Während auf Celcia die Sonne aufging und ihre ersten frühlingshaften Strahlen den Schnee etwas auflockerten, damit sich bald ein Feld aus violetten Krokussen und weißen Schneeglöckchen über das Grasland ziehen könnte, bekam Sarin davon nichts mit. Sie bewegte sich nämlich erneut unter Tage. Mit dem Schlüssel, den sie von Hyacinthus noch erhalten hatte, gelang es ihr spielend leicht, den Zugang zum magischen Fluchttunnel zu öffnen. Es dauerte wirklich deutlich weniger lang, ihn zu nutzen. Außerdem war es für sie im Moment auch sicherer, da sie sich erst einmal nicht um das Tageslicht sorgen musste. Jenes sah sie wieder, als sie aus dem Hinterzimmer der fliegenden Schänke herausgeschlichen kam. Es war noch zu früh, als dass sich im Schankraum schon reges Treiben wiederfand. Die Vorhänge waren zugezogen und alles lag noch im Stillen da. Kein Wirt, keine Hilfskraft, niemand zeigte sich. Das hatte allerdings auch zur Folge, dass die Tür zur Taverne abgeschlossen war. Sarin mochte als Nachtelfe mit einigen Vorurteilen zu kämpfen haben, aber bestätigen konnten sie sich an ihr nicht. Sie war weder eine Diebin, noch Assassinin und gewiss auch keine Einbrecherin. So blieb ihr nichts Anderes übrig, als im Schankraum eine Weile auszuharren. Die Zeit konnte sie nutzen, um nach Cas zu schauen. Er lag noch immer friedlich zwischen garn und Flicken in seinem Nähkästchen. Sein schwaches Leuchten war unverändert, aber das konnte man auch insofern positiv auslegen, als dass sich sein Zustand nicht verschlimmert hatte.
Nach einer geschlagenen Stunde schlurfte endlich der Wirt des Gasthauses in den Schankraum. Er gähnte und streckte sich, hielt in der Bewegung jedoch inne, als er Sarin entdeckte. Überrascht schien er nicht, eher genervt, denn er rollte mit den Augen. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, sie zu grüßen oder sonst ein Wort zu verlieren. Stattdessen stapfte er grummelnd zu einer Keksdose und förderte den Tavernenschlüssel daraus zu Tage, mit dem er Sarin die Lukentür öffnete. "Worauf hab ich mich da damals nur eingelassen?", brummelte er und schaute die Nachtelfe an. Dann winkte er sie auffordernd, die Luke zu nehmen. "Na los, los. Sonst verpasst du noch deinen Unterricht! Nächstes Mal sei vor der Hundswache hier, dann ist Zapfenstreich." Erneut grummelte er. "Jeder Zyraner sollte mit einem magischen Zeitmesser ausgestattet werden, damit ihr es wenigstens pünktlich hierher schafft, wenn ihr schon feiern geht statt zu lernen. Pha!" Zumindest ließ er Sarin ohne weitere Konsequenzen ziehen.
Nun stand sie hier, erneut in Zyranus und hatte nicht so Recht einen Plan, wohin es nun gehen sollte. Ihr Ziel war ihr bekannt. Sie wollte Mallahall aufsuchen. Nur die Lichtmagierin konnte ihr mit Cas' Zustand helfen. Außerdem musste sie ihr noch mitteilen, dass das matte Lichtlein das Einzige war, was von Castus geblieben war. Das würde kein Leichtes werden, aber erst einmal musste sie herausfinden, wo Mallahall steckte.
Zuletzt hatte sie die Blonde gesehen, wie sie durch zuckende Energieblitze aus der Hand des Großen Avatars zu Boden gegangen war, zusammen mit ihrer Mutter Gundula di Svanwiss. Beide hatten sich gestritten, während man Castus im hohen Rat der Magie anhörte und sie hatten sich auf keine andere Weise trennen lassen. Wenigstens war der Große Avatar weitsichtig genug, beide sofort in Behandlung bringen zu lassen. Das ließ Sarin sich bis zum Hospital der Magierstadt durchfragen. Auch dort musste sie erneut einige Zeit warten, bis man sich ihrer überhaupt annehmen konnte. Die Flüchtlingswelle grandessarischer Soldaten und Dunkelelfen hielt Einzug in die magische Stadt. Zu viele waren verletzt und brauchten Versorgung. Die heilkundigen Magier waren bereits jetzt unter Druck, so dass nicht einmal der freundlich Magus am Empfang sich sofort um Sarins Belange kümmern konnte. Irgendwann aber huschte eine Pflegekraft eilig zu ihr und teilte ihr mit, dass Mallahall di Svanwiss bereits im Stadthaus ihrer Familie untergekommen sei. Es ginge ihr deutlich besser als ihrer Mutter, welche noch immer ein Bett hier bezog.
Sarin nutzte die Gelegenheit, sich sofort eine Wegbeschreibung geben zu lassen und so kam es, dass sie wenig später vor dem Anwesen der Lichtmagierin stand. Die Sonne hatte beinahe ihren Zenit erreicht. Der Nachtelfe knurrte gehörig der Magen und der mangelnde Schlaf ermüdete sie. Trotzdem konnte und wollte sie sich nun keine Ruhepause gönnen. Sie war so weit. Es fehlte nur noch, dass sie den goldenen Türgriff in die Hand nahm und anklopfte.
Das Haus selbst war interessanterweise wenig beeindruckend für zyranische Verhältnisse. Es besaß eine scharfkantig eckige Architektur. Die Dächer der Türmchen fielen pyramidenförmig aus und selbst die Laterne neben dem Eingang erinnerte eher an einen rechteckigen Zylinder. Verspielt wirkte hier nichts im Gegensatz zu den Nachbarhäusern. Große Verzierungen besaß das Heim ebenfalls nicht. Es machte einen ... immens strukturierten Eindruck und erinnerte an die Portion Logik inmitten von kreativem Chaos. Hätte es sich um ein geschneidertes Kleid gehandelt, so wäre das Haus der di Svanwiss ein großer, rechteckiger und sehr gerade aufgenähter Flicken auf einem Kleid aus wallenden Stoffbahnen mit viel Bausch, Schleifchen und glitzernden Schmetterlingen aus Seidentuch. Es wirkte so fehl am Platz! So ... wenig zauberhaft wie der Rest der Stadt. Vielleicht war auch das der beeindruckende Anteil dieses Gebäudes.
Sobald Sarin durch Klopfen oder Läuten der Türglocke auf sich aufmerksam machte, öffnete ihr jemand die Pforte. Es handelte sich um einen Hausdiener, adrett gekleidet. Sarin hatte einen ähnlichen Anzug einmal für einen nachtelfischen Diener angefertigt. Bei ihrer Version war sie jedoch kreativ vorgegangen und hatte winzige, Manthala gefällige Nachtrosen als Saum aufgestickt. Dieser Diener hier war eine Fleisch gewordene Interpretation des Stadthauses selbst. Er sah ordentlich aus. Zu ordentlich! Das Revers seines Fracks passte sich nahtlos an seine steife Haltung an. Die Schuhe waren auf Hochglanz poliert, die Falten in seiner Hose stachen hervor. Dieser Mann konnte in seinem ganzen Leben noch nicht einmal Spaß gehabt haben! Davon zeugte auch seine Miene. Selbst die Falten auf seiner durch Alter etwas ergrauten Haut machten einen geometrisch perfekten Eindruck. Nur der Leberfleck, welcher sich über seine Halbglatze bis hinunter zum Auge zog, gab dem Mann eine Spur Persönlichkeit. Er musterte Sarin über die halbmondförmigen Gläser eines vergoldeten Brillengestells hinweg mit dem neutral höflichen Blick einer Person, die gelernt hatte, nur so zu schauen.
"Guten Morgen, Fräulein. Darf ich erfahren, welche Belange Euch an die Tür derer di Svanwiss führen? Die Hausherrin und Ratsmitglied des Hohen Rates der Magie zu Zyranus ist leider nicht zugegen." Damit konnte er nur Gundula meinen, denn Mallahall war nicht Teil des Magierrates. Schon wollte der Diener mit einem Räuspern die Tür wieder schließen, da er keinen Anlass sah, jemanden herein zu lassen, wenn man die Hausherrin nicht antreffen konnte. Wie es mit einem Ehemann oder eben der Tochter Mall aussah, schien ihn nicht zu interessieren. Wenn Sarin ihm also nicht Einhalt gebot, würde sie gleich nach dem ersten Klopfen, respektive Läuten wieder vor verschlossener Tür stehen.