss leben ... und sie darf nicht entkommen." Klare Worte und auch die vorerst letzten, die Caleb von seinem Prinzen hören würde. Jetzt, da er Bodvica in sicherer Obhut wusste, kehrte eine Selbstsicherheit in seinen Körper zurück. Er griff nach dem Schwert des Jorsaners, den Theben ausgeschaltet hatte. Sein Leben war mit dem Treffer in seinen ungeschützten Nacken ausgehaucht worden. Er würde die Klinge also nicht mehr brauchen. Vincent umfasste sie, prüfte für einen Sekundenbruchteil ihr Gewicht und warf dann dem Katzenjungen einen letzten Blick zu. Schon stürmte auch er sich in die Meute. Die Jorsaner unterlagen bereits jetzt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis all ihre Leben auf diesem Stück Feld endeten. Aber Caleb konnte sich nicht darum sorgen. Ihm war Verantwortung gegeben worden.
Bodvica war noch bei Bewusstsein. Auch wenn der Schwertstich ihr wie jedem anderen Menschen auch stark zusetzte, sie zeigte Zähigkeit. Andere hätten sich in eine Ohnmacht gerettet, sie aber kämpfte verbissen weiter. Die Lider hoben sich zwar matt, aber se reagierte auf Caleb, sogar auf dessen Ohrfeige, die ihr ein Knurren entlockte. "Kratzer...", wiederholte sie keuchend. Endlich wurde auf das Garmisch verzichtet. "Jahhrrrnn...." Kurz schüttelte sie es, denn ihre neu eingenommene Position sorgte dafür, dass die Klinge neu ins Fleisch schnitt. Schmerz druchflutete ihren Körper. Sie verdrehte die Augen, fand aber zu sich zurück. Sie beobachtete sogar sein Vorgehen, auch wenn sich ihr Blick augenscheinlich nach und nach trübte. "Zinnkr... gut ..." Bereitwillig ließ sie sich den Saft des Krautes einflößen, trank ohne zu husten. Sie riss sich verdammt stark zusammen. Ein solches Verhalten hätte man bei Rist erwarten können, nicht aber bei einer Frau wie ihr.
Als Caleb ihr den Verband umlegte, hob sie die Hand. Diese zitterte, suchte nach seiner, fand sie jedoch nicht. Aber möglicherweise machte die Jorsanerin so auf sich aufmerksam. Ihre Lippen bewegten sich. Sie wollte etwas sagen. Es drang wie ein zarter Windhauch dünn aus ihrem Mund hervor. Glücklicherweise nahmen Calebs Katzenohren selbst dieses leise Wispern auf, als sie sich danach ausrichteten. "Mehr ... Druck ..." Sie gab ihm Anleitung, wie er den Verband anzulegen hatte. Ein Druckverband, der das Blut in ihren Körper presste, bis sich jemand richtig um sie kümmern könnte. Keine schlechte Idee. Caleb würde sie nur umsetzen müssen. Er gab sein Bestes, verabreichte ihr sogar noch ein weiteres Mittel und irgendwie kehrte Ruhe in den Körper der Prinzessin ein, ohne dass diese vom zarten Hauch des Todes begleitet wurde. Und da wir gerade vom Gevatter sprachen ...
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Am Rande des Schlachtfelds standen zwei Gestalten. Gesehen wurden sie nur von jenen, die ihre letzten Atemzüge taten. Der eine hüllte sich, ganz klassisch, in ein Gewand aus reiner Schwärze. Es bauschte zu seinen knochigen Füßen auf wie Rauch, stürzte in sich zusammen, brach sich und bildete sich immer wieder neu. Es hinterließ einen finsteren Dunst in nächster Umgebung. Das Gewand wuchs zu einer Robe heran, deren Ärmel noch über die Gelenke der bleichen Knochenhände hinaus gingen und am Kopf in einer Kapuze endeten, die jener Calebs ähnelte. Darunter grinsten zwei übereinander liegende Zahnreihen hell hervor. Das Augenpaar, welches aus funkeltem Licht zu bestehen schien, strahlte gleichermaßen hell. Die Gestalt legte die gewaltige Sense - wichtigstes seiner Arbeitsgeräte - in die andere freie Hand.
Neben ihm stand jemand, der allen bekannt war, die lebten und die sich doch selten in einer festen Form präsentierte. Sie war hell, eine Mischung aus weißgold, ohne den Platz des Lichtgottes Lysanthor streitig machen zu wollen. Denn sie war keine Göttin, sie war ein ewig währender Zustand. Zeitlos und somit mächtiger als jede Gottheit es je sein würde. Sie war die Herrin, die den Gevatter an ihrer Seite in ihren Dienst gestellt hatte. In einer Hand hielt sie eine kleine Laterne, filigrane Arbeit und das Licht darin glühte ohne Kerze und Docht. Es war das einzige, das Sterbende am Ende eines finsternen Tunnels von dieser Personifizierung erkennen konnten. Dass ihr prachtvoll gearbeitetes Kleid am Boden in jungen Pflanzen, Blumen und kleinen Schmetterlingen und Insekten endete, die aufstiegen, um sofort wieder zu vergehen, sag nur Tod an ihrer Seite.
"Wird sie überleben?", fragte die freundliche Frau mit einem Blick zu verletzten Prinzessin bei Caleb.
"Wenn du es wünschst, meine Herrin. Du entscheidest."
Ein Lachen. "Aber ich beobachte doch nur, was das geschenkte Leben durch die Kraft einer Seele und ihren Willen formt. Ich gab das Mittel, was die Sterblichen daraus machen, liegt nicht in meiner Hand."
"Du könntest ihr ein Licht anzünden, damit sie sich in meiner Dunkelheit zurecht findet."
"Das könnte ich." Und sie trat, ungesehen von allen, zu der verletzten Prinzessin hin, um eine Kopie ihrer Laterne neben ihr abzustellen. Dann widmeten sich Gevatter Tod und seine Herrin Leben wieder dem übrigen Geschehen auf dem kleinen Schlachtfeld.
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Ein Ruck ging durch Bodvicas Körper. Sie holte tief Luft, als sei sie gestorben und gerade wieder von den Toten auferstanden. Was immer mit ihr geschah, für wenige Augenblicke kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück. "Hilf ... auf", brachte sie hervor, tastete nach Caleb, um sich aus eigener Kraft hochzuziehen. Das würde ihr nicht gelingen, aber wenn er sie stützte, könnte sie vielleicht ein paar Schritte gehen. Bis zum grandessanischen Lazarett würde sie es allerdings im Leben nicht schaffen. Nicht so.
"Lasst mich euch helfen, ich werde nicht angreifen." Celcianisch mit einer Spur des Akzentes, den Caleb bereits bei Jorsanern gehört hatte. Und tatsächlich tauchte bei ihm ein älterer Mann mit rotbraunem Schnauzbart und weichen Augen auf. Er trug eine jorsanische Rüstung und darüber die abgewetzten Reste seines Wappenrockes. Wo sein Schild verblieben war, konnte man nicht in Erfahrung bringen. Das Schwert steckte er gerade weg, zum Zeichen, dass er offensichtlich wirklich nur helfen wollte. Schon griff er seiner Prinzessin unter die Arme. "Wohin?", fragte er, erwartete doch tatsächlich von Caleb Befehle. Das Lazarett befand sich hinter der Palisade Tromans.