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von Erzähler » Montag 15. November 2021, 13:24
Nun waren sie fort. Die Verfolger hatten die Jagd beendet, denn sie hatten Beute gemacht. Dhansair war fort. Castus und Sarin blieben allein zurück. Ohne den Erbprinzen. Ohne den Leibwächter, denn er hatte sein Leben gegeben. Leider hatte es nichts genutzt. Dhansair würde das Schicksal antreten, das sein Vater für ihn bestimmt hatte. Er würde denen von Blutsdorn einen oder mehrere Nachfahren zeugen und dann abtreten, um die Erbfolge ebenfalls nach den Vorstellungen seines Vaters abzugeben. Er bereitete den Weg und das Schicksal eine Ungeborenen. Dann würde er sterben.
Der Gevatter Tod gab keinen Kommentar dazu ab. Obgleich er in letzter Zeit einen Sinn für Humor zu entwickeln schien, was sicherlich seinem Lehrling geschuldet war, der durch sein eigenes Schicksal strauchelte, so gab sich das zeitlose Wesen besondere Mühe, professionell zu wirken, wenn sein Schützling nicht anwesend war. Dann verfiel er in Äonen alte Muster zurück. Es war schwer, Gewohnheiten abzulegen.
Tod stand am Rand der Szenerie und betrachtete, was noch lebte. Er betrachtete, was gestorben war. Vor allem aber betrachtete er...
"Willst du meinen Namen erhalten?" Eine Stimme. Weiblich, sanft und lieblich. Sie konnte jeden noch so trostlosen Ort mit Leben anreichern und erfüllen. Tod wusste, wer da zu ihm sprach. Er brauchte den skelettierten Schädel nicht einmal drehen. Er wusste, dass sie zuhören würde. Sie hörte ihm immer zu. Das gefiel ihm.
"Nein", antwortete er mit der schlichten Tonlosigkeit der Ewigkeit.
"Ach nein? Dabei machst du meine Arbeit in letzter Zeit doch wunderbar!" Sie lachte. Tod schwieg. Die Frauenstimme fügte an: "Du musst zugeben, dass du in letzter Zeit mehr Seelen hast zurückkehren lassen als in den vorherigen Jahren."
"Ich folge keinem Schema."
"Du wirst weich."
"Nein." Wieder antwortete er schlicht, doch dieses Mal schwang eine Spur von Entschlossenheit in der von einem Verwesungsecho durchzogenen Hohlstimme seines Schädel. Tod wandte sich um. Er sah dem Leben direkt in das bezaubernde Antlitz, folgte dem Schimmer ihrer Haut hinunter zu der Laterne in ihren Händen. Das kleine Licht darin flackerte und tanzte. Eine Motte schwirrte immer wieder gegen das Glas. Sie war bereit gewesen zu gehen. Sie hatte sich für einen Freund und seine Pflicht ihm gegenüber geopfert.
"Ich diene dir", antwortete der Gevatter. Es brachte Leben zum Schmunzeln. Sie nickte sanft. "Und diese kleine Seele diente auch jemanden. Jemand, der bald sterben wird."
"Ja."
"Du klingst unzufrieden, mein Diener."
"Du weißt, warum."
Erneut schmunzelte das Leben. Tod gefiel dieser Anblick. "Du darfst nichts unternehmen, mein Freund", sagte sie, erinnerte ihn an seine Pflicht und war gespannt, wie er nun wohl reagieren würde. Der Gevatter bewahrte seine Schlichtheit: "Ich diene dir."
"Das heißt, du wirst wieder deine eigenen Regeln unter diesem Deckmantel schreiben?"
"Nein. Die schreibt ein anderer."
"Ja, ich weiß." Das Leben neigte sich an der Kutte reinster Vergänglichkeit vorbei. Sie erhaschte keinen besonders guten Blick auf die Szenerie, aber den blauen Haarkamm schnappte sie auf.
Die Arme in gemeinsamer Trauer umeinander geschlungen, aber auch um nicht zu frieren, knieten Castus und Sarin auf den verteilten Fellen. Iryans Leib lag reglos in ihrer Nähe. Das Blut aus der Schusswunde hatte inzwischen eine dunkle Lache am Boden gebildet. Das Gesicht des Dunkelelfen war blasser als sonst, die Züge glatt, der Blick aber starr. Leblos.
Sarin kostete es Überwindung, zu ihm hinzuschauen, aber sie musste es tun. Castus hatte davon gesprochen einen Teil von sich selbst an Iryan zu geben, damit dessen Lebensglut wieder entfacht würde. Ein Blick in diese leeren Augen ließ daran zweifeln. Sein letzter Lebensfunke war erloschen und kein Feuer könnte ihn mehr so entflammen wie einst. Gedanken wirbelten durch den kleinen Kopf der Nachtelfe. Hoffung und Furcht tanzten einen Reigen wie einst sie zusammen mit Dhansair. Wenn Iryan doch wieder lebendig werden könnte, wie würde er auf die Information reagieren, dass sein Herr und Freund sich selbst in die Hände des Vaters zurückbegeben hätte? Wie würde er überhaupt auf alles reagieren? Wäre Iryan er selbst oder lebte nur der Körper mit einer Spur von Castus' Seele?
Der Halbdämon bot es an. Es wäre ein erneutes Opfer, dieses Mal durch ihn dargebracht. Nur er allein wüsste, wann und wobei ihm dann die seelische Kraft fehlen könnte. Wenn er seinem Vater gegenübertrat, um Zyranus zu retten? War es moralisch verwerflich, dieses Risiko aufzunehmen, damit Iryan leben könnte? Vorausgesetzt, dass er es auch wäre. Es gab so viele Faktoren, die in jeglicher Art und Weise schiefgehen könnten und Castus wusste selbst auch nicht, ob seine Idee Früchte tragen würde. Das Einzige, was seine und Sarins Unsicherheit verband und somit auch über jeglichem Zweifel, jedem Gedanken an Risiko, stand, war Hoffnung. Sie hofften, dass es gut ginge. Sie hofften, Iryan zurückzubekommen und dann vielleicht auch einen Weg für Dhansair zu finden. Man hoffte immer.
Sarin hätte ihrem blauhaarigen Liebsten gern diese Hoffnung gespendet, indem sie seine Unsicherheiten beiseite schob, aber sie selbst war sich nicht im Klaren, welche Entscheidung die richtige wäre. Ihr Kopf verwandelte sich nach all den Schrecken wieder in einen Wirbel aus wilden Gedanken, so dass sie letztendlich nicht mehr handelte. Oft genug hatte sie es in ihrem Leben getan. Es brauchte nur eine kleine Unsicherheit, um ihren Mut zu verdrängen und sie an einen Platz der Zurückhaltung zu befördern. Sie hatte gelernt, zu beobachten und sich aus Situationen herauszuhalten. So verschlimmerte sie jene nicht weiter. Andererseits ... hätte sie sich damals zurückgehalten und wäre nicht zum Ball gegangen. Hätte sie nicht ihr Kleid getragen, sich nicht von Dhansair auffordern lassen. Hätte sie nicht mit ihm getanzt ... Ja, es waren schreckliche Dinge geschehen. Sie hingen jetzt noch wie ein schwarzer Schatten über ihrem Gemüt. Sie belasteten sie mit Trauer und dem Gefühl von Verlust, kaschiert mit der Akzeptanz, dass jeder seine Entscheidung getroffen hatte, so endgültig sie auch war. Aber sie hatte auch so viel Schönes erlebt. Liebe. Mit drei Männern, die aufrichtig zu ihr waren.
Sarin hätte sich gern entschieden. Sie hätte Castus gern die Entscheidung abgenommen, aber sie ebenso wenig ihre Unsicherheit abschütteln wie er.
"Cas ... warum würdest du das tun wollen? Ich hoffe, du willst das nicht nur tun, weil mein Herz sich danach sehnt." Sie begann zu stammeln, während die Tränen an ihren Wangen entlang wanderten. Beides ließ sich nicht verhindern, ebenso wenig wie das Zittern ihres Körpers. Die Kälte drang nun mehr und mehr in die Höhle ein. Da half auch gegenseitiges Umarmen nichts. Für den Bruchteil einer Sekunde meldete sich der Wunsch, Castus möge ihr diese Lebensglut einhauchen, damit sie sich daran wärmen könnte.
"Cas ... bitte küss mich und schau in meine Seele. Vielleicht hilft es dir, eine Antwort zu finden. Ich selbst ... finde keine."
Er folgte ihrem Wunsch, nicht nur für sie, sondern auch für sich selbst. Warum wollte er es tun? Warum wollte er diesen beinahe fremden Dunkelelfen mit einem Teil seiner Selbst wiedererwecken? Warum wollte er den Versuch wagen und somit etwas von sich opfern? Für sie? Für Sarin?
Castus strich an ihrer Wange entlang und aus Respekt vor der Trauer, die sie beide für den Verlust empfanden, zerstörte er die Tränenbahnen dabei nicht. Er neigte sich ihr mit leicht schief gelegtem Gesicht entgegen. Noch ehe seine Lippen die ihren berührten, glommen die blauen Spitzen seines Haares. Dann entfachte sich dieser zauberhafte Schimmer über den gesamten Kamm, wanderte als züngelnde Flammen bis zu Castus' Mund und ging auf Sarin über. Nichts verbrannte, aber sie spürte die Wärme wenig später. Castus sah in ihre Seele. Er suchte die Antwort und hinterließ dort seine Spuren wie schon beim ersten Mal.
Er merkte gar nicht, dass er bei jedem Kuss einen Teil von sich an andere gab. Er streichelte Sarins Herz und ihre Seele. Er schenkte ihr Zuversicht und nahm alle Sorgen. Seine Flammen brannten sie nieder, hinterließen trostlose Erde auf ihrem Herzen und schenkten zugleich Wärme und Licht, damit ihre eigene Seele als kleiner Spross emporkriechen und sich neut entfalten konnte. Castus opferte mit jedem Kuss einen Teil von sich. Er schenkte Seelenheil. Es besaß ähnliche Eigenschaften wie Glück: Es vermehrte sich, wenn man es teilte. Er wurde ruhig.
Ohne die Lippen von Sarin zu lösen, ließ der sanfte Druck des Kusses nach. Sein Mund ruhte noch an ihrem, als wollte er die Verbindung nicht abbrechen. In Sarins Herz glomm Wärme. Kein Schneesturm könnte diese ersticken. Sie würde nicht erfrieren, solang sie Castus' Seelenfeuer im Herzen spürte.
"Warum ich es tun werde?" Er hatte sich bereits entschieden. "Weil alles andere nicht richtig wäre. Es brachte Leid. Ich leide ... weil ich eure Seelen leiden sehe. Ich kann so nicht atmen. Wie soll ich so tun, was ich tun muss?" Er lachte auf. Sein warmer Atem traf Sarins Gesicht. "Ich bin egoistisch", gestand er. Dann löste sich Castus von ihr und stand auf. "Tantchen wird das nicht gefallen", murmelte er vor sich her, während er Kleidungsstücke vom Boden aufhob. Er schlüpfte auch endgültig in seine Hose hinein. Dann reichte er Sarin, was sie zuvor getragen hatte. "Ich tue es für mich. Es zerreißt mich sonst. Ich ertrage es nicht." Seine Stimme klang rau und voller Reue. "Lysanthor wird es nicht gutheißen", raunte er. Dann berührte er die Tätowierung an seinem Kopf. Das Zeichen des Lichtgottes. Er wischte darüber, als könnte er es lösen, doch es blieb sichtbar.
Castus kniete sich vor Iryan. Er drehte ihn auf den Rücken und zog endlich den Armbrustbolzen unter seinen Rippen hervor. Blut lief keines mehr. Mit einem Wink deutete er Sarin an, sich zu ihm zu setzen und den Kopf des Toten auf ihren Schenkeln zu betten. Natürlich, nachdem sie sich bekleidet hätte. Dabei hielt er unentwegt das Zwiegespräch mit seinem Gewissen ... oder seiner Seele. "Die Erwartungen an mich sind hoch und ich werde sie erfüllen. Ich habe mich nur einmal auf meine Wünsche bezogen." Sein Blick blitzte hoch und erfasste Sarin. In seinen Augen strahlte Liebe auf. Dann fokussierte er sich darauf, Iryans Brust seine Hände aufzulegen. "Ich will es ein zweites Mal tun. Eigennützig sein. Egoistisch sein. Leben..."
Eine einzelne Flamme entsprang seinem Haarkamm. Sie loderte blau auf, wanderte a Castus entlang und seinen Arm herunter, bis sie als tanzender, blauer Glutball in seiner Hand lag. "Hiermit stelle ich mich gegen Lysanthors Gesetze als der halbe Dämon, der ich bin. Hiermit erlaube ich mir, diesen Teil meiner Selbst zu akzeptieren und damit das Chaos, das in meiner Seele ruht. Ich schaffe Ordnung durch Chaos." Er sprach es wie ein Mantra, ehe Castus den kleinen Glutball in die Wunde drückte, die zu Iryans Ableben geführt hatte.
Es zischte. Rauch züngelte blaugrau empor. Die Wundränder schlugen Blasen, welche unter weiterem Zischen und Rauchen aufplatzten. Dann verkrustete jene Stelle, wurde erst braun, schließlich schwarz. Der Schorf bröselte ab und hinterließ eine keilförmige, hellrosa leuchtende Stelle junger Haut. Castus behielt die Finger auf Iryans Leib.
"Komm schon...", murmelte er. "Atme... lebe ..." Er presste seine Fingernägel in das Fleisch des Leichnams, biss die Zähne aufeinander. Sarin spürte jedoch als erste die Wärme, die von dem toten Körper ausging. Warm und nicht mehr so schwer lag der Kopf auf ihrem Schoß. Etwas veränderte sich. Plötzlich zuckten von Iryans gesamten Leib blaue Flammen hoch. Sie verbrannte nicht und vergingen dafür auch viel zu schnell, selbst wenn sie Verletzungen hätten hervorrufen können. Vielmehr fuhren sie durch ihn hindurch wie ein gewaltiges Zucken. Der Körper stemmte sich einmal dagegen und fiel anschließend schlaff in sich zusammen. Doch nicht nur er, auch Castus kippte nun zur Seite. Er schrie, als hätte man heißes Öl über ihm ausgegossen. Er hielt sich die rechte Seite des Kopfes. Er presste seine Hände auf Lysanthors Siegel und zuckte wie unter einem Anfall. All seine Muskeln verkrampften. Er rang um Atem, japste und ...
Unter vor Schreck geweiteten Augen japste auch Iryan. Er sog die Luft mit einer Schnappatmung in seine Lungen, die wieder zu arbeiten begannen, während das Herz mit neuer Kraft wild und rasend schlug, ehe sich der vertraute Rhythmus wieder einpendelte. Auch er schrie auf, bei ihm klang es jedoch eher wie das wilde Drohen eines Tieres, bis der Dunkelelf den Fokus auf Sarins Gesicht fand und erstarrte. Er betrachtete sie, zunächst voller Angst, dann beruhigte sich etwas in seinem Blick. Er sank zurück, atmete endlich gleichmäßig und bewegte dabei die Finger unstet über dem felsigen Grund.
Seine Lippen teilten sich, dass seine Zunge zum Vorschein kam. Er sprach, aber es ging unter Castus' Schmerzensschreien unter, der sich nach wie vor neben dem wiedergeborenen Elfen am Boden krümmte.
Vom Rand der Höhle beobachteten der Gevatter und Leben die Szenerie. Letztere strich am Glas ihrer Laterne entlang. Die Motte war verschwunden. Der Zeitlose senkte die Hand mit dem Stundenglas, in dem nun neuer Sand rieselte. "Welch ein Chaos", sagte er schlicht.
"Dämonen sind Chaos. Sie halten sich nicht an Gesetze", entgegnete das pure Leben und lächelte.
"Ja", erwiderte Tod. "Da haben wir noch einmal Glück gehabt."
"Warum? Weil du dich an Gesetze hältst, du Herr der Toten, der seine Arbeit in letzter Zeit viel zu nachlässig erledigt?" Sie verpasste ihm einen Rüffel. Tod reagierte nicht darauf. Er betrachtete weiterhin die Szenerie. Schließlich meinte er: "Ich werde alt. Ich genieße es viel zu sehr, vor meinem Spiegel zu sitzen und diesen aufgepufften Mais zu essen."
"Du entwickelst Geschmack, mein Freund."
"Du solltest ihn probieren. Nichts geht über Puffmais."
"Vielleicht werde ich das eines Tages. Bis dahin halte ich mich an meine Gesetze."
"Ja. Das ist gut."