Zu viert machten sie sich auf den Weg. Jakub Tauwetter führte die Gruppe an, denn auch wenn Caleb und Azura in Andunie aufgewachsen waren, hatte sich in der letzten Zeit durch die Eroberung der Stadt einiges verändert. Der Erste Maat wusste davon, hatte sich bereits unter den neuen Herren bewegt und kannte somit die nötigen Schritte, um sich auch als Mensch sicher durch die Straßen bewegen zu können. Wichtig war es, einfach seinem Weg zu folgen, aber mit der Geschwindigkeit einer Gruppe, die nicht schnell an einer dunkelelfischen Patrouille vorbei gelangen wollte. Auch durften sie den Elfen zwar nicht in die Augen blicken, sich jedoch gleichzeitig nicht überdemütig und mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbei winden wollen. All das erregte Aufmerksamkeit, weil es sie verdächtig machte. Auf diese Weise bekamen Caleb, Madiha und Azura einen Eindruck darüber, wie es nun war, als Mensch unter dunklen Völkern und deren Regierungsherrschaft zu leben.
Der Regen hatte nachgelassen, aber Lysanthors lichtene Scheibe wollte die Wolkendecke noch immer nicht durchbrechen. So blieb es heute bei einem grauen Tag, der durchaus noch mehr von Venthas Segnung verheißen konnte. Die Straßen waren nass von Pfützen und wo Unrat sich sammelte, musste man auf sein Schuhwerk achten, um nicht in Schlamm zu treten. Es roch nach dem Salz der See und den rein gespülten Pflastersteinen zwischen den Häusern. Beinahe wirkte es, als hätte Venthas Regenguss auch ein bisschen das Düstere aus Andunie gewaschen. Man konnte auch die Schönheit der Stadt endlich erkennen, wenigstens ein bisschen.
Häuser schmiegten sich wie angetrunkene Freunde Dachrinne an Schornstein aneinander. Zwischen den Straßen waren zahlreiche Leinen angebracht, um bei schönerem Wetter nicht nur Kleidung darauf zu trocknen, sondern auch Würste oder Käse vor listigen Nagetieren zu schützen. Solche Leckereien lockten jedoch zahlreiche Möwen und andere Vögel an, die derzeit auf den schrägen Dachgiebeln hockten, um das Leben unterhalb zu beobachten. Selbst die einfachsten Häuser Andunies bemühten sich, wirklich hübsch auszuschauen. Ihre Bewohner schmückten sie mit Blumenkästen, Kräuterkübeln, Fischernetzen oder schenkten ihnen allein dadurch Charme, indem sie neben der Haustür eine Bank, eine Schubkarre oder anderweitige Kleinigkeiten so positionierten, dass sich ihr Heim einfach nur gastfreundlich präsentierte. Das galt allerdings nur für jene Häuser, von denen man die Spuren der Eroberung hatte beseitigen können.
Das Quartett wanderte auch immer wieder an geplünderten Heimen vorbei, deren Einwohner Widerstand geleistet haben mussten. Eingeschlagene Fenster und Türen zeugten von der Gewalt des Feindes und rötlich braune Flecken von ihrem Erfolg über den Menschen. Teilweise waren in solche Häuser sogar jene eingezogen, die sie zuvor zerstört hatten. Madiha, Azura, Caleb und Jakub entdeckten auf ihrem Weg zur Akademie der Wassermagie immer wieder Dunkelelfen, die Menschen dazu anleiteten, Handwerksarbeiten und Reparaturen an Häusern vorzunehmen. Einige von ihnen gingen sogar umgänglich mit den versklavten Einwohnern um. Nicht alle Elfen waren schlecht. Besonders ins Auge fiel eine Dunkelelfensoldatin, die gerade das eroberte Haus verließ - schwer gerüstet und bereit, ihren Dienst zu tun -, welche sich aber die Zeit und Mühe nahm, dem Menschenkind ihrer Sklaven den Kopf zu tätscheln und sogar ihrer Strohpuppe einen schönen Tag zu wünschen.
"Bizarr", murmelte Caleb leise, der den Blick nicht ganz von der Szene lösen konnte.
"Es gibt genug von ihnen, die in einer neuen Welt Fuß fassen wollen, weil sie in ihrer Heimat Morgeria selbst nur Sklaven oder Leibeigene wären", entgegnete Jakub. Er schaute kaum hin, hatte er doch schon oft genug solche Szenen beobachten können. Er konzentrierte sich lieber darauf, endlich vollends nüchtern zu werden und die Gruppe bis zur Akademie hinauf zu führen. Das wassermagische Intistut fand sich auf einer Felseninsel vor Andunies Küste und war nur durch eine gewaltige Steinbrücke mit dem Festland verbunden. Ein großes Torhaus ragte einem mahnenden Finger gleich noch vor dem Zugang zur Brücke in die graue Wolkendecke empor. Von dort oben hatten wassermagische Forscher nicht nur das Meer gut im Blick. Er diente den Seefahrern auch als Leuchtturm, der nachts sein helles Signal in die Ferne schickte. Ob das immer noch getan wurde, konnte keiner von ihnen so genau sagen. Asl die Blaue Möwe in den Hafen einfuhr, hatte jedenfalls kein Licht vom Turm der Akademie aus gezwinkert und auch jetzt lag die Turmspitze eher im Dunkel des ihn in der Höhe umgebenden Nebels. Viel weiter unten hingegen war das Torhaus gut bewacht - besser noch als zu dem Zeitpunkt, da Corax Azura entführt und mit sich hierher geschleppt hatte, um damals schon die Schriftrolle der Wassermagie für seine Herrin zu suchen. Serpentnis Mortis hatte die Akademie inzwischen eingenommen. Sie war zu ihrem Palast geworden und all jene innerhalb der Mauern zu ihrem Gefolge aus Soldaten, Magierin, Dienern und Sklaven. Einer davon musste Corax sein, wenn er denn noch lebte.
Vor den herabgelassenen Gittertoren des Torhauses fanden sich mehrere Wächter ein. Dunkelelfische Soldaten wie Magier überprüften all jene, die die Akademie betreten oder verlassen wollten. Die Zauberfähigen unter ihnen erkannte man schnell, denn sie trugen Stoffroben mit dem Wappen Morgerias - entweder als Muster am Saum, als Gürtelschnalle oder Überwurf über der eigentlichen Kleidung. Von überall schaute eine schwarze oder silberne Fledermaus aus unheimlichen Augen und mit aufgerissenem Maul auf die Ankommenden. Selbst als Bildnis auf den purpurnen Bannern neben dem Eingang starrte sie den Besuchern entgegen.
Wenn Azura, Caleb, Jakub und Madiha geglaubt hatten, allein hier zu sein, wurden sie ihres Irrtums schnell gewahr. Es gab unglaublich viele Personen, die die Akademie der Wassermagie aufsuchten. Menschen, Goblins, sogar ein Ork stand in der Schlange aus Wartenden, an deren Ende sich das Quartett nun einreihte. Vor ihnen standen zwei Elfen. Einer besaß die dunkle Haut, die seinem Volk den Namen schenkte. Er trug sein silbernes Haar kurz geschoren, so dass man den schwarzen Metallreif gut erkannte, der sich um seinen Schädel legte. Seine Aufmerksamkeit galt der Elfe an seiner Seite und das überraschte. Denn sie war eindeutig keine Dunkle. Ihre Haut schimmerte hell wie eine Muschelperle und mit selbigem schmückte sie auch Handgelenke und Spitzohren. Eine wie ein Seestern geformte Fibel hielt ihren Umhang mit der weiten Kapuze zusammen, unter der sie selbst noch eine Art Gesichtsschutz trug, als bekäme ihr das Tageslicht nicht. So sah man lediglich ihre blauen Augen, die farblich wunderbar zu ihren Gewändern passten. Reizvoll war sie nicht gekleidet, sondern eher vermummt. Trotzdem machte sie keineswegs den Eindruck, der Berufung einer Assassinin nachzugehen. Man erkannte keine Waffen an ihrem Körper, ließ man den Stecken mit der kindskopfgroßen Perlenkugel an der Spitze außen vor.
"... bin mir sicher, du wirst dich hier endlich entfalten können. Die Herrin Mortis wird niemals deine Lehrmeisterin sein, denn sie ist der Wassermagie nicht mächtig, aber unter ihr dienen nun genug Menschen, welche ihr Wissen an dich weitertragen werden", säuselte der Dunkelelf seiner Gefährtin zu. Sie nickte und umfasste seinen Arm, um sich gegen ihn zu lehnen.
"Ich bin so glücklich", erwiderte sie. "In Morgeria hatte ich nie die Chance und wurde für meine Gabe nur ausgelacht. Endlich kann auch ich unter Manthalas Vollmond erblühen."
"Meine Nachtblume."
Die hellere Elfe kicherte und ließ es zu, dass ihr Gefährte einen Arm um sie legte. Beide blickten daraufhin wieder nach vorn. Vor ihnen kamen noch einige Menschen, der Ork und zwei andere Dunkelelfen dran. Gerade wurde ein Goblin durch eine separate Tür im Gittertor gewunken. Er verbeugte sich so immens, dass er mit seinem kahlen Schädel gegen das Metall donnerte. Es sorgte für einige Lacher und sicher Kopfschmerzen bei dem armen Goblins. Er eilte sich, die Brücke zu passieren.
Caleb beugte sich in seine Gruppe, da alle anderen im Moment gut durch die Aktion des Goblins abgelenkt waren. Leise wisperte er ihnen zu: "Wir könnten wirklich auf offiziellem Weg hinein gelangen. Halten wir an dem Plan fest, einen Gegenzauber für Azuras Zustand suchen zu wollen? Und was machen wir, wenn jemand auf dich aufmerksam wird, Madi? Jetzt haben wir eine letzte Möglichkeit, das noch rasch zu besprechen."
Jakub beteiligte sich nicht an dieser Planung. Er lauschte zwar, behielt den Blick aber nach vorn gerichtet, um im Zweifelsfalls das Gespräch durch ein Räuspern zu unterbrechen. Vielleicht hätten sie auf dem Weg hierher darüber reden sollen, aber jetzt war es zu spät dafür. Sie standen schon in der Wartschlange und von hinten kamen weitere Bittsteller die Straße herauf.