Die Bettdecke wurde nochmal glattgestrichen, die Tunika zurecht gerückt und das Fenster zu der kleinen Kammer geschlossen, die sie mit Margret teilte. Es war inzwischen längst zu kalt, um es einfach offen lassen zu können. In beiläufiger Routine griffen die Hände zu den verschiedenen Taschen an ihrem Gürtel und überprüften damit ihre leicht zugängliche Position. Im Gehen warf sie sich den einfachen, aber gut wärmenden Filzumhang um. Ihr Atem bildete feine helle Wolken, als sie den Hof betrat, und auf den Dächern zeigten sich dünnste Flächen aus Weiß, doch es schneite zum Glück gerade nicht. Es knirschte unter ihren Stiefeln, und das Glitzern hier und da warnte sie, ihre Schritte nicht zu leichtfertig zu setzen.
In der Nähe der Kapelle standen Richard und Eugen. Gut. Sie hatte sich abgewöhnt, zu oft die Erste zu sein, das lieferte Gernot nur unnötige Vorlagen. Kaum einen Lidschlag nach ihr bogen er und Basil auch schon um die Ecke. Darna furchte die Stirn und musterte Basil genauer. Irgendwie wirkte er wie eine unförmige Stoffkugel, eingemummt, als wäre es tiefster Winter. "Ich hasse diese Kälte, wieso kann es nicht länger Sommer sein?", meckerte er zudem gerade vor sich hin. Aber ein sachlicher Blick ergab lediglich, dass er bereits auch einen Schal, Handschuhe und Mütze trug und leicht gebückt ging... als der Knappe aufschaute, verflog schon ein Gutteil des Eindrucks.
Darna wandte den Blick woanders hin, bevor ihr Starren auffiele, doch es war bereits bemerkt worden. Gernot stieß Basil den Ellbogen leicht in die Rippen: "Nimm lieber Haltung an und prüf, ob deine Stiefel poliert sind, Basil, ich hab gehört, Darna übernimmt heute den Morgenappell."
Basil guckte sie derart sauertöpfisch - und argwöhnisch? - an, dass er ihr fast leid tat. "Kann ich mir gut vorstellen", brummte er.
"Das ist nicht richtig, von Kelterburg", entgegnete sie und war sich dabei mal wieder nicht ganz sicher, ob sie sich gerade nicht lächerlich machte, überhaupt etwas darauf zu erwidern, "Meister Roderich wird sicher gleich eintreffen." Eine kurze Pause entstand, als ihr noch weitere Worte durch den Sinn gingen, die etwas wie "Anmaßung" oder "dumme Entscheidung" enthalten hätten, aber zurückgehalten wurden. Mehr und mehr ahnte sie, dass Gernots Worte mal wieder irgend einen aus der Luft gegriffenen Unsinn darstellten und sie provozieren sollten, und begann sich wie üblich darüber zu ärgern. "Ihr solltet nicht so viel auf Gerüchte geben", wurde ihre Stimme dumpfer und ein deutlich abwertender Tadel, so wie man ein kleines Kind ernst ermahnte, nicht das Gerede der Seeleute zu glauben. Gernots Augen verengten sich entsprechend, selbst Basil schien die verbale Klatsche sauber bemerkt zu haben, was bei ihm nicht immer der Fall war.
Sigiswart, der letzte der sechs Knappen, kam leicht überhastet zur Gruppe gestolpert und orientierte sich nach einem Blick in die Gesichter flugs: hier herrschte Frost, keine Frage, selbst wenn es gerade Sommer gewesen wäre...
Doch bevor es den ersten Streit noch vor dem ersten richtigen Tageslicht gegeben hätte, traf Meister Roderich ein, und schon der bekannte Rythmus seiner genagelten Stiefel auf dem Pflaster ließ die Knappen innehalten und sich in einer Reihe aufstellen, noch bevor er ganz um die Ecke war. "Guten Morgen, Knappen! Lysanthor schütze unseren Herren und unseren König!"
"Lob unserem Gott! Gehorsam unserem Herren! Ehre unserem König!", erwiderten die Knappen ritualgemäß die morgendliche Begrüßung. Der alte Ausbilder hielt sich nicht mit weiteren Handlungen auf, sondern stapfte auf die Kapelle zu, die Knappen schlossen sich in einem losen Gänsemarsch an. "Es ist kalt Basil, was?", fragte er beiläufig und fast kumpelhaft klingend. "Ähm, ja, Meister Roderich", antwortete dieser, allerdings zunehmend verunsichert. "Sieht man", kam es nur knapp. Basil seufzte fast lautlos und zog Handschuhe und Mütze ab, noch bevor sie die Hofkapelle betraten.
Drinnen nahm sich jeder Knappe ein schlichtes Rapier aus einem im Eingangsbereich befindlichen Ständer und hängte sich lose den Gurt über. Der Hofkaplan, seine Gnaden Talarion, war heute nicht anwesend, was häufig der Fall war, aber nicht immer. Roderich stellte sich vor die zwei Reihen der Knappen und gab damit die Bewegungen vor, die jeder längst verinnerlicht hatte. Darna entspannte in der Ruhe der Routine und ging gemeinsam mit den anderen auf ein Knie, legte die rechte Hand aufs Herz, senkte den Kopf und schloß die Augen. Als sie das Gebet sprachen, klang es wie fast eine Stimme:
"Herr Lysanthor, im Lichte deiner Gerechtigkeit knie ich nieder,
um zu bitten um alles, was gut ist.
Herr Lysanthor, im Lichte deiner Gerechtigkeit erhebe ich mein Antlitz,
um meine Augen zu öffnen für alles, was wahr ist."
Die Worte begleitend hoben sich die Köpfe und Darna sah direkt zu der Statue des Lichtgottes, die mit der dahinter befindlichen großen vergoldeten Sonne zu verschmelzen schien. Mit den nächsten Worten wurden die Klingen gezogen und mit dem Griff Richtung Altar auf den Boden gelegt:
"Herr Lysanthor, im Lichte deiner Gerechtigkeit entbiete ich mein Schwert,
um zu kämpfen für alles, was recht ist."
Die Worte wurden gleichtöniger und doch bei einigen der Betenden inbrünstiger:
"Dein Licht erhelle mein Herz,
dein Wort erfülle meinen Geist,
deine Macht erhebe meinen Arm,
der in Treue fechten soll für alle, die seiner bedürfen.
Herr Lysanthor, im Lichte deiner Gerechtigkeit
danke ich dir für diesen Tag."
"Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben..." - sie sprach es nicht, sie dachte es nur. Nein... es waren ja nicht einmal ihre Worte gewesen. Wie Gift hatten sie sich in ihre Erinnerung geschlichen und kamen jedes Mal wieder unerwünscht hoch. Irgendwann hatte Gernot diesen blöden Kommentar gerissen, sie hatte sich darüber geärgert, sie hatten darüber gestritten. Sie wusste bis heute nicht ganz, warum, aber er hatte in diesem Schlagabtausch ein mal erstaunlich logisch klingende Argumente vorgebracht, er hatte sich noch amüsiert dabei, und sie hatte sich selten schlecht dagegen zur Wehr gesetzt - sie war sich hinterher selber wie ein einfältiges dummes Huhn vorgekommen. Sie wusste, dass dieser Kommentar falsch war, so sicher, dass sie nicht einmal mit Talarion darüber geredet hatte; sie nervte ihn schließlich oft genug mit Kleinkram. Aber weggewischt bekam sie diese Worte trotzdem nicht.
Still stellte sie das Rapier wieder zurück an seinen Platz wie alle anderen auch. Manchmal sollten sie die Waffen behalten oder woanders hin mitnehmen, weil es noch Übungen damit gab, aber heute schien anderes anzustehen, wie Roderich nüchtern verkündete:
"Nach dem Frühstück Sammeln im Studienzimmer, Wappenkunde und Blasonieren!"
Das "Jawohl, Meister Roderich!" klang deutlich nach ausbleibendem Enthusiasmus und stattdessen dem einen oder anderen verhaltenen Stöhnen. Doch die Aussicht auf Frühstück brachte Bewegung in die Gruppe. Der Waffenmeister wandte sich zum Hauptgebäude des burgähnlichen Anwesens des Grafen von Aarenhorst. Auf dem Weg zum Speisesaal manövrierte sich Gernot nahe genug an Darna, dass er ihr etwas sagen konnte, was leise genug war, um keine vulgär offene Drohung zu sein, aber laut genug, dass zwei weitere der Knappen es mitbekamen: "Ich habe noch ein Gerücht gehört, Eibenau, das dürfte schon weit eher stimmen, nicht? Dass man bei glattem Wetter mal ganz unglücklich und schmerzhaft ausrutschen kann..."
Darnas Miene versteinerte. Würde er wirklich so plump sein, sie zu schubsen, wenn sie ein mal nicht aufpasste? Sie hasste das. Sie hasste es, wenn sie die ganze Zeit unter Anspannung stand, weil sie von ihm akut mal wieder etwas zu befürchten hatte. Und er liebte es, sie derart unter Druck zu setzen, selbst wenn er dann gar nichts machte. Sie bemerkte, wie ihr Arm schon wieder vor Anspannung zitterte und sie löste unter dem Umhang unauffällig die zur Faust geballte und verkrampfte Hand. Sie hatte nichts erwidert. Es fiel ihr zu spät auf. Zu spät um ein "Das ist kein Gerücht, das stimmt - also passt gut auf, was für Schritte Ihr unternehmt, Ihr könntet auf dünnes Eis geraten..." noch schlagfertig wirken zu lassen. Mit steinerner Miene betrat sie einfach still den Essenssaal und nahm am Tisch, wo auch die Knappen aßen, ihren Platz ein, der immer isoliert wirkte, zumal rechts von ihr ohnehin kein Sitz mehr war.
Wappenkunde. Dagegen hatte sie nichts, es bedeutete zumindest, dass sie im halbwegs warmen Studienzimmer waren, und sie mochte es, wenn die Wappen auch eine Geschichte zu erzählen hatten. Seine Gnaden Talarion gab den Unterricht, so wie er für einen Gutteil der theoretischen Inhalte zuständig war, die den Knappen zu vermitteln waren. Er begann mit schlichtem Abfragen längst bekannter geläufiger Wappen, sowohl von Städten, Bünden, als auch jorsaner und überregional bekanntem Adel. Nicht einmal Eugen, der sich damit häufig schwer tat, machte heute dabei Fehler und Talarion wirkte zufrieden.
"Gut. Dann kommen wir jetzt zum blasonieren", meinte der Priester und Gelehrte schließlich. "Sigiswart, was ist links und was ist rechts?" Der Knappe blinzelte, während er aufstand, er schien gedanklich gerade nicht ganz bei der Sache oder den Faden verloren zu haben: "Das ist links...", sagte er und hob etwas die linke Hand zur Seite, "und das ist..."
Talarions Rohrstock knallte vor ihm auf den Tisch. "In der Heraldik, Bursche!", fuhr ihn der Priester an, "Als nächstes weißt du auch weder, wo vorn noch hinten ist?"
Die anderen Knappen bis auf Darna lachten kurz, und wenigstens schien Sigiswart nun begriffen zu haben, worum es ging: "Verzeihung, Euer Gnaden. Die Schildbeschreibung gilt aus der Sicht des Trägers, nicht des Betrachters, und so wie der Schild am Arm gehalten wird. Deshalb wird manchmal bei rechts auch 'vorne' gesagt und bei links 'hinten'." Er hielt den Schildarm dabei entsprechend und deutete auf die nicht vorhandenen Schildhälften. Talarion nickte zufrieden und wandte sich dem Nächsten zu:
"Welche Farben dürfen auf einem Schild verwendet werden? Darna?"
"Schwarz, Rot, Blau und Grün, Euer Gnaden. Es gibt noch Purpur, dies ist jedoch Königen vorbehalten."
"Basil, welche Metalle gibt es?"
"Gold und Silber, Euer Gnaden", antwortete der Knappe sicher und schien ein wenig erleichtert, so billig davongekommen zu sein. "Und was gibt es noch?", fuhr Talarion fort, ohne Basil aus der Pflicht zu entlassen. Darna fragte sich im Stillen nicht zum ersten Mal, warum es eigentlich so oft ihn traf... das fragte sich Basil gerade auch. "Es gibt noch... noch... die Pelzwerke!", fiel es ihm dem Lichtherrnseidank noch ein.
Der Priester entließ ihn mit einem seiner typischen mahnenden Blicke und berichtete dann selber von den Fachbegriffen, mit denen die Aufteilung eines Schildes beschrieben wurden bis hin zu den Schraffuren, mit denen man Schilde darstellte, wenn keine farbigen Tinten benutzt wurden. Selbst Darna hatte bei den Details etwas Mühe, mitzukommen.
Doch die Abschlußaufgabe der Unterrichtseinheit bestand darin, den Wappenschild ihres Herren, des Grafen Widumar von Aarenhorst, heraldisch korrekt zu beschreiben - schriftlich.
"Ein halbgespaltener und geteilter Schild. Im ersten Feld in rot ein rückblickender Adler, goldbewehrt. Im zweiten Feld in silber ein hersehender Adler, goldbewehrt. Im unteren Feld Feh grün in silber."
Einige Momente sah Darna nachdenklich auf ihre Beschreibung. Das war trotz der Kürze komplizierter, als sie erwartet hatte, vor allem da es gerade bei Pelzwerk scheinbar unzählige Varianten gab, wie man dieses darstellen konnte. Sie ging die Beschreibung langsam nochmal durch und versuchte sich vorzustellen, wie jemand, der das Wappen nicht kannte, die Sätze verstehen würde. War es wiederzuerkennen?

Immerhin, der Sinn war ihr klar: das wäre ein schlechter Ritter, der in fernen Landstrichen nicht mal das Wappen seines eigenen Herrn zu beschreiben wusste! Sie hörte in Gedanken Basil schon maulen: "Bin ich Herold?"