Es hätte Möglichkeiten für Sarin gegeben, sich von einer anderen Seite in den Palast zu schleichen, um den Prinzen dann von der Pforte aus zu empfangen. Aber diese Möglichkeiten setzten geduckte Schleichaktionen durch unterirdisch angelegte Gärten mit Nachtschattengewächsen voraus oder eine kurze Strecke Schwimmen durch die länglich angelegten Brunnenbecken, die teils wie ein Graben vor dem Anwesen Méntaras lagen. Gewiss war das Wasser um diese Zeit auch sehr kalt. Nun, es wäre eine besondere Form des Waschens gewesen, aber dann hätte Sarin definitiv nass und verdreckt zu ihrer Schneiderstube eilen müssen, um sich umzuziehen. Und Pagen, sowie Personal aus dem Wege zu gehen, war um diese Uhrzeit nahezu unmöglich.
So entschied sich die junge Nachtelfe dafür, eben doch auf das große Anwesen zuzulaufen, durch das gewaltige Eingangstor hindurch auf den breiten Platz, der wie ein überdimensionaler Hof vor dem Anwesen selbst lag. Dort hätten mehrere Kutschen Platz, in einem großzügigen Bogen zu wenden. Im Moment stand aber nur eine dort, geparkt vor den steinernen Stufen, die zur großen Eingangspforte des Anwesens empor führten. Und die Spinne ihrer lieben Freundin besaß acht wachsame Augen. Sie hatte sich in ihrem Bericht nicht gerirrt.
Vor der offenen Kutsche mit den großen silbernen Rädern waren zwei noch größere Bestien vorgespannt. Wie schwarze, pelzige Schattenwesen sahen sie aus. Gewaltige Hunde mit Geifer vor den Schnauzen und Zähnen, die ebenso silbern aufblitzten wie die Zierde am Gefährt hinter ihnen. Sarin erkannte schon von weitem die eingearbeiten, silber gestrichenen Eulen an den Seiten der Kutsche, deren nach hinten ausgebreitete Flügel die Rückenlehne der Kutschsitze bildeten. Jene des Kutschbocks erinnerte an einen gefiederten Fächer. Diese Kutsche war eindeutig nachtelfischer Machart, wohingegen die beiden schwarzen Ungetüme vor der Kutsche dunkelelfischer Herkunft sein mussten.
Allein der Gesamteindruck des Fahrzeugs konnte in Staunen versetzen. Vor allem lenkte er von Iryan ab, der kerzengerade auf dem Kutschbock saß und die Zügel lockert in den Händen hielt. Heute trug er eine Rüstung, allerdings zum Großteil aus schwarzem Leder und nur an den Schultern, Unterarmen und Schienbeinen durch Metallplatten verstärkt. Trotzdem erinnerte er mit dem düsteren Fledermaushelm immer noch an einen Ritter. Bewaffnet schien er ebenso, denn neben ihm ruhte ein Fledermausschild auf dem Kutschbock - Symbol Morgerias. Er bemerkte Sarin nicht, denn im Moment hatte Iryan sich nach hinten gewandt, zu dem einzigen Fahrgast auf dem Doppelrücksitz.
Es handelte sich um Dhansair von Blutsdorn. Adrett sah er aus in seinem schwarzen Seidenhemd und der ebenso schwarzen Brokatweste darüber. Die Füße steckten in knielangen Lederstiefel mit überraschen hohen Absätzen und passend zur Kutsche silbernen Schnallen. Diese besaßen allerdings die Form einer von dornigen Ranken umgebenen Rosenblüte. Eine Brosche, ebenfalls aus Silber und mit dem gleichen Symbol, zierte das Revers seiner Weste. Über den verschränkten Armen des Erbprinzen fiel sie sehr schnell auf.
Dhansairs Haltung zeugte von Ablehnung oder war es Ungeduld? Bester Laune schien er nicht. Dieser Eindruck bestätigte sich, als Sarin endlich die Kutsche erreichte. Der Dunkelelf bemerkte sie nämlich im ersten Augenblick ebenso wenig wie seine Leibwache, der er aus dem schulterlangen Vorhang seiner silbernen Haare einen fliedernen Giftblick zuwarf.
Iryan Ferndall redete auf seinen jungen Herrn ein: "... bitte dich, dich in der Öffentlichkeit zu benehmen! Du weißt, dass aller Augen auf dich gerichtet sind - jederzeit."
"Hach!", keifte Dhansair wenig elegant zurück. Er wirkte trotzig. Das änderte sich jedoch sofort, als er Sarins Anwesenheit gewahr wurde. Beide Dunkelelfen räusperten sich sofort und Iryan senkte fast verlegen den Blick, während er sich wieder nach vorn drehte. Dhansair hingegen gab seine widerspenstige Haltung auf, um sich von seinem Platz zu erheben. Er reichte Sarin in einer eleganten Verbeugung nicht nur zum Gruß die Hand, sondern auch, um ihr in die Kutsche zu helfen. Seine Mimik hatte sich komplett gewandelte. Er lächelte Sarin höfisch entgegen, verneigte sich erneut vor ihr und wies sie anschließend an, sich zu setzen.
"Fräulein Kasani", begrüßte er sie nun endlich. Seine Stimme war ruhig. Er musste eine enorme Selbstbeherrschung besitzen, wenn er sich seiner Rolle im großen Ränkespiel des Adels bewusst war. Iryan hingegen musste noch üben, denn Sarin konnte ihn mit Erleichterung aufseufzen hören. Dann knallten die Zügel leicht und die Furcht einflößenden Bestien setzten sich vollkommen artig in Bewegung.
"Ja ... ja, bitte, bring uns hier fort, Iryan! Fahre uns irgendwohin, hörst du? Je weniger Augen, desto besser."
"Gewiss, mein Herr!", entgegnete Iryan auf Celcianisch, um Sarin an dem Gespräch teilhaben zu lassen, obgleich er sich nicht nach hinten umdrehte. Er lenkte die Kutsche lediglich unter sachtem Holpern in einem Bogen zum Tor des Anwesens. Aus vielen Fenstern des Gebäudes konnte man die bleichen Gesichter der Nachtelfen erkennen. Und man hörte einige weibliche Stimmen entzückt quietschen, als Dhansair endlich zu einer einzelnen Rose griff, um sie Sarin zu reichen. Ihre Blüten waren rot, nicht schwarz. Lariels Ausgaben in der Nacht vor der Dunkelschenke waren größer gewesen. Doch Halt! Nur auf den ersten Blick sah es nach einer roten Rose aus. Tatsächlich war auch dieses Pflänzchen mit schwarzen Blüten bestückt. Jemand hatte den kompletten Blütenkelch jedoch in etwas Rotes getaucht. Farbe? Blut?
Zumindest Dhansair ging nicht darauf ein. Er überreichte die Rose und nahm dann ganz anständig Haltung an, während die Kutsche einige Straßen passierte. Geraume Zeit lang sprach niemand. Dhansair winkte nur gelegentlich, wenn Frauentrauben sich am Wegesrand sammelten, um ihn mit viel Kichern und Lächeln anzuhimmeln. Irgendwann entdeckte Iryan aber einen Pfad, der zwischen viele Felsenstatuen führte.
Im Reich der Nachtelfen große Gärten anzulegen, gestaltete sich schwierig, weil nicht genug Sonnenlicht - genauer gesagt: keines - zu ihnen herab drang, als dass Bäume und Sträucher sich eines langen, gesunden Lebens hätten erfreuen können. Vereinzelt kümmerten sich Naturmagier der Nachtelfen darum, ein paar von ihnen am Leben zu erhalten, aber Naturmagier waren selten und somit auch der Pflanzenbewuchs hier unten. Pilze bildeten die Ausnahme und so zogen die Nachtelfen es vor, große und sehr schöne Pilzgärten als Parks anzulegen. Bildhauer ließen zwischen den verschiedenen Pilzarten große Steinstatuen aufstellen, um dem Park mehr Klasse zu geben und durch eben solch einen Pilzgarten lenkte Iryan nun die Kutsche.
Im Schutz der schirmartigen Hüte, unter denen so manche Lamellen wieder in mattem Blau leuchteten, kehrte die vorherige Haltung des Erbprinzen zurück. Genervt schlug er die Beine übereinander und verschränkte erneut die Arme. Iryan hielt die Kutsche an.
"Dhansair ... mein Herr", korrigierte er sich mit einem flüchtigen Blick gen Sarin. "Ich bitte Euch. Das Fräulein Kasani hat es sich ebenso wenig ausgesucht. Lasst Euren Unmut nicht an ihr aus."
"Hrm!", entgegnete Dhansair. Heute besaß er kein bisschen den Zauber des Tanzabends.
"Ich bitte Euch erneut: Zeigt etwas mehr Empathie für das Schicksal anderer. Zumal sie Euer Schicksal teilen wird."
Dies schien Dhansair endlich zu überzeugen. Seine Haltung lockerte sich etwas und zum ersten Mal schaute er erst Iryan und dann Sarin richtig an. "Es ist wahr. Wir teilen ein Schicksal und es ist besiegelt. Unsere Leben sind dahin."
"Er neigt zu melodramatischen Reaktionen, wenn er einen schlechten Tag hat. Bitte, seht es ihm nach." Iryan konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er schien seinen Erbprinzen gut zu kennen und wusste wohl, auch mit dessen schlechteren Launen umzugehen.