Roderick rannte, rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Sein Atem ging schnell, doch sein Herz schlug schneller. So schnell, dass es jeden Augenblick zu zerbersten schien. Die Brust schmerzte ihm vor Anstrengung, während er seine Beine kaum noch spürte. Die Riemen seines Schultergurtes schnitten ihm in den Nacken, welcher alleine die volle Last der Armbrust zu stützen hatte. Diese schlug im Lauf durchgehend an seinen Rücken und scheuerte ihn dabei wund. Seinen Hals kitzelte der sanfte Atem des kleinen Mädchens, das er seit einigen Stunden trug. Es hatte beide Arme um ihn geschlungen und den Kopf in seiner Schulter vergraben. Es schien zu schlafen, die vorbeiziehende Welt, das Rütteln und Schütteln an seinem kleinen Körper, auszublenden. Zuvor hatte es geweint. Leise, fast unmerklich, nur durch die heißen Tränen spürbar, die Rodericks Kragen aufgesogen hatte.
Die Kleine hatte bisher kein einziges Wort gesprochen. Keine Antwort auf Rodericks Fragen gegeben, nicht ihren Namen erwidert, als er ihr seinen genannt hatte. Sie war still in der Ecke gesessen, als Roderick eilig die kleine Bauernhütte durchsucht hatte. Einen Laib Brot hatte er aus dem Vorratsschrank genommen, in ein Tuch eingewickelt und an seinen Gürtel gebunden. In einem Kästchen neben der Feuerstelle hatte er einen Münzbeutel mit einer kleinen Summe Füchse gefunden, den er hastig in seinen Taschen verschwinden hatte lassen. Den braunen Wollmantel, der an der Innenseite der Tür gehangen hatte, hatte er sich übergeworfen um die Farben seines Wappenrocks zu verdecken. Er hatte dem Mädchen geheißen zu warten, während er auf den Hof getreten war. Die Eltern des Kindes, die dort immer noch in ihrem Blut gelegen waren, hatte er hinter die Hütte getragen, ihnen die Bolzen aus den Leibern gezogen, die Augen geschlossen und die Hände gefaltet. Für ein Gebet oder ein Begräbnis war keine Zeit gewesen. Stattdessen war er in die Scheune geeilt, in der Hoffnung, einen Esel oder gar ein Pferd vorzufinden. Doch dort hatten auf ihn nur zwei Kühe und ein alter Ochse gewartet, die ihn aus runden Augen anglotzten. Als er wieder in die Hütte gekommen war, hatte das Mädchen noch an der selben Stelle gesessen, doch hatte sie nun etwas in ihren Händen. Sie hatte es an ihren Körper gepresst, als er auf sie zugegangen war. Es war eine Stoffpuppe, aus bunten Flicken zusammengestickt, mit hörnernen Knopfaugen und einer roten Schleife am Kopf. Ein Erinnerungsstück an ein Zuhause und eine Familie, die sie verloren hatte.
Die Puppe ragte nun aus Rodericks Seitentasche, die rote Schleife im Wind flatternd. Er hatte sie der Kleinen abgenommen, nachdem sie aufgehört hatte zu weinen und ihr Atem wieder ruhiger ging. Er wunderte sich, was sie über ihn dachte. Hatte sie Angst vor ihm? Hasste sie ihn? Wusste sie Bescheid vom Krieg und seinen Gräueln? Verstand sie, was er tat, indem er sie mit sich nahm? Dann wiederum hatte er selbst keine Antwort auf jene Frage, die ihm im Kopf herumschwirrte, seit sie den Bauernhof hinter sich gelassen hatte. Warum war er heute desertiert? Warum nicht vor einigen Wochen, als sie die Bewohner Andunies versklavt hatten? Warum nicht nach der Schleifung Pelgars, der prächtigsten Stadt die er zu Gesicht bekommen hatte? Warum nicht nach dem Blutbad von Kosral, wo sie unzählige Leben ausgelöscht hatten? Warum am heutigen Tag, der wie all die anderen Tage des vergangenen Jahres von Leid, Tod und Zerstörung gezeichnet war? Warum setzte er wegen diesem einen Mädchen auf einmal sein Leben auf's Spiel?
Es war wie es war. Roderick konnte sich seine Beweggründe nicht erklären, genau so wenig, wie er seine eigene Vergangenheit ändern konnte. Doch bot sich nun die unverhoffte Gelegenheit, wieder Herr seiner eigenen Zukunft zu werden. Eine Zukunft, die er in Freiheit verbringen konnte, wenn er es geschickt anstellte. Andere Fragen waren also im Moment wichtiger.
Wohin sollten sie fliehen? Welcher Ort bot Zuflucht für einen Fahnenflüchtigen und ein kleines Mädchen? In der stillen Ebene konnten sie nicht bleiben, nicht wenn das dunkle Volk bereits damit beschäftigt war, die Landbevölkerung zu unterjochen. Pelgar und Andunie im Norden waren gefallen. Das freie Königreich Jorsan im Süden war den Streitmächten Grandessas ausgeliefert und durch die Einmischung Morgerias womöglich bald dem selben Schicksal geweiht. Im Westen warteten die Wälder Sarius und Neldoreth auf sie, wild und dicht wie sie waren, konnten sie neben der Rettung genauso den sicheren Tod bedeuten.
Wie lange, bis man sie finden würde? Suchte man überhaupt nach ihm? Roderick ging davon aus. Würden die Kommandanten ihn ziehen lassen, wäre das ein Schimmer von Hoffnung für alle anderen Soldaten, die mit Fluchtgedanken spielten. Nein, bestimmt würden sie ihm die Wargreiter auf den Hals hetzen. Harald konnte ihm etwas Zeit verschaffen, indem er seine Ankunft im Lager hinauszögerte und die Dunkelelfen mit einer Lüge auf die falsche Fährte lockte. Er würde ihm somit kostbare Zeit verschaffen. Doch früher oder später würden seine Verfolger die Hütte finden und seine Spur aufnehmen. Und dann...?
Roderick rannte, während hinter ihm die Sonne starb und die Stille Ebene in ihr rotes Licht tunkte. Er rannte, wie die letzten Strahlen in der Dunkelheit ertranken und ihm sein Schatten geraubt wurde. Er rannte, als sich der Himmel öffnete und seine funkelnden Schätze zur Schau stellte. Er rannte - und sah dabei nicht zurück.
Die Kleine hatte bisher kein einziges Wort gesprochen. Keine Antwort auf Rodericks Fragen gegeben, nicht ihren Namen erwidert, als er ihr seinen genannt hatte. Sie war still in der Ecke gesessen, als Roderick eilig die kleine Bauernhütte durchsucht hatte. Einen Laib Brot hatte er aus dem Vorratsschrank genommen, in ein Tuch eingewickelt und an seinen Gürtel gebunden. In einem Kästchen neben der Feuerstelle hatte er einen Münzbeutel mit einer kleinen Summe Füchse gefunden, den er hastig in seinen Taschen verschwinden hatte lassen. Den braunen Wollmantel, der an der Innenseite der Tür gehangen hatte, hatte er sich übergeworfen um die Farben seines Wappenrocks zu verdecken. Er hatte dem Mädchen geheißen zu warten, während er auf den Hof getreten war. Die Eltern des Kindes, die dort immer noch in ihrem Blut gelegen waren, hatte er hinter die Hütte getragen, ihnen die Bolzen aus den Leibern gezogen, die Augen geschlossen und die Hände gefaltet. Für ein Gebet oder ein Begräbnis war keine Zeit gewesen. Stattdessen war er in die Scheune geeilt, in der Hoffnung, einen Esel oder gar ein Pferd vorzufinden. Doch dort hatten auf ihn nur zwei Kühe und ein alter Ochse gewartet, die ihn aus runden Augen anglotzten. Als er wieder in die Hütte gekommen war, hatte das Mädchen noch an der selben Stelle gesessen, doch hatte sie nun etwas in ihren Händen. Sie hatte es an ihren Körper gepresst, als er auf sie zugegangen war. Es war eine Stoffpuppe, aus bunten Flicken zusammengestickt, mit hörnernen Knopfaugen und einer roten Schleife am Kopf. Ein Erinnerungsstück an ein Zuhause und eine Familie, die sie verloren hatte.
Die Puppe ragte nun aus Rodericks Seitentasche, die rote Schleife im Wind flatternd. Er hatte sie der Kleinen abgenommen, nachdem sie aufgehört hatte zu weinen und ihr Atem wieder ruhiger ging. Er wunderte sich, was sie über ihn dachte. Hatte sie Angst vor ihm? Hasste sie ihn? Wusste sie Bescheid vom Krieg und seinen Gräueln? Verstand sie, was er tat, indem er sie mit sich nahm? Dann wiederum hatte er selbst keine Antwort auf jene Frage, die ihm im Kopf herumschwirrte, seit sie den Bauernhof hinter sich gelassen hatte. Warum war er heute desertiert? Warum nicht vor einigen Wochen, als sie die Bewohner Andunies versklavt hatten? Warum nicht nach der Schleifung Pelgars, der prächtigsten Stadt die er zu Gesicht bekommen hatte? Warum nicht nach dem Blutbad von Kosral, wo sie unzählige Leben ausgelöscht hatten? Warum am heutigen Tag, der wie all die anderen Tage des vergangenen Jahres von Leid, Tod und Zerstörung gezeichnet war? Warum setzte er wegen diesem einen Mädchen auf einmal sein Leben auf's Spiel?
Es war wie es war. Roderick konnte sich seine Beweggründe nicht erklären, genau so wenig, wie er seine eigene Vergangenheit ändern konnte. Doch bot sich nun die unverhoffte Gelegenheit, wieder Herr seiner eigenen Zukunft zu werden. Eine Zukunft, die er in Freiheit verbringen konnte, wenn er es geschickt anstellte. Andere Fragen waren also im Moment wichtiger.
Wohin sollten sie fliehen? Welcher Ort bot Zuflucht für einen Fahnenflüchtigen und ein kleines Mädchen? In der stillen Ebene konnten sie nicht bleiben, nicht wenn das dunkle Volk bereits damit beschäftigt war, die Landbevölkerung zu unterjochen. Pelgar und Andunie im Norden waren gefallen. Das freie Königreich Jorsan im Süden war den Streitmächten Grandessas ausgeliefert und durch die Einmischung Morgerias womöglich bald dem selben Schicksal geweiht. Im Westen warteten die Wälder Sarius und Neldoreth auf sie, wild und dicht wie sie waren, konnten sie neben der Rettung genauso den sicheren Tod bedeuten.
Wie lange, bis man sie finden würde? Suchte man überhaupt nach ihm? Roderick ging davon aus. Würden die Kommandanten ihn ziehen lassen, wäre das ein Schimmer von Hoffnung für alle anderen Soldaten, die mit Fluchtgedanken spielten. Nein, bestimmt würden sie ihm die Wargreiter auf den Hals hetzen. Harald konnte ihm etwas Zeit verschaffen, indem er seine Ankunft im Lager hinauszögerte und die Dunkelelfen mit einer Lüge auf die falsche Fährte lockte. Er würde ihm somit kostbare Zeit verschaffen. Doch früher oder später würden seine Verfolger die Hütte finden und seine Spur aufnehmen. Und dann...?
Roderick rannte, während hinter ihm die Sonne starb und die Stille Ebene in ihr rotes Licht tunkte. Er rannte, wie die letzten Strahlen in der Dunkelheit ertranken und ihm sein Schatten geraubt wurde. Er rannte, als sich der Himmel öffnete und seine funkelnden Schätze zur Schau stellte. Er rannte - und sah dabei nicht zurück.