(Einstiegspost)
Es hatte länger gedauert, als Aleksa erwartet hatte, doch kurz vor Mitternacht in der dritten Nacht, die sie unterwegs war, erkannte sie weit hinten im Schneegestöber plötzlich die Schemen einer Stadt. Da sie erst den Wald Arus durchquert und sich dann so gehalten hatte, dass sie das Schattengebirge ständig zu ihrer Rechten sehen konnte, waren keine Zweifel möglich: Das da vorne musste Dessaria sein.
Sie stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus und beschleunigte ihre Schritte. Warm war es schon nicht gewesen, als sie aufgebrochen war, doch mittlerweile war es sogar noch kälter und Aleksa sehnte sich nach einem beheizten Platz, an dem sie sich ausruhen konnte. Die letzten Nächte waren kein Vergnügen gewesen. Obwohl ihre Schuhe perfekt saßen, taten ihr schon kurz nach ihrem Aufbruch die Füße weh, doch sie war weitergewandert, Stunde um Stunde, bis die Sonne aufgegangen war und sie sich im Schutz der letzten Bäume des Waldrandes schlafen gelegt hatte. Die zweite Nacht war identisch verlaufen, nur, dass sie für den zweiten Tag nicht zwischen Bäumen, sondern in einer Felsspalte Schutz gesucht hatte. Und nun, in der dritten Nacht, war ihr vorläufiges Ziel endlich in Sichtweite.
Während sie sich der Stadt näherte und aus den undeutlichen Schemen langsam klarere Konturen wurden, wuchs Aleksas Staunen immer mehr. Schon die Berge waren ein unglaublich beeindruckender Anblick, wie sie so groß, kalt und unnahbar über Aleksa aufragten. Doch diese Stadt war noch einmal etwas für sich. Nicht nur von der Größe her, sondern auch und vor allem, weil sie von Lebewesen gebaut worden war. Das Elfenmädchen konnte sich nicht vorstellen, wie viel Mühe es gekostet haben musste, sie zu errichten.
So langsam ergriff eine gewisse Nervosität Besitz von Aleksa, als sie darüber nachdachte, was sie dort in Dessaria erwartete. Sie wusste, dass eine Stadt eine Ansammlung vieler, vieler Häuser war, doch schon zehn Häuser am selben Ort überstiegen ihr Vorstellungsvermögen. Und dann erst die ganzen Bewohner, die es dort geben würde… Schon mit drei Elfen im selben Haus konnte es manchmal leicht unübersichtlich werden, wie Aleksa in den letzten Jahren immer mal wieder gemerkt hatte. In einer Stadt wie Dessaria würden es gleich mehrere hundert Lebewesen sein.
Als sie das Stadttor bereits deutlich ausmachen konnte, blieb Aleksa für einen Moment stehen. Für sie hatte die Nacht gerade erst begonnen, doch für fast alle, die in dieser Stadt lebten, musste wohl der Tag so gut wie vorüber sein. Hoffentlich würde sie um diese Zeit überhaupt noch jemanden antreffen, der ihr weiterhelfen könnte. Das Tor musste doch auch um diese Zeit bewacht sein, so hoffte die junge Nachtelfe. Sie würde einfach eine der Wachen ansprechen.
Das Schneegestöber wurde stärker, während sie die letzten mühsamen Schritte in Richtung Stadttor machte.
Gleich wäre sie da, bereit, die Frage zu stellen, die am Anfang ihrer Suche stehen sollte. Bereit, diese Stadt zu betreten und mit eigenen Augen zu sehen, was jetzt noch unvorstellbar für sie schien. Sie würde durch die Straßen gehen, Fremden begegnen, sich durch die vielen Häuser eingeschüchtert fühlen und sich schließlich irgendwo ein kleines Zimmer mieten, in dem sie sich für den Rest der Nacht aufwärmen und ausruhen könnte. Vielleicht würde es ihr sogar trotz der für sie ungewöhnlichen Zeit gelingen, ein paar Stunden zu schlafen. Immerhin waren die letzten beiden Tage so ungemütlich gewesen, dass sie an diesen deutlich zu wenig Schlaf bekommen hatte. Und morgen früh würde sie trotz der Sonne aufstehen, losgehen und versuchen, Informationen zu sammeln.
Unwillkürlich nickte Aleksa. Das war ihr Plan. Jetzt müsste sie nur noch irgendwie in diese Stadt reinkommen.
Sie hatte das Stadttor nun erreicht. Der Schnee fiel in immer größeren und dichteren Flocken. Es wurde langsam sogar schwer, die eigene ausgestreckte Hand zu sehen, wie das Elfenmädchen feststellte. Trotzdem fiel ihr etwas großes, dunkles ein Stück vor ihr auf. Was immer es sein mochte, es bewegte sich nicht. Doch da es direkt am Tor stand, hoffte Aleksa, es könnte sich um eine Wache handeln. Sie trat noch einen Schritt darauf zu. „Entschuldigung“, sagte sie dann laut und mit fester Stimme. „Mein Name ist Aleksa und ich habe eine lange und anstrengende Reise hinter mir. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der sich mit Metall oder Waffen oder am besten gleich beidem auskennt. Könnten Sie mir vielleicht sagen, an wen in der Stadt ich mich da wenden muss und wo dieser Jemand zu finden ist?“
Dann verstummte Aleksa erstmal und hoffte. Sie hoffte, eine Antwort zu erhalten, in die Stadt gelassen zu werden und tatsächlich jemanden finden zu können, der ihr mehr über den Dolch erzählen konnte. Doch am meisten hoffte sie gerade, tatsächlich eine Wache angesprochen zu haben und nicht nur irgendeine Säule oder einen Baum.