"Hm", brummte der Elf nach einiger Zeit auf. Er betrachtete den Waldboden. Keine Anzeichen von Spuren, aber nur weil weder er noch Sarin welche entdeckten, hieß es nicht, dass es keine gab. Schließlich konnten beide auch Iryan nicht mehr länger ausmachen. Verlegen rieb Dhansair seinen Nacken. "Ich muss zugeben, als Waldläufer eigne ich mich nur bedingt. Diese Umgebung gehört nicht zu meinen gewohnten." Er straffte sich und warf einen Blick zum Dach des Nadelwalds. Kaum ein Lichtstrahl drang durch die Wälle aus sattem Grün hindurch. "Ich vertraue wieder einmal zu sehr auf Iryan. Er wird den Beobachter dennoch finden - wie immer." Er lachte knapp auf, doch sein Scherz war mehr als ein Kompliment an seinen Wächter. Wo dieser wohl steckte?
"Ich möchte nicht nach ihm rufen", fuhr Dhansair fort. "Es könnte auch den Feind auf uns aufmerksam machen." So legte er einen Finger an die eigenen Lippen, um Sarin zur Ruhe zu gemahnen. Er senkte zusätzlich seine Stimme. "Versuchen wir, nicht aufzufallen. Euch dürfte das nicht schwer fallen, als Nachtelfe. Kommt! Schauen wir mal, ob wir nicht doch etwas entdecken." Gemeinsam ging es weiter durch den Waldesgrund. Hier und da raschelte es im Gehölz, aber auch sie beide verursachten ein gelegentliches Knacken, wenn sie über den alten Nadelteppich schlichen.
"Wenn es bereits Nacht wäre, könnten wir nach der Mondblume suchen", raunte Dhansair. "Aber Euch ist klar, dass wir diese Tradition nur für ... unseren Plan vorschieben, oder? Äh ... eine Mondblume existiert nicht?" Dhansair kannte die nachtelfische Tradition nicht. Er war auch kein Botaniker, aber ihm schien nie zuvor eine volle Blüte um Mitternacht begegnet zu sein. Und woher sollte Sarin so etwas wissen? Nachtelfen lebten unter der Erde. Sie konnten sich glücklich schätzen, wenn ihre Pflanzen dort nicht regelmäßig eingingen ob des mangelnden Sonnenlichts. Er zweifelte doch etwas an der Tradition und war nun gespannt, ob Sarin ihm da mehr erzählen könnte. Zumal er die Stille zwischen ihnen wohl nur mäßig ertrug. Er sprach zwar selbst recht leise, aber ganz schweigsam blieb er nicht. Nicht einmal in seiner eigentlich angespannten Haltung. Jene hatte sich inzwischen aber schon wieder etwas gelöst, da sie beide keinerlei Anzeichen eines Beobachters bemerkt hatten. Vielleicht hatte nur jemand aus dem Lager beim Austreten geflucht. Wie Dhansair sagte: Iryan würde ihn schon finden.
Leider irrte er sich und es kam noch schlimmer: Weder fanden die beiden Spuren des Fluchenden, noch begegneten sie Iryan wieder. Selbst im derzeitigen eher dunklen und wintertrüben Gewand des Arus blieb der Wald dicht. Die Nadeln mochten ihre satte Farbe zur Zeit der Abendsonne nicht besitzen, aber sie präsentierten sich nach wie vor als dichtes und stacheliges Laubwerk der Bäume. An manchen Stellen gab es nicht einmal ein Durchdringen dieses Walls und durch trockene Dornensträucher wollte Dhansair seine Verlobte auch nicht zwängen. Nicht, wenn kein deutliches Ziel vor Augen lag. Tatsächlich ließen beide sich aber auch auf's Neue von der Umgebung ablenken und bemerkten gar nicht, dass sie tiefer und tiefer in den Arus vordrangen. Sarin entdeckte einfach ständig auf's Neue etwas, das sie faszinierte oder ihr besonders gefiel. Sei es das Eichhörnchen-Paar, welches die beiden zu begleiten schien, da es immer wieder ihren Weg kreuzte oder seien es zu Ringen gewachsene Pilzformationen. Manchmal streckten sie ihre schlanken Pflanzenkörper mit spitzen, braunen Hüten aus dem Boden, ein anderes Mal warben sie mit schillernd rotem Haupt und weißen kleinen Tupfen um Aufmerksamkeit. Zumindest bei Letzteren konnte Dhansair rechtzeitig eine Warnung ausrufen. Diese Pilze waren giftig und sollten nur angesehen, aber weder berührt noch gegessen werden. Dafür fanden Sarins Finger einen Platz auf weiteren Moosteppichen, die an einem Findling entlangwuchsen, der mutterseelenallein zwischen den Tannen aufragte. Er überragte selbst ihren Begleiter um Längen, war etwas oval und leicht zur Seite geneigt, so dass der Moosteppich auf seinem Stein wie ein tiefgrüner Mantel aus Natur wirkte. So musste Sarin ihn einfach berühren. Er fühlte sich weich und fast ein bisschen schwammig an.
Die Zeit verstrich, aber beide Elfen bemerkten kaum etwas davon. Sie amüsierten sich, hielten Gespräche aufrecht und Sarin bemerkte, dass ihre Rune an Dhansair volle Wirkung zeigte. Anders zwar als gedacht, denn sie öffnete nicht ihm neue Tore, sondern ihr eine Pforte zu seiner Seele, aber das half ihnen auch nur, einander etwas näher zu kommen. So lernten sie sich etwas besser kennen. Sarin konnte ihm viele Fragen stellen. Einige beantwortete der Dunkelelf, anderen wich er aus oder überging sie, weil ein spezielles Thema wesentlich interessanter erschien. Sarin erfuhr zwischen den Zeilen, dass Dhansair den Tanz nur deshalb so gut beherrschte, weil er sich dafür mehr interessierte als für Waffenkunde oder Kampftechniken. Dennoch hatte er sie schon in jungen Jahren lernen müssen, war geschickt mit dem Dunkelelfenschwert, bevorzugte aber schlanke und wendigere Waffen wie das Rapier oder den Degen. Etwas, das erneut ein Dorn im Auge seines Vaters war. Er nannte die feine Klinge an Dhansairs Hüfte beispielsweise gern mal eine Damenwaffe und verspottete so seinen eigenen Sohn, anstatt stolz auf dessen Kampfkunst zu sein.
"Ich bin bei Leibe nicht so gut, mich zu verteidigen wie Iryan es wäre, aber selbst ich kann ein ernst zu nehmender Gegner darstellen", berichtete der Elf, verstummte dann aber mitten in ihrer Unterhaltung. Er blieb stehen und gab vorerst nur noch einen Laut der Überraschung von sich. Dann schaute Dhansair nach oben. Er und Sarin hatten den Waldrand erreicht. Auf welcher Seite des Arus blieb ungewiss, zumindest für die Nachtelfe. Sie war schließlich das erste Mal hier. Aber ihr Begleiter klärte sie zunächst auch nicht auf, denn er starrte zum Himmel empor, welcher nun offen und fast frei von Wolken über ihnen hing. Sie hatten Glück, so lange durch den Wald geirrt zu sein, denn so hatte der Tag weichen können. Was Sarin und Dhansair nun mit einer nahezu runden Form begrüßte, war der Mond. In bleichem, mattgelbem Schimmer strahlte er auf Celcias Boden nieder. Seine Oberfläche wirkte ein wenig zerklüftet, so dass sich Muster aus dunkleren Flecken bildeten. Im Reich der Nachtelfen sprach man stets von Manthalas Antlitz als Synonym für diese matt schimmernde Kugel am Himmelszelt, doch mit einem Gesicht hatte sie tatsächlich wenig gemein. Ob das Sarin enttäuschte? Wenn ja, machte allein der Anblick des gewaltigen Himmelskörpers das wieder wett, denn ihn zum ersten Mal zu sehen mochte beeindruckender sein als ein Blick in die blendende Sonnenscheibe Lysanthors.
Außerdem war dem Mond gemein, dass er seine Umgebung zwar in ein Licht tauchte, dieses aber nicht hell genug war, um die Welt mit satten Farben zu füllen. Grautöne mischten sich mit dunklem Blau und Schwarz, teilweise wirkten manche Objekte auch wie von einem violetten Schleier umhüllt. Und wo Schnee den Grund bedeckte, da erzeugten die Mondstrahlen eine Spur mystischen Blaus auf der ansonsten weißen Decke. Besonders beeindruckend war dieser Anblick, wenn man sich - wie Sarin und Dhansair - am westlichen Waldrand des Arus befand. Dort ging er nämlich in das Grasland über, das mit einem Blick gen Norden eine weite, fast ebene Fläche aufwies. Auf dieser tummelten sich zahlreiche, unterschiedlich große Steinbrocken, als hätte ein Riese dort seinen von Steinchen überfüllten Stiefel ausgestreut. Mit einem Blick in südliche Richtung mischten sich immer mehr Baumgruppen und kleine Waldabschnitte in das Bild hinein. Alles war mit Schnee bedeckt, dass es selbst jetzt im Schein des Nachthimmels glitzerte wie Diamantenstaub.
Und als wäre das noch nicht alles gewesen, meinte Sarin plötzlich, eine Gestalt zu erkennen. Auf einem der Steine befand sich nämlich kein zweiter. Auch war das keine Statue, selbst wenn die Figur nahezu still da saß. Doch kein behauener Stein in der Wildnis und erst Recht kein natürlicher wies einen Bogen auf. Das konnte nur ein Lebender sein. Dhansair schien ihn noch nicht bemerkt zu haben, jedenfalls sagte er nichts. Iryan war nicht mit einem Bogen bewaffnet. Er konnte es also nicht sein. Ob es der fluchende Beobachter aus dem Dickicht war? Mehr als seine grauen Konturen im Mondlicht ließen sich nicht ausmachen, dazu befand er sich auf zu weiter Distanz. Dennoch stach er zumindest für Sarin aus all den Felsen heraus wie ein Knoten inmitten eines Strickmusters - nur eine Schneiderin fand die fehlerhafte Stelle auf Anhieb.