Kazels innerer Zwiespalt ließ ihn handlungsunfähig verharren. Die Schatten seiner Vergangenheit hatte ihn eingeholt, da war er sich fast sicher.
Meinen Blick...? Nein!
Er presste die Augen zusammen, schob sogar eine Hand davor, um sein Sichtfeld abzuschirmen. Wenn Raxtian ihn wirklich noch in seiner Gewalt hatte, durfte er jetzt nicht sehen, was Kazel sah. Und wenn er schon wusste, dass er mit Leoniden unterwegs war? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Wie konnte er sich sicher sein, dass er nur durch seine bloße Anwesenheit die Gefährten in Gefahr brachte, die ihn unterstützen wollten? War er vielleicht schon vor Tagen zum Verräter geworden, ohne es zu wollen? Führte er sie schon in ihr Verderben? Und seine Sinne ... welchen konnte er vertrauen? Welche davon musste er schützen und abschirmen, wenn sie nicht mehr ihm gehörten? Wie viel hatte der Wegbereiter der Toten mit seiner Hilfe schon heraus gefunden? Sturmadlers Gedanken kreisten im Nebel seiner Angst. Denn Angst war es die seine Glieder ergriffen hatte, kalte nackte Angst, die seinen Verstand genauso wie sein Handeln lähmte. Angst um jene die er beschützen wollte, die er in Sicherheit wähnte, aber vielleicht auch die Angst seiner Vergangenheit wieder zu begegnen. Er drückt das Gesicht gegen den kalten Erdboden, spürte, wie kantige, scharfe Steinchen auf seine Mandelhaut trafen und wie feuchtes Gras ihn an der Stirn kitzelte. Sein Atem prallte vom Erdreich ab, schlug warm zurück gegen sein Antlitz, das in Verzweiflung zu einer Fratze verzerrt war. Es war ein seltsam beruhigendes Gefühl, zu fühlen, dass der eigene Atem noch warm war, doch was sollte er nun tun? Er starrte den Boden unter sich an, denn seine Augen begannen zu brennen, wenn er sie schloss. Kleine braune Klumpen zwischen filigranen Wurzeln, die sich tief in das Erdreich gegraben hatten und mit ihrem Leben daran fest hielten, genauso wie sie sich davon ernährten. Ein Tautropfen rann quälend langsam den schlanken Halm entlang und bildete eine dicke, kleine, glänzende Kugel, kurz bevor er sich von der zarten, grünen Spitze löste und …
… still in der Luft stehen blieb.
Es war still geworden. Zu still! Kein Lufthauch bewegte das Gras, kein Knurren drang an die feinen Elfenohren, nichts was Kazels träumerischen Blick auf das kleine, perfekte Rund direkt vor seinen Augen hätte ablenken können. Sein winzig kleines Abbild blickte zurück aus der spiegelnden Perle aus Wasser. Die um ihn Stille war so laut und überwältigend, dass Kazel sein eigenes Blut in den Ohren dröhnen hörte. Sein Herzschlag grollte wie rollender Donner und sein Atem war lauter als ein Wasserfall. Gewarnt und überaus vorsichtig erhob er langsam den Kopf, als ihm gewahr wurde, dass irgendetwas gewaltig nicht stimmte!
Sein Adlerauge kreiste langsam über dem erstarrten Lagerfeuer ganz in seiner Nähe, über dem die Funken still wie Sterne standen. Mitten im Lager war gerade ein Ork über einen Anderen gestolpert und hing, halb im Fall und nur noch mit dem großen Zeh gerade so dem Erdreich noch verbunden, in der Luft. Sämtliche Gesetzte der Natur schienen aufgehoben und waren es doch nicht, denn etwas anderes war außer Kraft gesetzt worden. Etwas was Kazel jedoch von diesem Effekt ausgenommen hatte und nur ihn allein, denn selbst Rhudos kauerte unweit vollkommen regungslos im Gras, auch wenn sein Körper einer gespannten Feder glich. Nachdem sich Kazel von seinem ersten Schreck erholt hatte, sich aufrichtete und seine Umgebung betrachte, fielen ihm auch vier Krähen auf die schwerelos am Himmel hingen, als hätte sie jemand an Fäden aufgehängt. Weit und breit regte sich nichts, als hätte die Welt aufgehört … Nein, der Welt ging es gut, nur mit ihm stimmte etwas nicht!
Etwas oder jemand hatte ihn aus dem Lauf der Welt heraus genommen.
Plötzlich lachte es hohl hinter ihm und als der Mischling herum fuhr, erblickte er eine schwarze verhüllte Gestalt auf dem Stein sitzend, hinter dem er eben noch gekauert hatte. Gerade eben war er noch nicht da gewesen, da war er sich ganz sicher. Doch jetzt zog sich Frost zu seinen knöchernen Füßen über die Halme und eine beeindruckende Sense lehnte wie beiläufig an seiner Schulter. Die Kutte war über dem meisten Teil des Körpers geschlossen doch auf seinem blanken Brustbein klirrten leise die Kettenglieder die seinen Mantel hielten. Die Brosche alleine hätte dem Elfen schon verraten, wer dort vor ihm saß und so hölzern kicherte, aber als sich das zuckende Haupt langsam hob und Kazel in die leeren Höhlen eines Schädels blickte, fühlte er sich dem Tode nicht nur sprichwörtlich nahe.
Das hohle Lachen hörte auf und winzige Funken schielten nach dem Sterblichen.
„Du lässt dich von deiner Angst schnell täuschen, Sturmadler!"
Betont langsam stand er auf und machte einen Schritt auf das Lager zu, hin an Kazels Seite. Es wurde kalt wie in einem Grab.
"Dieser Gestank! Er würde mich umbringen, könnte ich ihn riechen, hahaha!"
Das Lippenlose Grinsen wandte sich wieder etwas ernster dem Abenteurer zu.
"Es ist nicht die Vergangenheit, die dich verfolgt, sondern deine Zukunft ... Schau nicht so erschrocken, ich bin nicht hier um dich zu holen ... noch nicht. Aber ich habe ein Auge auf dich geworfen, als ... sagen wir, als du nicht ganz du selbst warst. Jemand der seine Seele schon einmal verloren und genügend Kraft bewiesen hat sich wieder zusammen zu fügen, der interessiert mich und du hast schon einmal fast an meine Tür geklopft. Ein bisschen gehörst du schon mir, mein junger Freund."
Er stellte seine Sense in das Gras und an der Stelle verdorrte sofort jedes Leben.
"Du bist noch nicht bereit alles zu sehen, was ich weiß, aber ich könnte dich auch den Weg führen. Dies hier ..."
Sein Arm hob sich und eine knöcherne Hand schob sich unter der fließenden Finsternis seines Gewandes hervor, die sich zu seinen Füßen mit dem dunklen Nebel vermischte. Er wies auf das Lager und in den leblosen Höhlen seiner Augen brannte schwarzes Feuer.
„... Dies ist nur eine Spur, ein kleines Stück eines großen Plans, der dich aus deiner Zukunft hin zu deiner Vergangenheit führen wird. Doch ich schmecke auch hier die Verderbnis, die mir meinen Lohn verweigert. Mein Monopol ist es die Seelen der Verstorbenen in mein Reich zu bringen und hier wird er mir verwehrt! Bald …“
Er trat noch einen Schritt näher an Kazel heran und die Dunkelheit war körperlich fühlbar. Das Ende war nahe.
„Bald werde ich dir ein besonderes Angebot machen, doch heute werde ich dir nur etwas kleines schenken. Hihi, quasi ein Vorschuss auf künftige gute Zusammenarbeit, wenn du so willst. Ich gebe dir 666 Herzschläge außerhalb jeglichen Lebens … außerhalb der Zeit. Verwende sie weise.“
Er wandte sich ab und es wurde sofort merklich wärmer.
„Wir sehen uns bald wieder und dann … wirst du verstehen.“
666 Herzschläge. Ein normales Herz im Ruhezustand schlug gut 70 bis 80 mal in der Minute, also hatte Kazel nun etwas über acht Minuten Zeit um sich im feindlichen Lager umzusehen, wenn er den Mut dazu aufbrachte und sein Herzklopfen beruhigen konnte. Acht Minuten in denen er das Lager, vielleicht die beiden allein stehenden Zelte oder vielleicht sogar noch mehr untersuchen konnte. Er musste auf jeden Fall gut geplant vorgehen.
„Dein junges Herz wird sich nach dem Leben sehnen, nach der immer währenden Veränderung. Du wirst den Wunsch verspüren etwas zu verändern, doch wähle weise. Nicht alles lässt sich ändern und vieles würde sich wehren. Lass es, wenn du dir nicht sicher bist. Das Leben geht in jedem Fall weiter. Ich werde dich von hier aus beobachten.“
Erweise dich als würdig … und du wirst deine ersehnten Antworten erhalten und noch viel mehr …
Kazel fühlte tief in sich das Drängen, das die hohle Stimme in ihm herauf beschworen hatte. Er musste sich wie bei einer Prüfung fühlen, als würde seine Seele einem Test unterzogen werden. Der Tod war ein gnadenloser Verhandlungspartner, aber er hatte ihm die Wahl gelassen. Er konnte still stehen bleiben und die Herzschläge ungenutzt verstreichen lassen, oder acht Minuten zwischen den Reihen des Feindes wandeln. Es lag in seiner Hand.
In den kahlen Finger des Gevatters erschien eine Sanduhr und er drehte sie als er sprach:
„Deine Zeit läuft ab … JETZT!“