Es war kaum zu glauben, dass man nach Ereignissen wie Sarin sie mitgemacht hatte, einfach so für einige Zeit aus der Welt verschwinden und Frieden in tiefem Schlaf finden konnte. Doch Manthala war großzügig, wenn der Handel stimmte. Ihre Gläubige hatte in den erschreckensten Stunden und voller Angst bei ihr um Gnade und Gehör gebeten. Manchmal reichte das aus, um eine der beiden Handelswaagschalen zu füllen: tiefer Glaube. Die Herrin der Träume sandte Sarin ihre wohlverdiente Ruhe, wenngleich sie als Gottheit nicht darauf achtete, dass ein Sturz von einem Karren auf gefrorenen Boden durchaus Spuren hinterlassen konnte. Als die Nachtelfe erwachte, waren diese aber bereits nahezu verheilt, so dass sie keinen Gedanken mehr daran verschwenden müsste. Dennoch war es seltsam für sie, die Augen aufzuschlagen und sich in einem ihr vollkommen fremden Zimmer und zudem in einem Bett vorzufinden. Die friedliche Stimmung des Raumes, das von sanftem Schnarchen durchzogene Schlafkonzert der Männer und Ethels freundliches Gesicht passten nicht zu ihrer Erinnerung. Sie war erschöpft gewesen und schwer getroffen von den Nachwehen, die eine Belagerung und der letzte Racheakt eines Dämons mit sich brachten. Das blaue Licht zu sehen, das Castus ihr hinterlassen hatte, fühlte sich allerdings an, als blickte sie der lichtgewordenen Hoffnung entgegen. Lieblich schwebte das Castus-Leuchten über dem Bett auf und ab, tanzte einen stummen Reigen mit dem Feuerschein und schien sich zugleich doch aufrichtig zu freuen, dass Sarin erwacht war.
Kurz flammten Erinnerung an einen der seltsamsten Träume ihres Lebens auf, bei dem sie das Licht als Schutzschild zwischen sich und eindringende Männlichkeit in ihren Schoß hatte einsetzen wollen. Im Wachzustand musste selbst ihr auffallen wie ... seltsam das war und zugleich irgendwie lächerlich. Das kleine Licht verkörperte doch die Liebe, die sie mit Castus geteilt hatte, oder nicht? Es wie einen Schutz gegen Empfängnis einzusetzen, nachdem es als letzte Erinnerung an ihren geliebten Halbdämon zurückgeblieben war, wäre ein mehr als unglückliches Schicksal. Zumal sie noch immer selbst nicht wusste, was es eigentlich war. Konnte es empfinden? War es ein eigenständiges Wesen oder nur eine Spur von Magie, die Castus im Tod verlassen hatte? Nein, nicht im Tod. Dann hätte sie einen Körper zum Beerdigen gehabt. Sie besaß nur noch das sanfte Blau, dessen Nähe ihr Glück und Frieden schenkte. Auch jetzt kam es dicht an Sarin herangeschwebt, umkreiste sie wie ein Glühwürmchen, ehe es dicht neben ihrem Kopf schwebte. Sie spürte eine Wärme, die jener von Körpern ähnlich war und doch mehr ihre Seele als alles Physische zu berühren vermochte. Und sie weckte eine Spur von Sehnsucht, dass es schwer wurde, sich auf Ethel zu konzentrieren.
Die Alte hockte neben dem Bett auf einem Schemel. Sie reichte Sarin Tee, der auch kalt immer noch gut schmeckte. Vor allem spülte er das ausgedörrte Gefühl in ihrem Hals hinweg. Allerdings regte er auch sofort andere Körperfunktionen an, so dass mit Ethel kein wirkliches Gespräch zustande kam, bis Sarin sich nicht erleichtert hatte. Die Alte wies zwar mit einem Finger auf einen Nachttopf, der im Schränkchen neben dem Bett stand, aber sah schnell ein, dass Sarin es hier nicht vor versammelter Mannschaft laufen lassen konnte. Selbst dann nicht, wenn die Männer alle noch schliefen.
So schickte Ethel die Elfe aus der Tür heraus und eine schmale Stiege herunter. Sie kam an zwei weiteren Türen vorbei, von denen eine offen stand und einen Blick in eine von Kaminfeuer erleuchtete Wohnstube gewährte. Sarin konnte nur ein flüchtiges Bild eines gemütlichen Wohnzimmers mit altem Sofa, jeder Menge Strickzeug und einem Ohrensessel erhaschen, dann trieb es sie den gewiesenen Pfad bis vor die Haustür. Der Abort befand sich als kleines Klohäuschen separat hinter dem Haus. So bekam die junge Elfe wenigstens mit, dass es Nacht war. Castus' Licht begleitete sie wie eine Laterne. Ein Blick zum Mond verriet ihr ebenso, dass sie noch viele Stunden Zeit hätte, ehe sie sich um Tageslicht würde Gedanken machen müssen.
Barfuß huschte sie zum Ort der Erleichterung. Wenigstens hatte sie nicht nackt gehen müssen. Jemand hatte Sarin in ein etwas zu großes Nachthemd gepackt, das sie an mindestens einer Schulter festhalten musste, damit es ihr nicht vom Körper rutschte. Ethel hätte gut hineingepasst und dem Schnitt nach zu urteilen, musste es auch ihr gehören. Es war alt und geblümt, duftete aber halbwegs frisch. Ein Kleidungsstück, das mit Sorgfalt gehegt wurde, so wie Ethels Patienten.
Nachdem Sarins Blase Frieden gefunden hatte und sie in den ersten Stock des im Dunkeln liegenden Häuschens zurückgekehrt war, erwartete die Alte sie mit einem Wärmekissen, das sie sofort ins Bett schob. "Schnell, leg dich dazu, solang es noch heiß ist. Du musst Eisfüße haben. Ich hätte dir ja meine Puschen zur Verfügung gestellt, aber der gute Ork Xot nutzt sie als Kopfkissen." Ethel gluckste, als sie einen Blick auf den Schlafenden am Boden warf. Anschließend konnten sie und Sarin sich endlich einem Gespräch und der Beantwortung vieler Fragen widmen.
Zunächst einmal musste Sarin einige Informationen der Alten verarbeiten, darunter auch, dass man weder Neriélle noch Arunn bisher hatte ausfindig machen können. Ein wenig Hoffnung blieb, wenn man es aus der Perspektive sah, dass auch ihre Leichen nicht gefunden worden waren. Trotzdem bedauerte es die Nachtelfe, ihre jüngsten Verbündeten nicht mehr angetroffen zu haben. So viele hatte sie verloren und jetzt noch die neuen, potenziellen Freunde - selbst wenn sie mit Arunn kurz aneinandergeraten war. Kaum jemand oder etwas war ihr geblieben. Vielleicht hatte Casuts ihr deshalb das Licht hinterlassen. Es vertrieb die Einsamkeit, aber es weckte auch Neugier. Selbst Ethel fragte danach.
"Das ist ... der letzte Funken unserer Liebe ... der von Castus. Das ist es, was von ihm übrig geblieben ist."
"Oh. Dann hat er es nicht geschafft. Wie schade. Er war unglaublich freundlich."
Das Castus-Licht nahm eine hauchzarte, rosige Färbung an, ehe es einmal um Sarin herum waberte und in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Ethel lächelte dem Licht nach.
"Was ist denn in der Zwischenzeit passiert? Ich hoffe, ihr wart hier weit genug weg, als diese ... Welle alles niederwalzte. Wie geht es den Mädchen? Gibt es viele Verletzte? Und wie ist die Stimmung?"
Sarin gewann mit ihren Fragen schnell Ethels Aufmerksamkeit zurück. Die Alte wedelte beschwichtigen mit den Händen. Dann schob sie Sarin zurück unter die Decke und quetschte diese fest wie bei einem Kind, das zu Bett gebracht wird. Als sie den Stoff mit flacher Hand glatt strich, blieb ihr Blick darauf haften. Sie erzählte: "Von dieser seltsamen Druckwelle habe ich nur gehört, aber einige am Rand des Dorfes behaupten, sie auch gespürt zu haben. Mach dir keine Sorgen um uns. Hier lief alles sehr gut und Cinni hat überragend auf die Mädchen geachtet. Er ist ein zuvorkommender junger Mann ... wenn auch etwas ... äh ... speziell. Verletzte haben wir natürlich und sie häufen sich. Das Armeelager wurde zerstört, wie man sagt. Viele Dunkelelfen und Menschensoldaten kamen hierher, aber noch mehr trieb es an die Tore von Zyranus." Ethel lächelte beruhigend. "Xot ist mit ihnen gegangen und hat vermutlich weitere Tode verhindert. Ein Wunder ist geschehen, während du schliefst, meine Liebe. Zyranus hat die Tore zur Stadt geöffnet. Bislang kam man nur hinein, wenn man das Passwort kannte. Nun gewähren sie jedem Zutritt, der sich von den Abgesandten magisch analysieren lässt. Wer der Stadt nicht schaden will, ist Willkommen. Ist das nicht wundervoll? Aus einem schrecklichen Krieg entspringt etwas Gutes für die Zukunft. Mich hat es schon immer gestört, dass die Zyraner die Welt aussperren. Endlich ändert sich etwas ... und das ... nun ja ... wir verdanken es Glückskindern wie dir, Mutigen wie deinem Wächter, Cinni und Xot und den Opferbereiten wie deinem Castus. Es ist schrecklich, was geschehen ist, aber ich bin froh um das, was nun daraus entsteht."
Es klang zu schön, um wahr zu sein und vielleicht war es das auch. Für Zyranus, für die dunklen Völker, für Celcia mochte es im Allgemeinen nach dem Schrecken endlich ein Schritt nach vorn sein, aber einzelne Schicksale gingen angesichts dieser großen, historischen Momente gern einmal unter. Vor allem, wenn man ihnen nicht bedachte. Sarin vergaß nicht.
"Mall..." Castus' Licht neben ihr wurde dunkler, als würde es bedauern. Es schob sich dichter an sie heran, kroch an ihre Halsbeuge und obwohl sie nicht nass wurde, fühlte es sich an, als weinte jemand gegen ihre Haut. Nicht nur Trauer erfüllte die Seele der Nachtelfe, auch Sorge um Mallahall. Zwei Tage und zwei Nächte waren seit Asmodeus' Ende verstrichen. Die Lichtmagierin musste mitbekommen haben, wie Dutzende Soldaten in Zyranus Schutz suchten und niemand war zu ihr gegangen, um ihr von Castus zu berichten.
"War vielleicht eine Frau mit blonden Haaren hier und hat sich nach Castus erkundigt? Eine Frau mit Namen Mallahall?"
Wieder hob und senkte Ethel ihre faltigen Hände in beschwichtigender Geste. "Ich fürchte, Mallahall war nicht in der Lage, zu erscheinen. Deine Freunde haben sie erwähnt und ... Ian? ... Er wollte nach Zyranus gehen, um mit ihr zu sprechen. Xot hielt ihn allerdings auf und erinnerte ihn an sein Herzleiden, ehe ich es tun konnte. Dann besann er sich und wir schickten Cinni hin. Er meinte, er habe nicht mit Mallahall sprechen können, da sie unansprechbar wäre. Sie kuriere sich von einem Schwächeanfall aus, teilte man ihm mit. Sie und ihre Mutter erlitten nahezu gleichzeitig einen, ist das zu glauben? Ich habe angeboten, sie beide zu untersuchen, aber Cinni meinte, sei seien versorgt und er wollte es in einigen Tagen noch einmal versuchen."
Die Alte griff nach vorn, um Sarins Hand zu tätscheln. "Wenn du dich bis dahin munter genug fühlst, spricht nichts dagegen, dass du ihn begleitet. Aber bitte, Liebchen, lass dir Zeit. Auch du musst erst einmal wieder zu Kräften kommen." Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu den beiden Sesseln und dem Haufen aus Muskeln, der auf dem Fell schlief. "Ihr alle. Ihr habt viel mitgemacht", sagte die Frau mit den alten Knochen.
Sarin aber erregte ein anderer Umstand. Ian schlief im Sessel. Er wirkte friedlich, aber wie sehr hatte er gelitten. Dhansair war ihm geradezu entrissen worden, dass er dessen Verlust nicht wirklich hatte verarbeiten können. Dann hatte er mit körperlichen Leiden zu kämpfen, weil die magische Stadt ihm zu schaffen machte. Schließlich hatte auch er, so wie Sarin, Castus verloren. Castus, der einen Teil seiner Seele an den Leibwächter geschenkt hatte, um ihm das Leben zu retten. Wie ihre Verbindung sich wohl anfühlte und was es für Ian bedeutete, dass der Halbdämon nicht mehr da war?
Jede Erkenntnis führte Sarin einen Schritt näher an den Dunkelelfen heran. Ethel hielt sie nicht auf. Erst als sie bei ihm am Sessel ankam und auf seinem Schoß zusammensank, erhob sich auch die Alte. Zusammen mit ihr huschten Iryans Lider empor. Er war angespannt, sofort bereit, sich zu erheben und entspannte sich erst, als er Sarins weichen Körper an seiner Brust spüren konnte. Sofort kam er ihrer Geste entgegen, umschlang sie mit beiden Armen und zog sie dichter an sich. Er hielt sie fest und schweigend. Nur sein erleichtertes Ausatmen streichelte ihr Ohr.
Dann war Ethel da und warf beiden eine Decke über. Anschließend stupste sie Hyacinthus an. "Cinni, mein Lieber. Magst du mir helfen, Xot zu wecken? Sarin geht es gut, aber ich glaube, sie braucht nun etwas Zeit mit ihrem Herzenswächter. Komm schon, du darfst mir beim Stricken helfen."
Noch ehe Hyacinthus überhaupt mit dem Schnäuzerchen wackelte, streckte sich das Knäuel aus grünen Muskeln in die Länge und gähnte ausgiebig. Dann erhob sich Xot, wo Hyacinthus missmutig brummte und sich im Sessel drehte. Er Ork hob den Zyraner einfach heraus, um ihn wie einen Säugling mit Oberlippenbärtchen im Arm zu halten. Ethel nickte Xot dankbar zu. Dann wandte sie sich an Sarin und Iryan: "Falls ihr noch etwas braucht, lasst es mich wissen. Wir sind unten in meiner Wohnstube. Niemand wird euch beide jetzt stören ... und meine Wände sind dick. Wir hören nichts." Sie zwinkerte, ehe sie einen sich räuspernden Xot zur Tür heraus geleitete.
Iryan sagte noch immer kein Wort. Er schaute Ethel auch nicht hinterher, denn dann hätte er sich im Sessel aufrichten und Sarin von sich heben müssen. Er genoss ihre Nähe, ihre Wärme und das Wissen, dass es ihr gut ging. Eine Weile saß er nur so da, während das Feuer im Kamin ruhig knisterte.
Dann drehte er Sarin so auf seinem Schoß, dass sie einander ansehen konnten. Sein Blick, seine tiefen blauen Augen, sie leuchteten beinahe wie Castus' Licht. "Ich liebe dich, Sarin. Und ich will dich." Es bedurfte keiner Übersetzung ins Celcianische für die Nachtelfe, um seine Worte zu erahnen. Selbst Lerium konnte unsagbar schöne Nuancen besitzen. Es klang düster, aber auf eine geheimnisvolle Weise schön ... und verheißungsvoll. Hätte ihr Magen nicht eine Sekunde später so laut geknurrt wie Asmodeus kurz vor seinem Ende, wäre der Moment perfekt gewesen. Iryan aber schmunzelte und schob sie vorsichtig von sich herunter in den Stand. "Ich bringe dir etwas vom Abendessen."
Er berührte ihre Wange, streichelte sie. Dann verschwand er für kurze Zeit aus dem Zimmer. Castus' Licht schob sich in den Sessel, kuschelte sich in die Sitzmulde, die Iryan hinterlassen hatte wie eine bläulich schimmernde Katze. Was immer es war, es würde schlafen ... ruhen ... still vor sich hin existieren, da es Sarin nun in guten Händen wusste. Und es würde nicht stören, wenn Iryan zurückkehrte.
Das tat er, sogar recht schnell. Er brachte belegte Brote und hart gekochte Eier mit. Es kam eher einem Frühstück gleich, aber auf dem Land gab es nicht oft warme Mahlzeiten, wenn man nicht in einer Taverne speiste. Für Sarins ausgehungerten Magen würde es dennoch ein Festmahl sein. Iryan wartete still an ihrer Seite, bis sie gegessen hätte. Auch frischen Tee hatte er mitgebracht, dieses Mal schön heiß und mit dem Aroma betörender Früchte.
Iryan beobachtete sie, während sie ihr Mahl zu sich nahm. Er selbst aß nichts. Er wartete geduldig und als sie geendet hatte, räumte er alles still beiseite. Dann kniete er sich vor sie, griff nach ihren Händen und schaute zu ihr auf. "Ich liebe dich", wiederholte er. Dann noch einmal auf Lerium: "Ich liebe dich. Bitte, schlaf mit mir. Jetzt."